Читать книгу Marienbrücke - Rolf Schneider - Страница 5
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ОглавлениеIn einer Telefonzelle am Schottentor durchblätterte Kersting das olivgrün eingebundene Fernsprechbuch der Stadt Wien. Er warf eine Schillingmünze ein und wählte einen Anschluss. Eine weibliche Stimme mit schrill sächsischem Akzent teilte mit, man sei die Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Kersting sagte, er wolle seine Anwesenheit in Wien vermelden. Moment, sagte die Stimme. Die Leitung war für Sekunden unterbrochen. Dann meldet sich die Stimme zurück, wollte den Namen, die Dauer des Aufenthaltes und die Wiener Adresse erfahren. Streng fragte sie: Dienstlich oder privat? Kersting musste durchatmen, ehe er antwortete. Für ein paar Augenblicke fühlte er sich auf deprimierende Weise daheim.
Er stand auf der Marienbrücke über dem Donaukanal. Seine Kopfschmerzen waren vergangen. Er lehnte an einem Geländer, neben einer Statue der Madonna, die das Kind im Arm trug und umgeben war von metallenen Rosen. Eine Inschrift besagte, die Gottesmutter wolle sich herbeilassen, die Sünden zu vernichten. Was hieß für einen wie ihn Sünde? Ein amtmodisches Wort. Es gab Schuld, Versäumnis, Fehler, Vergehen, Verrat, das alles ließ sich ebenso als Sünde begreifen und ließ sich, als Sünde, abbitten und abbüßen, also verlieren. Katholizismus war eine gnädige Sache. Kersting war kein Katholik, er war kein Christ, er war es nie gewesen.
Tief unten floss in einem breiten Bett graues Wasser. Ein Platz für Selbstmörder, dachte Kersting, man hatte die Wahl, sich in den Donauarm zu stürzen oder auf die steinerne Uferbefestigung, um dort zu zerschellen. Ein Dampfschiff lag vor Anker unmittelbar neben der Brücke. Der Zugang war mit einem Baldachin versehen. Der Dampfer trug den Namen Johann Strauß, auf ihm erhob sich in Überlebensgröße eine aus Bronze gefertigte Plastik des berühmten Komponisten, Bogen in der Rechten und Geige am Kinn. Möwen hockten auf den Wellen. Auf dem anderen Ufer stand ein Geschäftshaus und zeigte an einer seiner Mauern mit digitalen Riesenzeichen die Uhrzeit. Kersting spie hinab in den Fluss, ehe er ging.