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Das Palais Starhemberg, ein barocker Bau, befand sich am Minoritenplatz. Es beherbergte Amtsräume des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Jacob Kersting durfte den Eingang passieren, ohne auf eine kontrollierende Türwache zu treffen, das war eine für ihn ungewohnte Erfahrung. Dr. Alois Mühlbauer hatte sein Büro unter dem Dach. Der Raum zeigte abgeschrägte Mansardenwände. In zwei niedrigen, mit weinrotem Plüsch bezogenen Louis-Quatorze-Sesseln saßen Dr. Mühlbauer und Kersting einander gegenüber.

Dr. Mühlbauer hatte eine schräge Stirn und einen schwarzen Scheitel. Seine Schneidezähne standen auseinander. Wenn er die Lippen öffnete, erhielt sein Gesicht den Ausdruck von Lüsternheit. Aus einer Reklamepackung bot er Zigaretten an: Die Tabakindustrie, sagte er, sei in diesem Lande Staatsmonopol, die Bundesbediensteten würden deswegen degradiert zu kostenlosen Reklameträgern. Der Anteil der staatlichen Industrie in Österreich, sagte er, sei beim Vergleich mit anderen Staaten unverhältnismäßig hoch, Schlampereien der verstaatlichten Industrie hätten immer wieder zu förmlichen Regierungskrisen geführt, die jüngste, bei der Voest alpine, hätte Kersting bestimmt verfolgt. (Kersting hatte nicht.) Der Herr Bundeskanzler, sagte Dr. Mühlbauer, sei heimlich ein engagierter Anhänger der freien Wirtschaft, trotz seines sozialistischen Parteibuchs, leider müsse er Rücksicht nehmen auf die orthodoxe Basis in seiner Partei, die immer noch weitgehend im Austromarxismus verharre.

Bitte, er vertrete hier bloß seine private Meinung, sagte Dr. Mühlbauer und lächelte. Seine Sätze kamen flüssig. Sein Wiener Akzent war bloß schwach. Er wollte jetzt wissen, wie sich die DDR befinde. Er sagte Ostdeutschland. Er war nur einmal dort gewesen und da nur in Berlin, vor fast einem Vierteljahrhundert. Kersting begann mit einem ausweichenden Satz, um danach zu Einzelheiten zu gelangen, aber schon wieder redete Dr. Mühlbauer. Er schien an Ostdeutschland in Wahrheit nicht interessiert.

Er machte Kersting mit seiner Überzeugung bekannt, die Intellektuellen, er benutzte das slawische Wort Intelligenzija, seien die herrschende Klasse der Zukunft und die einzige gesellschaftliche Schicht mit realen Wachstumschancen. Das Aktiv-Kapital Geist mache noch Kleinstaaten wie selbstverständlich zu Weltmächten, Beispiel sei die gegenwärtige Republik Österreich, deren wesentliches Exportgut nicht Edelstahl heiße, sondern Kultur. Hier erfuhr Kersting, Wien weise eine autochthone geistige Entwicklung auf infolge der alles beherrschenden Einflüsse von Katholizismus und Barock. Spiel, sagte Dr. Mühlbauer, Verstellung und Charme. Die Welt als Theater. Das Leben als Mummenschanz und Improvisation. Bester Ausdruck dessen sei jene Liebenswürdigkeit, die weder Zuneigung noch sexuelle Akzeptanz bedeute, sondern die Veräußerlichung all dessen in die Unverbindlichkeit.

Ein wenig sprunghaft erfolgte Dr. Mühlbauers Gedankenführung. Kersting erfuhr, wie man unter der heutigen österreichischen Kleinstaatlichkeit offenbar leide, hinter der Zweiten Republik erhob sich in schattenhafter Monumentalität die einstige Doppelmonarchie, von deren Erbe man immer noch zehre. Dr. Mühlbauer entwarf einen Kulturkreis, dessen etwas undeutliche Grenzen sowohl Przemyśl wie Mailand wie Tetschen-Bodenbach umschlossen und dessen alles verbindende Gemeinsamkeit das Kaffeehaus war. Dr. Mühlbauer bot abwechselnd die Wendungen Mitteleuropa und josefinisch an, letzteres in Ableitung vom Sohn der Maria Theresia, dem Reformkaiser mit dem Toleranzpatent, und ein kaltes Entsetzen griff nach Kersting, als er erkennen musste, dass Dr. Mühlbauer meinte, Kersting sei nach Wien gekommen, um über den 1801 geborenen Sänger, Schauspieler und Komödiendichter Johann Nepomuk Nestroy zu forschen.

Hoffmann, sagte Kersting vorsichtig, in eine der raren Pausen von Dr. Mühlbauers Rede hinein, der österreichische Architekt und Formgestalter Josef Hoffmann. Er sagte das nicht korrigierend, schon gar nicht strafend, er wollte Dr. Mühlbauer nicht kränken. Dr. Mühlbauer blickte ihn an. Wieder lächelte er kurz und beinahe schmerzlich, als habe Kersting gewagt, ihm einen Irrtum zu unterstellen. Dr. Mühlbauer war gänzlich unbegabt, sich zu irren. Wie zum Beweise machte er sofort längere Ausführungen über österreichische Kultur in der Ersten Republik, die, lange vernachlässigt, nun endlich ins Blickfeld geraten sei, spätestens seit der von Hans Hollein besorgten Ausstellung anlässlich der Wiener Festwochen von 1985, Traum und Wirklichkeit, die Kersting bestimmt gesehen hätte, aber Kersting hatte nicht.

Dr. Mühlbauer, sah Kersting, war ein geübter und kenntnisreicher Plauderer, bevorzugt über Gegenstände der österreichischen Kulturgeschichte. Eben deswegen saß er als Beamter hier, im österreichischen Bundesministerium für Unterricht, und vertrat die Sache nach außen. Dr. Mühlbauer versicherte, dass er Rat und Hilfe für Kersting habe, wann immer Kersting dessen bedurfte. Er stellte Kersting einen gemeinsamen Besuch im nahe gelegenen Café Landtmann an der Ringstraße in Aussicht, zu dem es, wie Kersting vermutete, niemals kommen würde.

Kersting verabschiedete sich. Der Name Waldheim war nicht gefallen. Die Aktionen der DDR gegen jugendliche Demonstranten blieben unerwähnt. Die Modalitäten des Empfangs der vom Ministerium für Unterricht und Kunst ausgesetzten monatlichen Geldzahlungen an Kersting hatte Dr. Mühlbauer wie nebenher dargetan, mit zwei Sätzen.

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