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Das beherrschende Thema in den Radionachrichten blieben die Soldatenjahre des amtierenden österreichischen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim. Soeben hatte eine internationale Historikerkommission, berufen, die Handlungsweise des Staatsoberhauptes zu untersuchen, einen abschließenden Bericht übergeben. Man wisse von keinem Fall, in welchem Waldheim gegen die Anordnung eines von ihm zweifellos erkannten Unrechts Einspruch erhoben oder etwelche Gegenmaßnahmen getroffen hätte. Er sei im Gegenteil wiederholt an rechtswidrigen Vorgängen beteiligt gewesen und habe deren Vollzug erleichtert.

Auf dem Stephansplatz, direkt vor dem romanischen Hauptportal der gotischen Kathedrale, begab sich an einem trüben Sonntagnachmittag eine Versammlung aus Anlass der Vergangenheit und Gegenwart von Dr. Kurt Waldheim.

Zwei bekannte österreichische Künstler, ein Bildhauer und ein Schriftsteller, hatten ein hölzernes Pferd aufgestellt, mit dem sie das österreichische Staatsoberhaupt verhöhnten. Die Tiernachbildung sollte nicht so sehr auf das odysseische Werk vor Troja anspielen als vielmehr auf den Umstand, dass Kurt Waldheim seine frühere Zugehörigkeit zur Reiter-SA erst verschwiegen und dann mit einer etwas sonderbaren Erklärung versehen hatte, was einen anderen Politiker zu der Bemerkung veranlasste: Also, ich begreif so viel, nicht der Herr Doktor Waldheim war in der SA, sondern bloß sein Pferd.

Der Politiker, der diesen Ausspruch tat, hieß Fred Sinowatz, bis vor kurzem österreichischer Bundeskanzler. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, er habe dem Jüdischen Weltkongress in New York und dessen Vorsitzendem Bronfman das Material gegen Kurt Waldheim zukommen lassen, um dadurch den Sieg des Präsidentschaftskandidaten seiner eigenen Partei, der sozialistischen, zu ermöglichen. Durch die Äußerungen von Bronfman hatte die internationale Diskussion um Kurt Waldheim überhaupt erst eingesetzt.

Kersting erschien spät. Die Veranstaltung, angekündigt durch Handzettel, hatte um zwei Uhr nachmittags anfangen sollen. Als Kersting eintraf, war der Platz gänzlich überfüllt. Kersting hörte die Rede einer männlichen Stimme durchs Megafon. Er konnte den Sprecher nicht erkennen. Der Sprecher sagte, Kurt Waldheim möge um der Republik willen zurücktreten von seinem Amt, da es nicht angehe, einen höchsten Staatsrepräsentanten zu haben, der erweislich nicht die Wahrheit sage.

Die Worte erzeugten bei den Zuhörern Äußerungen von Unmut und Beifall. Anhänger wie Gegner des Bundespräsidenten schienen unter den Versammelten zu fast gleichen Teilen vertreten. Während durchs Megafon weiter die Stimme zu hören war, bildeten sich kleine Gruppen, von denen das Gehörte und ohnehin Gewusste wieder und wieder beredet wurde. Kersting sah gerötete Gesichter, erhobene Hände, geballte Hände, geöffnete Münder, man redete, ohne dem Megafon zuzuhören, ohne einander zuzuhören, ohne es zu können. Die Sprechenden wechselten die Gruppen, nicht die Haltungen. Es entstand eine Orgie der diskursiven Besessenheit. Dazwischen bewegten sich Leute mit Fotoapparaten und Fernsehkameras. Kersting fand es alles sehr aufregend, auch da er sich nicht erinnern konnte, jemals so was erlebt zu haben.

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