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4.

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„Deck!“ rief Bill, der Moses, aus dem Großmars. Er lehnte sich weit über die Segeltuchumrandung und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Boote in Sicht, wir erhalten Besuch! Es sind acht Kanus – Steuerbord achteraus!“

Die „Isabella“ lag mit dem Vorschiff nach Norden und mit dem Heck nach Süden in der Bucht. Ihre Backbordseite war also dem Ufer der Bucht zugewandt, die Steuerbordseite hingegen der Ausfahrt.

Old O’Flynn hatte am Backbordschanzkleid des Achterdecks gestanden und Ausschau nach Jeff Bowie und Bob Grey gehalten, die seiner Schätzung nach bald mit Meldungen zurückkehren mußten. Sie waren mit der zweiten Jolle an Land gepullt, und das Boot lag jetzt neben dem ersten, das von Hasard und dessen Trupp benutzt worden war.

Auf Bills Ruf hin wandte sich der Alte ruckartig um, überquerte das Achterdeck und spähte über das Steuerbordschanzkleid zur Öffnung der Bucht. Mit bloßem Auge waren die Kanus und Piraguas zu erkennen, die sich aus Südosten näherten. Augenscheinlich hielten sie auf die Einfahrt der Bucht zu, eine Tatsache, die Old O’Flynn alarmierte.

„Pete, Gary, Matt, Al, Sam, Stenmark und ihr anderen Tränentiere mal herhören!“ rief er. „Alle Mann auf Gefechtsstation und ’raus mit den Kanonen! Wenn die Kerle es wagen, in die Bucht einzudringen, lichten wir vorsichtshalber den Anker, um manövrierfähig zu sein!“

„Donegal“, sagte Pete Ballie, der Rudergänger, vom Quarterdeck her. „Glaubst du wirklich, daß die sich mit uns anlegen wollen?“

„Was ich glaube, spielt im Moment keine Rolle“, erwiderte der Alte schroff. Er hatte sein Spektiv zur Hand genommen, zog es auseinander und blickte hindurch. Was er sah, löste alles andere als Begeisterung bei ihm aus: Die Mienen der Indios in den Booten waren grimmig, ja, geradezu bösartig. Haßerfüllt sahen sie zur „Isabella“.

„Die blicken so wild drein, als wollten sie uns fressen!“ rief Bill hoch über den Köpfen der Männer. „Haben wir denen etwas getan?“

„Blödsinn“, sagte Old O’Flynn. „Aber einige von ihnen haben blaue und rote Flecken im Gesicht und auf dem Leib. Was das zu bedeuten hat, können wir uns ja wohl an unseren zehn Fingern abzählen.“

Al Conroy enterte das Achterdeck, um die beiden hinteren Drehbassen auf Ladung und Feuerbereitschaft zu prüfen, und meinte: „Na, dann hätten wir wohl die Erklärung dafür, warum Hasard und die anderen geschossen haben. Und so friedlich, wie sie dir erschien, Donegal, ist diese Insel wohl doch nicht.“

Der Alte murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin und fuhr fort, die Eingeborenen durch sein Fernrohr zu beobachten.

Anfangs schien es so, als wollten sie tatsächlich in die Bucht paddeln. Sie konnten sich ausmalen, daß das große Segelschiff mit den hohen Masten jenen Männern gehörte, mit denen sie am Strand des Südufers eine harte Auseinandersetzung gehabt hatten. Borago hatte Rache geschworen, und in diesem Augenblick überlegte er sich wirklich, ob er das Schiff nicht angreifen und zu kapern versuchen sollte.

Doch seine Kumpane rieten ihm davon ab. Sie konnten die Stückpforten der „Isabella“ sehen, die sich jetzt geöffnet hatten, und ebenso deutlich waren die Geschützmündungen zu erkennen, die sich ihnen drohend entgegenreckten. Die Indios hatten keinen Zweifel daran, daß es sich bei diesen eisernen Giganten um Feuerrohre handelte, und sie glaubten ihrem Führer Borago nicht, daß die Flammen und Rauch spuckenden Ungetüme verhältnismäßig ungefährlich wären.

So zogen die Kanus und Piraguas an der Buchteinfahrt vorbei und verschwanden hinter einer Landzunge.

Old O’Flynn wagte es jedoch nicht, schon aufzuatmen. Er drehte sich um und blickte zu Al Conroy und Pete Ballie.

„Das kann auch ein Trick sein“, sagte er. „Vielleicht gehen sie irgendwo an Land und versuchen, sich anzuschleichen, um dann vom Ufer aus gegen uns vorzudringen.“

Pete setzte eine zweifelnde Miene auf. „Ich halte es nicht für möglich, daß die braunhäutigen Burschen uns angreifen. Sie müssen sich doch ausrechnen, daß sie dabei den kürzeren ziehen, allein schon aus dem Grund, weil wir Feuerwaffen haben und sie nicht.“

Old Donegal Daniel O’Flynn hob die rechte Hand. „Augenblick mal. Wenn wir schon vom Rechnen sprechen, dann wollen wir uns eins vor Augen halten. In jedem dieser kleinen Kähne saßen acht oder neun Eingeborene. Acht Boote waren es, das haben wir ja alle gesehen. Also, Pete, Ballie, mit wie vielen Kerlen hätten wir es dann im Fall eines Angriffs zu tun?“

„Mit mehr als fünf Dutzend!“

„Das ist mir zu ungenau“, sagte der Alte grantig. „Bist du wirklich so schlecht im Kopfrechnen, Mann, oder tust du nur so?“

„Vierundsechzig bis zweiundsiebzig Eingeborene“, sagte jetzt Al Conroy. „Vielleicht holen sie von irgendwoher noch Verstärkung. Wir können ihre Kanus versenken und über die Hälfte von ihnen töten, wenn sie die ‚Isabella‘ zu entern versuchen, aber dann sind sie immer noch in der Übermacht – was ihre Zahl betrifft.“

„Genau das meine ich“, brummte Old O’Flynn. „Und was die Schußwaffen betrifft, so scheinen sie ja nicht gerade großen Respekt davor zu haben. Obwohl Hasard und sein Trupp gefeuert haben, haben sich die Burschen trotzdem mit ihnen herumgeschlagen, das sieht man ihnen ja im wahrsten Sinne des Wortes an.“

„Na schön“, sagte Pete. „Wir dürfen sie also nicht unterschätzen, das sehe ich ein. Himmel, ob Hasard und die anderen etwa verletzt worden sind? Wo bleiben bloß Jeff und Bob?“

Old O’Flynn schickte einen Blick zum Ufer hinüber, aber Jeff Bowie und Bob Grey waren dort immer noch nicht aufgetaucht. Er ging bis zur Schmuckbalustrade, die den Querabschluß zum Hauptdeck hin bildete, stützte die Hände auf und rief: „Gary Andrews, du enterst in den Vormars auf und hältst mit Bill zusammen deine verdammten Augen auf, verstanden? Wir müssen von jetzt an höllisch auf der Hut sein!“

„Aye, aye, Sir“, sagte Gary. Er stand mit dem Kutscher an der Nagelbank vor dem Großmars, wandte sich jetzt aber sofort den Fockwanten zu und enterte darin auf.

Als er den Vormars erreichte, fand er darin Arwenack, den Schimpansen, vor, der gerade genüßlich an einer geöffneten Kokosnuß knabberte.

„Mach mal ein bißchen Platz, Kamerad“, sagte Gary. „Wir zwei werden uns von jetzt an Gesellschaft leisten.“

Er hatte kaum seinen Kieker auseinandergezogen, da ertönte aus dem Großmars wieder Bills Stimme. „Deck! Jeff und Bob treffen ein – und sie haben Blacky dabei!“

Auf Deck ruckten die Köpfe der Männer herum.

Bob Grey lief über den Strand und erreichte als erster die Boote. Jeff und Blacky stiegen gerade die Anhöhe hinunter, und Jeff rief: „Bob, warte auf uns, sonst mußt du noch mal wieder an Land zurückpullen!“

„Verflixt“, sagte der Kutscher. „Blacky hat einen Pfeil in der Schulter stekken.“

Old O’Flynn war jetzt am Backbordschanzkleid und schrie: „He, Bob, was ist los? Braucht ihr Hilfe da drüben? Stecken Hasard und die anderen in der Klemme? Sind noch mehr Männer verwundet?“

„Das nicht, Sir“, gab Bob zurück. „Aber ich soll dir schleunigst Meldung erstatten, was vorgefallen ist. Eine Horde Indios hat am Südufer der Insel unsere Leute angegriffen und …“

„Das wissen wir schon!“ rief der Alte. „Los, steigt in die Jolle und pullt her, damit wir Blacky verarzten können. Kutscher, he, Kutscher?“

„Sir?“

„Halte deine Mordinstrumente bereit, damit du Blacky den Pfeil aus der Schulter holen kannst.“

„Bin schon auf alles vorbereitet“, sagte der Kutscher und wies auf Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs, die ihm die Tasche mit seinen Feldschergeräten und den kleinen Koffer mit den Arzneien aus der Kombüse geholt hatten.

Bob Grey drehte sich mit verblüffter Miene zu Jeff und Blacky um, die jetzt bei ihm eintrafen.

„Wißt ihr was?“ sagte er. „Irgendwie muß Donegal doch so was wie hellseherische Fähigkeiten haben.“

„Quatsch“, sagte Blacky, der sich doch auf Jeff Bowie stützen mußte. „Er hat die Kanus der Indios gesehen, sie sind hier vorbeigezogen. Den Rest hat er sich leicht zusammenreimen können.“

Bob schob die Jolle vom Sand ins seichte Wasser und gab einen Seufzer von sich. „Mann, o Mann, ich glaube, ich hab heute meinen schlechten Tag. Ich blicke einfach nicht ganz durch. Und diese Scheißinsel mit ihren braunen Teufeln stinkt mir gewaltig. Hölle, hier stinkt’s so sehr, daß ich am liebsten gleich wieder abhauen möchte.“

Ilana und Oruet hatten das Mißverständnis zwischen ihren Stammesbrüdern und den Seewölfen sehr schnell beseitigt. Die jungen Krieger, die von Tubuago zum Südufer geschickt worden waren, damit sie nach der Ursache der Schüsse forschten, hatten Hasard und dessen Begleiter anfangs für Feinde gehalten. Jetzt aber, nach den Erklärungen der Mädchen, hatten sich ihre Mienen aufgehellt, und sie bezeugten durch Gesten ihren Dank dafür, daß die Seewölfe Ilana, Oruet, Saila, Mileva und Ziora vor dem Zugriff von Surkuts Männern gerettet hatten.

Die Verständigung durch Gebärden und Zeichnungen im weißen Sand des Strandes funktionierte jetzt etwas besser. Die Eingeborenen setzten Hasard und seinen sechs Männern auseinander, daß Tubuago sie sicherlich in seinem Dorf willkommen heißen würde. Der Seewolf nahm das Angebot lächelnd an, und so schritten sie hinter den Indios her zu den Hügeln hoch und anschließend durch einen Pfad im Urwald zu der Siedlung, die aus etwa dreißig Holzhütten bestand.

„Ich glaube, die Indios werden uns bei der Proviantbeschaffung behilflich sein“, sagte Hasard. „Uns käme das sehr gelegen, denn ich will nach Möglichkeit noch heute nachmittag wieder auslaufen.“

„Und das Trinkwasser?“ fragte Ben Brighton, der neben ihm ging.

„Blacky wird Donegal und den anderen an Bord der ‚Isabella‘ erklären, wo sich die Quelle befindet“, erwiderte der Seewolf. „Ich nehme an, Donegal wird vorsorglich schon Fässer an Land mannen und füllen lassen, zumindest erwarte ich das von ihm, wenn ich auch nicht den ausdrücklichen Befehl dazu gegeben habe.“

„Hoffen wir, daß dieser Muskelprotz und seine Bande uns dabei nicht wieder in die Quere geraten“, sagte Big Old Shane.

„Das sollen sie mal versuchen“, sagte Carberry grimmig. „Dann können sie was erleben. Dann kriegen sie die Hucke so voll, daß sie nicht mal mehr nach Hause paddeln können.“

Weder er noch die anderen ahnten, daß es anders kommen sollte – ganz anders.

Ilana und Oruet schritten neben Kewridi her, dem jungen Jäger und Fallensteller. Er stellte ihnen Fragen über Fragen, und sie mußten ihm genau berichten, wie sich die unerfreuliche Begebenheit am Strand zugetragen hatte.

„Das war unverantwortlich von euch“, sagte er schließlich. „Ihr hättet euch ohne Schutz niemals vom Dorf entfernen dürfen, schon gar nicht so früh am Morgen.“

„Es war meine Idee“, sagte Ilana, und ihre Stimme nahm einen beinah trotzigen Klang an. „Aber mein Vater und meine Mutter wußten davon. Dies war nicht das erste Bad, das ich mit meinen Freundinnen genommen habe.“

„Du kennst die Gefahr, die von Surkut ausgeht, und jetzt hast du am eigenen Leib erfahren, wie grausam seine Männer sind.“

„Es wäre besser, überall auf der Insel Späher aufzustellen“, sagte Ilana. „Ich werde meinem Vater dazu raten.“

„Das brauchst du nicht, das übernehme ich“, sagte Kewridi. Während er sprach, warf er immer wieder Blicke zu den weißen Männern hinüber und hielt besonders den großen schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen unter Beobachtung.

„Was hast du an diesen Fremden auszusetzen?“ fragte Ilana ihn plötzlich.

Kewridi schien erstaunt zu sein. „Ich? Nichts. Gar nichts.“

„Doch. Du mißtraust ihnen.“

„Haben sie euch – nackt gesehen?“

„Ja“, erwiderte Oruet. „Und wenn schon.“

„Es gefällt mir nicht.“

„Sie sind anständig“, sagte Ilana. „Sie sind gute, aufrichtige Männer mit einem großen Herz.“

Kewridi verzog den Mund. „Gib es nur zu, du magst sie leiden.“

Ilana lachte so laut auf, daß sich die anderen erstaunt zu ihr umblickten.

„Aber, aber!“ rief sie. „Du bist ja richtig eifersüchtig! Sei doch nicht kindisch, Kewridi.“

„Sei still“, stieß er gepreßt hervor. „Du weißt ja gar nicht, wie töricht es klingt, wenn du so sprichst.“

„Töricht?“ Sie sah ihn tadelnd von der Seite an. „Jetzt beleidigst du mich. Und außerdem – von dir lasse ich mir nichts befehlen. Du kannst mir den Mund nicht verbieten.“

„So keck bist du nur, weil du als Tochter des Häuptlings glaubst, dir besonders viel herausnehmen zu können.“

Ilana wollte ihm eine Antwort darauf geben, doch Oruet trat jetzt zwischen sie und den jungen Mann und sagte leise: „Hört doch auf, ihr beiden. Was sollen die anderen von uns denken?“

Dan O’Flynn stieß Ferris Tucker mit dem Ellenbogen an und sagte: „Weißt du was? Der Bursche da vorn hat einen Zorn auf uns, weil er in die hübsche Ilana verknallt ist und wir ihr aus der Patsche geholfen haben. Viel lieber hätte er sich als rettender Held aufgespielt.“

„Na ja“, meinte der rothaarige Riese. „Ich kann ihn verstehen. Das Mädchen guckt dauernd zu Hasard, und ihre Blicke sprechen Bände.“

„Hör bloß auf“, sagte Smoky, der hinter ihnen schritt. „Das fehlte uns noch, daß sich da irgendwas anbahnt.“

„Unsinn“, sagte Dan. „Hasard ist viel zu reserviert und auf die allgemeine Disziplin bedacht. Er kann sich zurückhalten – und das gleiche erwartet er von uns.“

„Bleibt hart, Leute“, sagte Ferris Tucker. „Haltet durch und seid sittsame Menschen, wenn’s auch schwerfällt.“

Der Dschungel öffnete sich zu einer geräumigen Lichtung, in deren Zentrum die Hütten ringförmig zueinander geordnet waren. Zwei Krieger der Indios, die am Eingang Wache hielten, drehten sich beim Anblick der Ankömmlinge um und stießen Rufe aus. Daraufhin lief im Dorf alles zusammen, was Beine hatte: Männer, Frauen und Kinder, die miteinander zu schwatzen und zu tuscheln begannen und ungeniert auf die Fremden deuteten.

Hasard fiel sofort ein drahtiger Mann auf, der jetzt mitten zwischen die Versammlung trat und beide Hände hob, um für Ruhe zu sorgen. Dieser Mann mochte fünfzig Jahre alt sein, vielleicht auch ein wenig älter, es ließ sich schwer schätzen. Er war mittelgroß und keine sonderlich imposante Erscheinung, doch von seinem ganzen Gebaren ging so viel Autorität aus, daß kein Zweifel daran bestehen konnte: Er war Tubuago, der Häuptling der Ilha de Maracá.

Seewölfe Paket 12

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