Читать книгу Marienbrücke - Rolf Schneider - Страница 19
17
ОглавлениеDer junge Mensch mit den etwas ungelenken Bewegungen hieß Josef Kerschbaumer. Eines Spätnachmittags klopfte er an Kerstings Tür. Es war das erste Mal, dass Kersting Besuch erhielt. Er dachte daran, dass er seit Tagen immer bloß mit Angehörigen des Dienstleistungsgewerbes geredet hatte, in wissenschaftlichen oder gastronomischen Einrichtungen, ein Zustand, der allmählich zu Erstarrung und Deformation führen musste.
Kerschbaumers eigenes Zimmer war eine mönchische Zelle, ungeeignet für fast alle Handlungen außer jenen des Schlafens, des Lernens und der katholischen Meditation. Sein Name, sagte Kerschbaumer, sei nicht jüdischen Ursprungs, auch wenn er deutschen Ohren so klingen mochte, vielmehr seien die Kerschbaumers in Tirol häufig anzutreffen unter christlichen Bergbauern und Dorfhandwerkern, obschon er selber, Josef, jüdische Vorfahren habe, aber nicht von Seiten der Kerschbaumers, seiner Mutter, sondern jenen seines leiblichen Vaters, der einfach bloß Mayer geheißen habe, mit Vornamen allerdings Isaac.
Dies erzählte er mit leiser Stimme und in einer zögernden Redeweise. Kersting konnte erkennen, dass der zweifelsfrei oberdeutsche Akzent Kerschbaumers jedenfalls nicht übereinstimmte mit dem, den er sonst in Wien vernahm. Josef Kerschbaumer war aus Innsbruck gebürtig. Er entstammte einer höchst bürgerlichen Familie, war aber ein uneheliches Kind, und das schien im Lande Tirol, wo auch heute noch, wie Kerschbaumer sagte, die heilige Madonna mit dem Schützengewehr regierte und man ebenso fromm wie unduldsam und drakonisch war, einen geradezu unverzeihlichen Makel zu bedeuten bis noch ins dritte Glied.
Die Umstände seiner Biografie gestand Kerschbaumer nicht bei der ersten Begegnung. Kersting erfuhr sie später. An manchen Abenden suchten sie einander auf, um zu reden. Zumeist fanden solche Begegnungen bei Kersting statt, der in seinen zwei Zimmern über genügend Platz verfügte und wo er reichlich gekaufte Zeitschriften, entliehene Bücher, fotokopierte Texte und beschriftete Karteikarten verstreute, was den Eindruck einer etwas fahrigen Gelehrsamkeit erzeugte. Immerhin wollte er eine Monografie verfassen über einen bedeutenden Architekten und Formgestalter der klassischen Moderne.
Kerschbaumer fand erstaunlich, dass jemand von so weit her anreiste, um sich ausgerechnet einem solchen Vorhaben zu widmen. Kersting erkannte, dass er unter den anderen Bewohnern des Studentenhotels zu einer allseits umrätselten Person geworden war. Die nackten Tatsachen seiner Herkunft waren seit dem Abend seiner Anmeldung im Hause bekannt.
Den ersten gemeinsamen Abend verbrachten Kersting und Kerschbaumer bei einem Essen in der Strozzigasse, in einem Gasthaus, das einen eindeutig tschechischen Namen trug und dessen hervorgehobene Spezialitäten solche der andalusischen Küche waren. Fischsuppen, Oktopus, Paella, der Wein kam aus Tarragona. Josef Kerschbaumer hatte Kersting hierher geführt. Er hatte eine Weile in Spanien und Portugal gelebt, um sich in den dortigen Sprachen zu üben.
Es war ein Tag unter der Woche. Das Gasthaus blieb wenig besucht, bis auf einen Tisch mit lauter lustig lärmenden Männern. Sie tranken viel Wein, Bier und Obstler. Zu vorgerückter Stunde begannen sie heimische Lieder zu singen, I bin halt a echts Weaner Kind und Versaufts mei Gwand i komm in Himmel. Ihre Fröhlichkeit war so beeindruckend, dass Kerschbaumer den Kellner fragte, wer diese Herren denn seien. Der Kellner vergewisserte sich durch Blicke rückwärts, dass niemand sonst ihm zuhörte, und teilte mit, dass dies der Stammtisch der Wiener Leichenbestatter sei.