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Das Bild der einander jagenden Strommasten hatten für Kersting, als er Kind war, zu den Vergnügungen des Eisenbahnfahrens gehört, aber mehr noch als dieser Anblick hatte ihn stets das Bild der zuckenden Pupillen beeindruckt, von jenen Fahrgästen, die dem Schauspiel der einander jagenden Strommasten zusahen.

Hinterher waren für ihn die Bilder und Eindrücke von Bahnfahrten aus diesen frühen Jahren ineinandergeflossen. Er erinnerte sich an das stundenlange Sitzen auf Bänken aus gelb lackierten Hölzern, die durch silbrige Schrauben zusammengehalten wurden. An der Unterkante des Türfensters hing ein breites hellgraues Gurtband herunter fast bis zum Abteilboden. Ein emailliertes Schild warnte in mehreren Sprachen davor, sich hinauszulehnen.

Bei ihrem Umzug nach Grotenweddingen war er schon acht. Vorher hatte er mit seinem Vater in Gera, Dresden, Lübeck und Chemnitz gewohnt. Er bewahrte von diesen Städten bloß Erinnerungen an Chemnitz, außer ein paar Bildern, die in das westliche Mecklenburg nahe der Ostsee passen müssten.

Die Straße dort war breit. Im Sommer wirbelte trockener Lehm auf. Die Fronten gehörten zu einstöckigen Backsteinhäusern mit fetten Dächern aus Reet oder Ziegeln, mit grünlackierten Fensterhölzern, mit gelb und rosa blühenden Dahlien neben der Haustür. Im Innern hing die Stubendecke niedrig, und auf den Gegenständen klebte fortwährend Feuchtigkeit, weil die Luft satt war von Nässe. Er meinte, die Häuser müssten vielleicht in einem am Rand von Lübeck gelegenen Arme-Leute-Dorf gestanden haben, wo die Landwirtschaft längst aufgelassen worden war, in den Häusern wohnten jetzt Arbeiter vom Trave-Hafen und aus den Fabriken für Nahrungsmittel und Metallteile.

In Chemnitz hatten sie die Erdgeschosswohnung eines vierstöckigen Mietshauses bezogen. Das Nachbargebäude beherbergte einen kleinen Lebensmittelladen, wo zu dem Zeitpunkt kurz nach ihrem Einzug die Butter, oder jedenfalls die sogenannte gute Butter, nicht mehr in beliebiger Menge eingekauft werden durfte. Die Begründung war im Radio zu hören, vielleicht wurde sie auch auf Plakaten und in der Zeitung gedruckt, aber er selbst konnte damals noch nicht lesen. Kanonen statt Butter. Der Geschäftsinhaber, Herr Goerner, war ein klein gewachsener Mensch, der ständig während seiner Arbeit einen gestärkten weißen Baumwollkittel trug, im Rücken mit einem schmalen Stoffriegel an zwei Knöpfen.

In der Tschechei waren die dort lebenden Deutschen zu Deutschland gekommen, mitsamt dem Gebiet, das sie bewohnten und das Sudetenland hieß. Dafür bringe man doch mal gern ein Opfer, sagte Herr Goerner. Die Butter entnahm er einem auf dem Fußboden seines Ladens stehenden Eichenfass, mit der Hilfe eines hölzernen Spachtels, den er hernach auf einem Blatt Pergamentpapiers abstrich. Genaue Mengen ergaben sich entsprechend der Anzeige auf Herrn Goerners Lebensmittelwaage. Sie wurden außerdem als Zahlen in ein Notizheft eingetragen. Bevor er zu schreiben anfing, benetzte Herr Goerner die Spitze seines Kopierstiftes mit der Zunge. Wenn ein Kunde sein Geschäft betrat oder es wieder verließ, grüßte Herr Goerner deutlich mit Heilhitler.

Die Lebensmittelwaage hatte auf ihrer der Kundschaft zugewandten Seite eine Aufschrift. Wenn Sie zufrieden sind, sagen Sie es anderen, wenn Sie es nicht sind, sagen Sie es mir.

Der Junge konnte diese Aufschrift erstmals buchstabieren, nachdem er zehn Monate lang die unterste Klasse der Volksschule in der Andréstraße besucht hatte. Danach grübelte er mühselig, wie jemand mit einer Lebensmittelwaage unzufrieden sein könnte, und wie es anstellen, dass ein aus Metall und Farben bestehender Gegenstand gesprochene Mitteilungen der Unzufriedenheit vernahm.

Zu diesem Zeitpunkt musste er immer noch, wenn er früh nachmittags zu Herrn Goerner ging, seinen Einkaufswunsch auf einem Zettel vorweisen, den sein Vater beschriftet hatte und in den außerdem die für den Einkauf benötigten Geldmünzen eingewickelt wurden. Herr Goerner wirkte auf ihn jetzt geschrumpft. Das mochte vielleicht bloß dadurch bedingt sein, dass der Junge seinerseits gewachsen war. Herr Goerner notierte auf dem Zettel die Einkaufssumme und subtrahierte von dem mitgebrachten Betrag. Das Wechselgeld wickelte er seinerseits in den Zettel. Herrn Goerners Laden führte auch Obst, Gemüse und Wurst. Backwaren führte Herrn Goerners Laden nicht. Am Ende der Straße befand sich der Schmidt-Bäcker, der außer Brot und Semmeln noch Kuchen anbot. Für ein Fünfpfennigstück ließen sich, in Tüten abgefüllt, die fortgeschnittenen Ränder von Blechkuchenstücken erwerben, Kuchenrindeln.

Es war schön, erinnerte sich der Junge, an der Kante des Gehsteigs zu sitzen und die süßen Streifen zu kauen. Überhaupt war die Straße, die nach einer Schlacht aus dem deutschfranzösischen Krieg von 1870 hieß, in seinen Augen manchmal so etwas wie ein schmutziges Idyll. Das passierte zum Beispiel an Nachmittagen im Frühsommer. Die Sonne stand schräg über den Schornsteinfirsten der Brauerei. Sie schüttete hellbraunes Licht auf den Basalt. Unter der Treppe, die zu Herrn Goerners Laden führte, wurden von Kindern Murmeln geschoben. Ein Glasbucker besaß den Wert von drei oder fünf Tonkugeln, je nach Art seiner Zeichnung. Der Boden hinter den Zementstufen von Herrn Goerners Laden hatte eine leichte Schräge zur Hauswand hin. Mit dem Sand, der sich aus dem morosen Rauputz herauskratzen ließ, wurde die Fläche geebnet, anschließend wurden Vertiefungen geformt. Auf den Gehwegplatten waren die Felder für Himmel und Hölle aufgemalt, mit weißer Schulkreide, die Mädchen sprangen darin, beidbeinig, einbeinig, je nach der Regel und hinter einem Bündel ineinandergehängter Sicherheitsnadeln her, das sie immer wieder aufhoben, um es sofort in ein anderes Feld zu werfen.

Die Sonne nahm Platz genau zwischen den Schornsteinen. Etwas Rauch stieg hoch. Er machte das Licht unruhig. Frauen in blumigen Kittelschürzen traten auf oder größere Jungen, mit Glaskrügen in der Hand. In geöffneten Fenstern zur Straße hin zeigten andere Frauen ihre Köpfe und hatten die nackten Unterarme auf ein Kissen oder eine wollene Häkeldecke gestemmt. Die Frauen und älteren Jungen kehrten zurück vom Keglerheim. Die Krüge waren angefüllt mit gelbem Bier, das eine Schaumhaube hatte und kalten sauren Geruch. In den Radios hinter den offenen Fenstern sang die chilenische Nachtigall Rosita Serrano, mit harten Konsonanten, Roter Mohn, warum welkst du denn schon. Sein Vater ging die Straße hinunter. Die Frauen in den Fenstern sahen zu ihm hin, und wie der Junge glaubte, taten sie es voll Bewunderung. Der Junge hatte seine Kuchenrindeln gegessen. Er zerknüllte das leere Papier, warf es in den Rinnstein und stand auf.

Auch Kuchenrindeln konnten schon bald höchstens ausnahmsweise gekauft werden, als nämlich Backwaren bloß gegen Lebensmittelkarten abgegeben wurden und Kuchenrindeln zu den wenigen weiterhin markenfreien Waren gehörten. Herr Goerner wurde eingezogen. Zu seinem Abschied zeigte er sich noch einmal stolz, ein kleiner Mensch mit blankem Schädel und großem hässlichem dunkelbraunem Muttermal hinter dem rechten Ohr, angetan mit einer Panzergrenadier-Uniform. In seinem Laden wurden allmählich die Waren weniger. Der Betrieb musste jetzt von Frau Goerner geführt werden, die es auch schon vorher gegeben hatte, aber bloß manchmal und wenn besonders viel Kundschaft gewesen war. Frau Goerner, im Wuchs größer als ihr Mann, hatte unförmig dicke Fußknöchel, die bandagiert wurden, und knickte beim Gehen in der Hüfte deutlich ein.

Der Junge besuchte jetzt in der André-Schule die Klasse 2 b. Jeder Schüler musste ein Kriegstagebuch führen. Dazu war erforderlich, dass ein großformatiges Schulheft Seite für Seite mit den Abbildungen vom Kriegsgeschehen sowie mit handschriftlichen Vermerken der Ereignisse an den Fronten angefüllt würde. Die Abbildungen waren mit der Schere aus Zeitschriften oder Tageblättern herauszutrennen, Berliner Illustrirte Zeitung, Chemnitzer Neueste Nachrichten. Die Kriegstagebücher wurden von Klassenlehrer Klostermann in unregelmäßigen Abständen eingesammelt und zensiert.

An der Litfaßsäule beim Eingang der Andréstraße hingen Plakate mit der Zeichnung eines deutschen Soldaten, der vor einem Eisenbahnzug stand. Der Soldat lachte und wirkte heldisch. Der Zug war klein, wie nebensächlich, und die in grobe Fraktur gebrachte Aufschrift hieß Räder müssen rollen für den Sieg. Manchmal wurden zur Probe die Sirenen für den Fliegeralarm eingeschaltet.

Lehrer Klostermann trug schütteres rotblondes Haar, hatte ein ausgehungertes Gesicht, mit Sommersprossen, und artikulierte seine Sprechlaute weit hinten in der Gurgel. Er hasste es, wenn Schüler mitten in der Unterrichtsstunde sich meldeten, bloß um austreten zu dürfen. Er hielt dies für disziplinlos, unmännlich, er zog auch Vergleiche mit den Entbehrungen unserer tapferen deutschen Frontsoldaten, und um seinen Forderungen auf unbedingten Gehorsam sinnlichen Ausdruck zu verleihen, bewahrte er im Wandschrank des Klassenzimmers eine kleine Sammlung von Rohrstöcken, die er gelegentlich hervorholte, einen nach dem anderen, um sie vor den Augen der Klasse auf ihren Zustand zu überprüfen. Er befühlte sie, hob sie dann hoch und ließ sie durch die Luft fauchen.

Manche der Stöcke waren an den Spitzen ausgefranst. Andere zeigten sich noch völlig intakt. Ihre Farben waren blasses Gelb, bei vereinzelt apfelsinenfarbener Tönung. Schläge mit einem ausgefransten Stock galten als vergleichsweise wenig schmerzhaft. Einem der Prügel war eine kurze hellblaue Metallkuppe übergestülpt, deren Berührung besondere Pein verhieß. Lehrer Klostermann wies ihn stets zuletzt vor, mit dem Ausdruck triumphierenden Genusses im Gesicht. In der Klasse gab es zwei Sitzenbleiber, grobe Burschen, die übereinstimmend bekundeten, jeder Rohrstock breche sofort auseinander, ähnlich einem Strohhalm, wenn man ihn mehrfach mit der Innenseite einer aufgeschnittenen Zwiebel bestreiche. Sie lieferten für ihre Behauptung keinen tätigen Beweis. Sie redeten das vielleicht bloß so, um im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Jacob fühlte eine heimliche Bewunderung für ihr aufsässiges Benehmen.

Er teilte zugleich jenen Abscheu, der die lärmend von Lehrer Klostermann eingenommene Haltung gegen die beiden war und der seinen Ausdruck fand im häufigen Abstrafen mit einem der Rohrstöcke. Der Geschlagene schrie jedes Mal übertrieben laut. Hinterher, in den Pausen, rühmte er sich seiner Verstellungskunst. Es sei alles, sagte er, bloß eine List gewesen, die zu erleidende Tortur zu verkürzen. Manche aus der Klasse hielten das für feig.

Ganz bestimmt empfand so Dietzel-Wolfgang. Er war der kleinste Junge aus der Klasse. Er trug sein hellblondes Haar kurz geschoren, dass überall auf seinem Schädel rosige Haut sichtbar war. Mit schwärmerischer Inbrunst verehrte er die militärischen Leistungen deutscher U-Bootfahrer aus zwei Weltkriegen, worüber er Beschreibungen gleich in mehreren Büchern besaß. Die waren eingebunden in marineblaues Leinen, mit silbernen Buchstaben auf dem Deckel, und sie waren angefüllt auch mit Fotos in Schwarz und Weiß. Immer wieder zog Dietzel-Wolfgang eines der Bücher aus seinem Schulranzen, um es aufzuschlagen und anderen zu zeigen und stolz zu sein.

Einmal, mitten im Unterricht, trat Dietzel-Wolfgang plötzlich aus der Bank heraus und ging sonderbar steifen Schritts zum Katheder. Er redete leise mit Lehrer Klostermann. Dann verließ er das Zimmer. Es brauchte, um den Inhalt seiner Worte zu vermuten, kein Rätselraten, da er bei seinem Gang eine dünne Urinspur hinter sich ließ. Als er vor dem Katheder stand, rann es ihm hörbar aus dem linken Hosenbein, eine kleine Strecke den blanken Unterschenkel mit dem weißen Wollsöckchen herab, von der Mitte der Wade an direkt und schräg bis auf das Linoleum, wo es als eine dunkle Lache stand. Lehrer Klostermann war zufrieden. Jemand hatte sich so vollkommen unter sein Verbot geduckt, bis erkennbar der menschliche Organismus versagte und sich entlud. Vielleicht war Dietzel-Wolfgang sogar beschämt, da die Prügelstrafe, mit der er gewiss gerechnet hatte, nicht verabfolgt worden war.

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