Читать книгу Marienbrücke - Rolf Schneider - Страница 22
20
ОглавлениеDie Domäne Behncke befand sich im Besitz der freiherrlichen Familie Birstein, deren Angehörige immer ordentliche Agrarier gewesen waren und seltener Offiziere. Ein Carl Johann Freiherr von Birstein sollte eingangs des neunzehnten Jahrhunderts dem nach Russland durchreisenden Kaiser Napoleon seinerseits entgegengeritten sein, mit kleinem Gefolge, bis an die Grenze von Behncke, um dort den neureichen Herrscher der Franzosen zu begrüßen mit den selbstbewussten Worten: Alors, deux seigneurs se rencontrent. Diese Geschichte war berühmt und musste über lange Jahre hin sogar gelernt werden im Heimatkundeunterricht der Schulen von Grotenweddingen.
Das Gutshaus auf Behncke war ordentlich ausgestattet mit Biedermeiermöbeln aus lichtem Kirschholz, mit Teppichen aus Täbris und mit vielen handkolorierten Veduten von Behncke, Grotenweddingen, Halberstadt, Zilly, Wolfenbüttel, Suderwieck und Ströbeck. Der einzige lebende Erbe von Behncke im Jahr 1944 war das hagestolze Fräulein von Birstein, mit Vornamen Anna Katharina Amalie, die an einem Stock gehen musste und die für die Aufsicht über die landwirtschaftlichen Arbeiten auf Behncke seit vielen Jahren einen tüchtigen Verwalter beschäftigte.
Gutshaus Behncke war schon seit mehreren Jahren auch ein Treffpunkt, meistens an den Sonntagnachmittagen, für verschiedene Leute, die einander gut kannten und miteinander reden wollten. Es gehörte zu ihnen zum Beispiel Studiendirektor Dr. Frings, den seine Schüler Jupiter tonans nannten, nach der höchsten männlichen Gottheit in der römischen Antike. Studiendirektor Dr. Frings war Altphilologe, und er leitete noch immer das Fürst-Albrecht-Gymnasium in Grotenweddingen, obgleich er sich längst im Pensionsalter befand.
Manchmal erschien zu den Zusammenkünften auf Behncke Wehrschaftsführer Walter Henseler. Er vermisste in Grotenweddingen, wo er einer allgemeinen Logistik wegen 1938 seinen Betrieb hatte errichten müssen, die Kultur einer weinfrohen Geselligkeit, wie er sie aus seiner Heimat am Zusammenfluss von Rhein und Mosel seit seiner Kindheit kannte und deren er für seinen seelischen Ausgleich bedurfte. Walter Henseler kam nach Behncke allein oder in Begleitung seiner etwas groß geratenen Tochter Gudrun. Umgekehrt kam Gudrun Henseler nach Behncke ihrerseits manchmal allein. Schon weil sie sich für Pferde interessierte und also auch für die Pferde auf Behncke. Die waren allerdings durchweg Zug- und Ackergäule, jedenfalls Kaltblüter, und taugten deswegen zum Reiten überhaupt nichts.
Auf Behncke wohnte schon seit einigen Monaten Hartmuth-Dietlof von Oertzen, dessen Familie mit den Birsteins weitläufig verwandt war und der am Fürst-Albrecht-Gymnasium eben jene Klasse besuchte, der auch Jacob angehörte.
Hartmuth-Dietlof war ein blonder Junge mit großen und abstehenden Ohren. Wenn er sich unbehaglich fühlte, wurde sein Gesicht immer blasser, nur seine Ohren leuchteten dann besonders rot. Wenn er nach seinem Nachnamen befragt wurde, betonte er jedes Mal nachdrücklich die Adelssilbe von, als käme darauf alles an. Zu jedem Schultag fuhr er nach Grotenwedddingen mit dem Fahrrad und kehrte nach dem Ende des Unterrichts in der gleichen Weise zurück. Dass er von Jupiter tonans, der manchmal an den Sonntagnachmittagen zu Fräulein von Birstein nach Behncke fuhr, etwa bevorzugt worden wäre, ließ sich nicht gut behaupten. Der junge Hartmuth-Dietlof von Oertzen nahm an den Zusammenkünften auf Behncke außerdem gar nicht teil, da bei denen Jugendliche sowieso nicht zugelassen waren.
Was wurde denn nun gesagt und getan bei Amalie von Birstein im Gutshaus auf Behncke?
Es wurde erst einmal Tee getrunken. Dabei handelte es sich um echten Darjeeling, den Fräulein von Birstein immer zur Verfügung hatte, also immer noch erhielt, und wer wusste schon woher, aus den besetzten Niederlanden vielleicht oder von entfernten Verwandten aus Göteborg in Schweden. Auf einem Stutzflügel, der helles Holz hatte wie die übrigen Möbel und an dem angeblich schon Franz Liszt gesessen hatte, spielte Domorganist Wolff aus Halberstadt Verschiedenes von Franz Schubert. Jupiter tonans trug danach aus seiner Eindeutschung des Hesiod vor, an der er nun schon ein halbes Leben lang arbeitete. Fräulein von Birstein rezitierte vielleicht Detlef von Liliencron, Gustav Falke und Richard Dehmel, deren Verse sie mochte. Sie war als junges Mädchen Alumnin des Adelsinternats Heiligengrabe in der Prignitz gewesen, wohin auch andere preußische Familien ihre Töchter gerne schickten und das bekannt geworden war durch Bücher des preußischen Schriftstellers Fontane.
Amalie von Birstein fühlte preußisch, wiewohl Behncke fast schon Niedersachsen war und die familiären Beziehungen der Birsteins eher dorthin gingen als nach Brandenburg, Pommern oder Schlesien. Fräulein von Birstein fing bei ihren sonntäglichen Zusammenkünften irgendwann davon zu reden an, dass es jetzt dringende Zeit sei, endlich nachzudenken über ein zukünftiges Deutschland und dessen politische Gestaltung.
Ihre Bemerkungen stießen bei ihren Gästen durchweg auf Interesse. Fräulein von Birstein wünschte sich für ein künftiges Deutschland die Verfassung eines Ständestaats, also ohne die NSDAP, ohne politische Parteien überhaupt, und die Bevölkerung sollte sich vertreten wissen durch Entsandte ihrer jeweiligen sozialen Schichten, wie das nicht viel anders im alten Preußen gewesen war zur Zeit des Freiherrn vom Stein, mit denen die Birsteins ihrerseits entfernt verwandt gewesen waren. Oberstudiendirektor Dr. Frings machte dagegen Vorstellungen der Paulskirchenversammlung von 1848 geltend. Er war seit Studententagen vertraut mit den Ideen des Tübinger Stifts und des schwäbischen Liberalismus. Domorganist Wolff hielt lieber auf eine den moralischen Überzeugungen des Christentums verpflichtete Wahlmonarchie. Fräulein von Birstein wollte sich gegebenenfalls einlassen auf ein Dreiklassenwahlrecht für die zu kürenden Deputierten der Stände.
Es bestand jedenfalls Übereinstimmung, dass in der Reichsverfassung, die Fräulein von Birstein anregte und die Jupiter tonans in ersten Artikeln, über die allgemeine Einigkeit bestand, schon mal zu notieren begann, ein Führer Adolf Hitler nicht vorkommen durfte. Der war danach überflüssig und musste auf eine Art, über die noch höchst unklare Vorstellungen bestanden, vorher aus dem Wege geräumt werden, drastisch gesprochen und natürlich bloß bildlich gemeint oder vielleicht doch nicht nur bildlich?
Von alledem würde Hartmuth-Dietlof von Oertzen nichts wissen, wenn er allmorgendlich von Behncke aufbrach, um nach Grotenweddingen zu radeln. Er nahm dort während mancher Nachmittage auch teil am Dienst in Adolf Hitlers Deutschem Jungvolk, sofern der denn überhaupt noch stattfand. Hartmuth-Dietlof von Oertzen durfte dabei sogar den Wimpel tragen und führte ein aus weißem Winkel auf schwarzem Grund gebildetes Rangabzeichen am braunen Uniformärmel.
Sein Vater Hans-Ulrich von Oertzen wusste gleichfalls nichts vom Inhalt der Gespräche auf Behncke oder doch fast nichts. Er diente in Berlin als Major i. G. beim Wehrkreiskommando am Hohenzollerndamm und war persönlich bekannt mit Offizieren, die Yorck von Wartenburg, von der Schulenburg, Barnim von Ramin und Schwerin von Schwanenfeld hießen. Auch zwei Brüder Schenk von Stauffenberg, mit Vornamen Claus und Berthold, gehörten zu seinem Bekanntenkreis.
Der schwerbeschädigte Claus Schenk von Stauffenberg zündete im Führerhauptquartier zu Rastenburg, Ostpreußen, eine Höllenmaschine, um Adolf Hitler umzubringen. Die Sache misslang, ein geplanter Putsch schlug damit fehl. Die Anführer und Beteiligten wurden festgenommen, darunter der Major i. G. Hans-Ulrich von Oertzen. Am Abend des 20. Juli 1944 gegen 23 Uhr wurde er in seiner Dienststelle einem ersten Verhör unterzogen, in Schutzhaft genommen und zuvor um Auslieferung seiner Pistole ersucht. Am nächsten Morgen bei einem Gang zur Toilette gelang es ihm, einige belastende Schriftstücke beiseitezuschaffen, zu verbrennen und die Asche in der Toilettenschüssel fortzuspülen. Auf dem Rückweg hatte er Gelegenheit, zwei Gewehrsprenggranaten zu entwenden und zu verstecken, in den Löschsandtüten, die auf den Korridoren des Wehrkreiskommandos standen. Gegen zehn Uhr fragte er seinen Bewacher, ob er nochmals die Toilette aufsuchen dürfe. Die Erlaubnis wurde erteilt. Auf dem Rückweg griff er sich eine der Gewehrgranaten aus dem Löschsand und zog sie sofort ab. Blutend brach er zusammen. Man hielt ihn für tot, doch war er bloß schwer verletzt. Unbemerkt schleppte er sich zu der anderen Löschsandtüte, nahm dort die zweite Sprenggranate heraus, tat sie sich in den Mund und zog ab, dass ihm der Kopf völlig zerfetzt wurde. Die umstehenden Offiziere konnten gerade noch in Deckung gehen.
Dass der deutsche Führer Adolf Hitler das auf ihn verübte Attentat wie durch ein Wunder überlebt hätte, wusste in seiner Schlagzeile das Grotenweddinger Intelligenzblatt. Später fuhr ein Sonderkommando der Geheimen Staatspolizei auf der Domäne Behncke vor, durchsuchte das Gutshaus, beschlagnahmte etliche handschriftliche Papiere und erklärte das Fräulein von Birstein für verhaftet. In aufrechter Haltung, ihren Stock mit Elfenbeinkrücke wie zur Drohung erhoben, bestieg Amalie von Birstein das wartende Automobil und wurde in die Kellerräume des Gestapoquartiers nahe dem Grotenweddinger Güterbahnhof verbracht. Tags darauf verhaftete man Jupiter tonans und Domorganist Wolff aus Halberstadt.
Wehrwirtschaftsführer Henseler hatte mehrere Vernehmungen in seinem Privathaus und seinem Dienstbüro über sich ergehen zu lassen, wurde aber nicht festgenommen. Er war zu den Zusammenkünften auf Behncke nur selten gefahren, wegen seiner beruflichen Inanspruchnahme. Von Plänen zu einer Verschwörung und einem Attentat wusste er nichts.
Im Hof des Fürst-Albrecht-Gymnasiums von Grotenweddingen, dort, wo die Linde und der Stein mit der Wappen-Plakette standen, wo täglich die Schüler sich aufhielten in den Pausen, wo auch alljährlich die Abiturienten verabschiedet wurden nach bestandener Prüfung, hatten eines Vormittags im Juli sämtliche Schüler sich militärisch aufzustellen und dabei ihr braunes Hitlerjugendhemd zu tragen.
Das Kommando führte Sekundaner Jürgen Rohwedder, der unlängst zum Jungschaftsführer befördert worden war und jetzt eine dickere Flechtkordel vor der Brusttasche trug.
Auf seinen Befehl hin musste vor die Front treten der Schüler Hartmuth-Dietlof von Oertzen. Jungschaftsführer Rohwedder verlas von einem Papier und mit schneidender Stimme, das Verbrechen gegen Führer, Volk und Vaterland, an dem die Familie des Oertzen beteiligt gewesen sei, bedeute eine Schande für das Jungvolk und die Hitlerjugend von Grotenweddingen und für das Fürst-Albrecht-Gymnasium. Haftend für die Sippe, der er entstamme, sei der Oertzen entsprechend zu behandeln. Daraufhin steckte Jungschaftsführer Rohwedder erst das Papier fort, riss danach dem Schüler Oertzen Rangzeichen und Schulterklappen vom Braunhemd und erklärte ihn für in Unehren verstoßen.
Hartmuth-Dietloff von Oertzen ging einsam über den Schulhof zur Mauer, wo die Fahrräder standen, darunter das seine. Er war im Gesicht gänzlich bleich. Nur seine großen Ohren leuchteten rot. Er würde das Fürst-Albrecht-Gymnasium nie mehr betreten.