Читать книгу Seewölfe Paket 1 - Roy Palmer - Страница 56
7.
ОглавлениеO’Moore hatte alles gehört, was er wissen mußte. Niemand hatte sich um ihn gekümmert, die Abfahrt von Sir Thomas Doughty hatte die allgemeine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch genommen.
O’Moore und sein Partner Neil Griffith hatten keine Sekunde verloren. Kurz nachdem Doughty mit seinen Begleitern davongefahren war, hatten auch diese beiden dunklen Ehrenmänner die „Mill Bay Inn“ verlassen.
Die schmalen Lippen O’Moores wirkten noch verkniffener als sonst, als sie die Mill Bay Road entlangeilten, vorbei an der „Bloody Mary“, in der gerade jener rätselhafte Besuch Sir Doughtys auf der „Isabella“ lautstark diskutiert wurde.
„Wir werden auf diesen Killigrew gut aufpassen müssen, Neil“, sagte O’Moore unvermittelt. „Dieser Kerl ist ein noch viel härterer Brocken, als ich gedacht habe. Nicht einmal Francis Drake hätte es gewagt, so mit diesem Doughty umzuspringen. Ich denke, wir werden noch eine Menge Ärger kriegen, ehe dieser Bursche uns die Seekarten herausrückt.“
Neil Griffith nickte. „Das mit Doughty war nicht nur Mut, das grenzte schon fast an Dummheit. Natürlich ist Killigrew nicht dumm, aber er hat offenbar nicht die geringsten Erfahrungen mit Leuten wie Doughty. Ich bin nur nicht sicher, ob wir ihm Gelegenheit geben werden, noch diesbezügliche Erfahrungen zu sammeln. Und auch zu dem Rendezvous mit der schönen jungen Lady wird er wohl leider nicht mehr kommen – dabei hätte ich ihm zumindest das noch gegönnt.“
Neil Griffith lachte, aber sein Kumpan ging auf sein Gerede nicht ein. Er hatte keine Zeit dazu und auch nicht den Nerv. Sie mußten sich höllisch beeilen, wenn ihr Plan gelingen sollte. Vor allem brauchten sie jetzt eine Kutsche, die einigermaßen gut aussah, und dazu mußten sie in die Stadt. Die paar Kaleschen, die es hier im Hafenviertel gab, taugten für ihre Absichten nicht.
Es vergingen fast eineinhalb Stunden – aber dann hatten sie gefunden, wonach sie suchten. Es war eine stattliche Kutsche, die vor einem herrschaftlichen Haus offenbar auf Fahrgäste wartete.
O’Moore und Griffith brauchten keine langen Worte miteinander zu wechseln, jeder von ihnen wußte, was er zu tun hatte.
Der Kutscher saß auf dem Bock und döste vor sich hin. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, denn der Wind, der durch die engen Straßen der Hafenstadt pfiff, war kalt. Er war bestellt worden – daß er trotzdem sicher noch eine ganze Weile würde warten müssen, daran war er bei den hohen Herrschaften längst gewöhnt. Es machte ihm nichts aus, denn eine Fahrt mit solchen Gästen pflegte sich weitaus mehr zu lohnen als irgendeine andere.
O’Moore warf einen Blick auf das Haus, dessen Fenster erleuchtet waren und deren warmes Licht durch die Dunkelheit zu ihm herüberschimmerte.
Dann trat er von der Seite her an die Kutsche heran. Er sah, wie Neil Griffith ebenfalls neben dem Kutschbock auftauchte, in der Hand einen kurzen, kräftigen Knüppel.
O’Moore rief den Kutscher an. Unwillkürlich fuhr der dösende Mann hoch und beugte sich zu ihm hinunter. In diesem Moment traf ihn der Schlag Griffiths auf den Kopf. Lautlos sackte der Kutscher in sich zusammen.
Alles weitere ging sehr schnell. Neil Griffith fing den Mann auf und warf ihn in die Kutsche. O’Moore stieg ein, Griffith warf hinter seinem Kumpan die Tür zu. Dann schwang er sich auf den Bock, ein kurzer Ruck mit den Zügeln, ein Schnalzlaut zu den Pferden, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
Unterdessen fesselte O’Moore den Kutscher sorgfältig und knebelte ihn. Am Stonehouse Mill Pond, einem breiten Wasserarm, der sich weit in die Stadt hineinzog, stoppte Neil Griffith die Kutsche und sprang vom Kutschbock.
„Los, pack schon an!“ zischte O’Moore ihm zu und schob den Bewußtlosen aus der Kutsche. Neil Griffith fing ihn auf, hob ihn hoch, lief die wenigen Schritte bis zum Stonehouse Mill Pond hinüber und warf den Kutscher über das Geländer.
Ein dumpfes Klatschen, das durch den heulenden Wind zu ihm heraufdrang, sagte ihm, daß sie zumindest von diesem Mann keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten hatten.
„Erledigt“, teilte er O’Moore nur kurz mit, dann schwang er sich wieder auf den Kutschbock und trieb die Pferde an.
Es galt jetzt, die Mill Bay so rasch wie möglich zu erreichen. Wenn das gelang, dann würde dieser Philip Hasard Killigrew, ohne Verdacht zu schöpfen, in die Falle tappen, die sie ihm gestellt hatten.
Dan erspähte die Kutsche, als sie durch die Mill Bay Road fuhr und zur Pier abbog.
Er konnte das allerdings vom Quarterdeck aus nicht allzugut sehen, und so stürmte er zum Achterkastell hinüber, von wo aus er einen wesentlich besseren Überblick hatte. Er lief an die Reling und beugte sich weit vor, als wenn ihm das etwas nutzen könnte. Seine Hände krampften sich dabei um das harte, vom Seewasser gebeizte Holz.
Aus schmalen Augen fixierte er die Kutsche, die jetzt auf die beiden Galeonen zuschwankte und über das Kopfsteinpflaster der Pier rumpelte. Und dies gefiel ihm so wenig, daß er fast einen Wutanfall kriegte.
Hasard, der in diesem Moment seine Kammer verlassen hatte und ebenfalls das Achterkastell betrat, sah, wie Dan vor Zorn mit dem Fuß auf das Deck stampfte.
Mit einigen Schritten war er bei ihm.
„He, Dan, was gibt es denn?“ fragte er und blickte gleichfalls auf die Pier hinüber, wo die Kutsche gerade vor den beiden Schiffen stehenblieb.
Dan drehte sich blitzartig um. Dabei schoß er wütende Blicke auf Hasard ab.
„Was los ist?“ fragte er in einem Ton, der Hasard unwillkürlich die Kopfhaut kribbeln ließ. Und er nahm sich vor, dieses Bürschchen künftig doch ein wenig gründlicher an die Leine zu nehmen.
„Wenn das die Kutsche ist, die dich abholen soll, dann ist das von Sir Doughty eine bodenlose Gemeinheit!“ schimpfte er. „Das ist eine ganz gewöhnliche Kalesche. Was für einen Eindruck wirst du, der Kapitän der „Isabella von Kastilien“ wohl hinterlassen, wenn du mit diesem Schinderkarren zu dieser Gesellschaft von Lackaffen fährst? Wenn du es nicht weißt, dann sage ich es dir eben: Dieser Doughty will dich für seine Schlappe, die er hier an Bord erlitten hat, demütigen. Du solltest absagen, du solltest es ablehnen, in diesen Gemüsekarren da unten überhaupt einzusteigen.“
Hasard grinste, und das ließ das Bürschchen noch wütender werden.
„Da gibt es nichts zu grinsen!“ schrie er aufgebracht. „Ein Mann, der der Königin von England im Auftrag von Kapitän Drake ein Schiff wie die „Isabella“ mit dreißig Tonnen Silber nach Plymouth segelt, der es fertigbringt, ein Geschwader von fünf Karavellen bis auf eine einzige außer Gefecht zu setzen oder sogar zu versenken, der verdient Respekt. Der verdient es, mit genau derselben Kutsche abgeholt zu werden, mit der dieser geschniegelte Lackaffe aufgekreuzt ist. Dieser Doughty führt Böses gegen dich im Schilde, und wenn du das nicht merkst, oder wenn dir die Aussicht auf die junge Lady schon jetzt den Kopf verdreht haben sollte, dann renn doch blind in dein Verderben!“
Dan tauchte unter der blitzschnell zugreifenden Hand Hasards weg. Hasard sah ihn wie einen Schatten über das Achterkastell huschen, dann war der Junge verschwunden.
Hasard starrte ihm nach. Es ging nicht an, daß Dan sich diesen Ton ihm gegenüber herausnahm – der Junge machte seit ihrer Rückkehr in den Hafen vom Plymouth überhaupt einen merkwürdigen Eindruck auf ihn, so als habe er irgendwelche Schwierigkeiten, die er allein nicht recht zu meistern wußte –, aber im Grund genommen hatte Dan recht. Denn das Bürschchen verfügte nicht nur über scharfe Augen, sondern auch über einen wachen Verstand und eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe.
Gut, mochte dieser Doughty versuchen, ihn, Philip Hasard Killigrew, zu demütigen – er würde dieser Herausforderung nicht ausweichen. Jetzt erst recht nicht.
Hasard tastete zu seinem Gürtel, wo unter der blauen Segeltuchjacke die doppelschüssige sächsische Radschloßpistole steckte. Er hatte sie sorgfältig geladen. Und gerade sah er, wie sich die eine Tür der Kutsche öffnete und ein großer, hagerer Mann ausstieg, als Ben Brighton die Stufen zum Achterdeck hochstieg.
„Die Kutsche dieses Sir Doughty ist da. Er hat einen seiner Lakaien geschickt, um dich abzuholen. Merkwürdig ist nur – dieser Hagere sieht mir nicht wie ein Lakai aus. Der Kerl gefällt mir nicht – er hat die Visage eines Raubvogels, der seine Beute erspäht hat und bereit ist, jeden Moment zuzustoßen.“
Ben Brighton starrte abermals über die Reling. Dann wandte er sich ruckartig um.
„Was ist eigentlich mit Dan? Er hat mich eben fast über den Haufen gerannt, und als ich ihn zurechtwies, fauchte er mich an wie ein gereizter Tiger.“
Hasard nickte, dann sah er seinen Bootsmann an.
„Ich glaube, aus diesem Kerlchen wird eines Tages noch einmal ein Tiger. Einer, vor dem die anderen zittern. Aber wir müssen auf ihn etwas besser aufpassen als bisher. Beschäftige ihn künftig stärker, Ben, und hab ein waches Auge auf ihn. Morgen werde ich ihn mir mal vorknöpfen – irgend etwas stimmt mit ihm nicht.“
Hasard verließ das Achterkastell. Doch noch auf dem Niedergang drehte er sich wieder um.
„Kein Fremder betritt das Schiff“, sagte er. „Verschärft die Wachen und beobachtet die Seeseite. Ich rechne mit allem, denn auch dieser Doughty ist einzig und allein hinter unserer Ladung her. Ich glaube sogar, er will sie haben, noch ehe ihm Kapitän Drake dabei in die Quere geraten kann. Aber er soll sich wundern!“
Hasard stieg zum Hauptdeck hinunter. An der Gangway stand Blacky. Auch Smoky und der riesige Ferris Tucker drückten sich dort herum. Vor ihnen stand der Fremde und wartete. Er hatte es nicht fertiggebracht, auch nur einen Fuß auf die „Isabella“ zu setzen.
Er sah Hasard und trat auf das Hauptdeck der anderen Galeone zurück.
„Sie sind Kapitän Killigrew?“ vergewisserte er sich. Und als Hasard mit einem knappen Nicken antwortete, wollte er weitersprechen: „Ich habe den Auftrag, Sie zu Sir Thomas Doughty ...“
„Ich bin bereit“, schnitt ihm Hasard kurz angebunden das Wort ab. „Fahren wir.“
Geschmeidig bewegte er sich über das Deck der Galeone, dann sprang er über das Schanzkleid und landete auf der Pier. Ohne sich im geringsten um den Hageren zu kümmern, ging er auf die Kutsche zu. Dabei erfaßten seine Augen den Mann auf dem Kutschbock – und insgeheim leistete Hasard Dan fast Abbitte. Dieser Kerl sah so wenig nach einem Kutscher aus wie der andere nach einem Lakaien. Hasard beschloß, von nun an sehr auf der Hut zu sein. Er wäre nicht der erste Kapitän gewesen, der während einer solchen Fahrt spurlos irgendwo im Hafen verschwand.
Er wartete an der Kutsche, bis der andere heran war. Dann erst stieg er ein. Der Hagere folgte ihm, zog die Tür der Kalesche hinter sich zu, und die Pferde zogen an.
Neil Griffith verstand es, eine Kutsche zu lenken. Er wendete kurz und wollte dann, wie mit seinem Partner O’Moore besprochen, schleunigst von der Pier in die engen Gassen der Stadt entschwinden. Bis zu jenem abgebrannten Haus, das sich ganz in der Nähe vom Hoe Park befand, von dem aus man die hochaufragenden Zitadelle sehen konnte.
Aber dann passierte es.
O’Moore und Griffith hatten mit ihrem Opfer die Pier noch nicht verlassen, als sich aus der Mill Bay Road eine vierspännige Kutsche näherte. Eine teure, reich verzierte Karosse, wie Neil Griffith auf den ersten Blick erkannte.
Er stieß einen Fluch aus, denn er wußte sofort, was das bedeutete. Es war die Karosse Sir Doughtys, die diesen Killigrew von der „Isabella“ abholen sollte.
Neil Griffith konnte nicht anders, er mußte der heranrumpelnden Karosse ausweichen, wenn ihn das schwere Gefährt nicht einfach über den Haufen fahren sollte. Er griff in die Zügel, riß die Pferde herum – und in diesem Augenblick löste sich hinter ihm in der Kutsche donnernd ein Schuß.
Neil Griffith spürte nur noch, wie ein Ruck durch die Pferde ging. Sie wieherten schrill auf, ihre Hufe trommelten auf das Pflaster und schlugen lange Funken aus den Steinen. Dann stoben die verängstigten Tiere in wilder Panik davon. Neil Griffith riß wie ein Wahnsinniger an den Zügeln – vergeblich, die Tiere reagierten überhaupt nicht.
O’Moore hatte die heranjagende Karosse Sir Doughtys nur Sekunden später erblickt als sein Komplice auf dem Kutschbock. Er saß neben Hasard, jedoch in der günstigeren Position.
Er wußte, daß durch dieses unvorhergesehene Ereignis ihr ganzer Plan in allergrößte Gefahr geriet, und er handelte sofort.
Mit vorgestreckten, zu Krallen gebogenen Händen warf er sich auf Hasard, der um den Bruchteil einer Sekunde zu spät reagierte. Die Hände O’Moores schlossen sich wie Stahlklammern um seinen Hals. Gleichzeitig traf ihn ein furchtbarer Kopfstoß unter das Kinn. Hasard sah für einen Moment nur noch feurige Kreise und flammende, nach allen Seiten zerplatzende Sterne.
Noch ehe er seine Benommenheit überwinden konnte, traf ihn ein zweiter Kopfstoß, diesmal seitlich gegen die Kinnlade. Hasard hatte für einen Moment das Gefühl, als würde ihm der Kopf vom Rumpf gerissen. Er begriff plötzlich, daß dieser Hagere ein ebenbürtiger Gegner war, ein Mann, der jeden Trick kannte und auch skrupellos genug war, ihn anzuwenden.
Hasard hatte die Hände frei, aber er war viel zu benommen, um sie wirksam und mit seiner ganzen gewaltigen Kraft einzusetzen. In seiner Verzweiflung zog er seine Pistole, und irgendwie löste sich dabei ein Schuß.
Der Knall, verstärkt durch die Enge der Kutsche, sprengte den Männern fast die Trommelfelle. Die Kugel durchschlug das Dach der Karosse und klatschte irgendwo ins Wasser.
O’Moore zuckte zurück. Für einen winzigen Augenblick lokkerte sich sein mörderischer Würgegriff um den Hals Hasards.
Dieser Moment genügte dem Seewolf. Er warf sich mit aller Kraft zur Seite und sein rechtes Bein schnellte hoch, während er bereits mit der Radschloßpistole zuschlug. Krachend traf der Hieb die Schulter O’Moores, und der Fußtritt schleuderte ihn quer durch den Fond der Kutsche. Genau in diesem Augenblick gingen die Pferde durch.
Hasard flog nach hinten in die Polster, auf der anderen Seite der Karosse brüllte O’Moore, denn der Hieb, den Hasard ihm verpaßt hatte, war einfach höllisch.
Die Kutsche schleuderte über das Kopfsteinpflaster, die Pferde wieherten schrill, irgendwo schrien Menschen.
Hasard wußte, daß er seinem Gegner keine Zeit für neue Aktionen geben durfte. Er stieß sich ab und warf sich auf O’Moore. Seine Fäuste bekamen O’Moore, der trotz des wahnsinnigen Schmerzes, der von seiner Schulter aus durch den ganzen Körper tobte, blitzartig zur Seite ausgewichen war, nur am linken Arm zu fassen. In der Kutsche war es dunkel, Hasard sah nichts. Er hebelte den Arm seines Gegners hoch und wollte ihn herumdrehen, da traf ihn ein mit voller Wucht geführter Hieb seitlich am Kopf.
Hasard spürte die schwarze Woge, die auf ihn zubrandete, aber er ließ nicht los. Er warf sich mit aller Kraft zurück und riß O’Moore, der das Gefühl hatte, sein Arm wäre in eine Bärenfalle geraten, mit sich. Die beiden Männer krachten gegen die Rückwand der Kutsche, und diesmal wuchtete Hasard sein Knie hoch, ließ den Arm fahren, schwang beide Fäuste hoch und ließ sie mit ineinander verschränkten Fingern auf O’Moore herabsausen.
Er hörte das dumpfe Stöhnen seines Gegners.
Seine weißen Zähne entblößten sich zu einem Grinsen, und er fühlte sich schon wieder viel besser.
„So, Freundchen!“ stieß er hervor. „Und jetzt werden wir beide uns ein wenig unterhalten!“
Er packte abermals zu, aber in diesem Moment begann die Kutsche wie irrsinnig zu schleudern.
Oben, auf dem Kutschbock, schrie Neil Griffith auf. Die Pferde brachen aus. Mit hervorquellenden und weit aufgerissenen Augen rasten sie direkt auf einen entgegenkommenden Frachtwagen zu. Verzweifelt zerrte Neil Griffith an den Zügeln, aber davon wurden die Pferde nur noch wilder. Sie brachen abermals aus, zur linken Fahrbahnseite diesmal, genau auf die Mill Bay zu, deren Hafenbecken an dieser Seite den Abschluß der Straße bildete.
Neil Griffith sprang. Sein stämmiger Körper löste sich vom Kutschbock, prallte auf das harte Pflaster und überschlug sieh ein paarmal.
Die Pferde rasten weiter. Eins von ihnen geriet mit den Hufen in eine herumliegende Taurolle und stürzte im Geschirr. Die Deichsel brach, das andere Pferd wieherte schrill auf, machte noch einen Satz und verschwand mit weit nach vorn gerecktem Hals in der Mill Bay.
Die Kutsche knallte gegen einen der großen Poller, an denen häufig Frachtkähne vertäut wurden. Ein entsetzlicher Ruck ging durch das Gefährt. Eins der Räder wurde samt Achse von der Kutsche abgefetzt. Die Kalesche überschlug sich, traf noch einen Mann, der nicht schnell genug ausgewichen war, und verschwand dann im hochaufspritzenden Wasser der Mill Bay.
Hasard und O’Moore flogen in der Kutsche von einer Ecke in die andere. Längst hatte Hasard sich zusammengerollt und schützte seinen Kopf mit den Armen. Der letzte Stoß, mit dem die Kutsche über die Kaimauer in das Hafenbecken schoß, katapultierte ihn gegen eine der Türen. Splitternd brach sie aus ihrer Verriegelung, und Hasard flog ins Freie. Fast gleichzeitig mit der Kutsche landete er im Wasser der Mill Bay.
Er spürte, wie er in die Tiefe sank, aber er war sekundenlang so benommen, daß er die Orientierung verlor und nicht imstande war, überhaupt irgend etwas zu tun.
Sein großer sehniger Körper streckte sich, fast automatisch vollführte Hasard schwache Schwimmbewegungen, und gleich darauf stieß er auf den Grund, der an dieser Stelle nicht sehr tiefen Mill Bay.
Immer noch benommen, tastete er in der ihn umgebenden Dunkelheit herum, aber dann begriff er seine Situation schlagartig.
Mit einem energischen Tritt stieß er sich vom Grund ab und tauchte Sekunden später auf. Prustend spuckte er Wasser und holte tief Luft. Er blickte sich um. Von der Kutsche war nichts mehr zu sehen.
Verdammt! durchfuhr es Hasard. In der Kutsche steckt möglicherweise noch dieser Kerl, der mich überfallen hat!
Er wollte tauchen, aber laute Rufe ließen ihn einen Moment zögern. Und dann huschte ein befreiendes Lächeln über seine Züge.
Da stürmten sie heran – allen voran Dan! Und das Bürschchen schrie von allen am lautesten. Gleich hinter ihm der riesige Ferris Tucker, der einen Belegnagel in der Faust schwang. Dann Smoky, der Kutscher, Pete Ballie, der Rudergänger und Matt Davies, der Mann mit dem Eisenhaken an der Rechten. Etwas weiter hinten erkannte Hasard im Schein der Straßenlaternen noch Stenmark und Gary Andrews, der ein langes Entermesser in der Rechten schwang.
Hasard wollte rufen, aber in diesem Augenblick hechtete Dan ins Wasser, mit einem Sprung, der einem Tiger alle Ehre gemacht hätte.
„Dan, hierher!“ brüllte der Seewolf mit Stentorstimme.
Das Bürschchen richtete sich im Wasser auf.
„He, Hasard, warte, ich komme! Hurra, Leute, er lebt, diese Ratten haben Hasard nicht geschafft!“
Dan warf sich wieder ins Wasser und schoß wie ein Delphin auf den Seewolf zu. Am Land brüllten die Männer vor Begeisterung, schwangen ihre Belegnägel und Entermesser und Pieken.
Dan hatte unterdessen Hasard erreicht, aber der ließ ihm gar keine Zeit zu lagen Fragen oder Begrüßungsreden.
„Dan, du tauchst besser als ich. Da unten liegt irgendwo die Kutsche. Dieser Kerl, der mich umbringen oder entführen wollte, steckt sicher noch drin. Sieh nach, aber beeil dich!“
Dan verschwand wie der Blitz. Sein schmächtiger Körper glitt durchs Wasser. Er fand die Kutsche sofort. Noch einmal schoß er an die Wasseroberfläche zurück, holte tief Luft und tauchte dann wieder.
Die Kutsche lag günstig. Mit seinen Fingerspitzen ertastete er die Öffnung an der Seite, aus der Hasards Körper die Tür herausgerissen hatte. Er glitt in das Gefährt. Da er nichts sehen konnte, tastete er blitzschnell die Sitze und den Boden der Kutsche wie auch die Dachfläche ab. Er fand nichts – der Mann, den er suchte, war nicht da.
Dan wurde die Luft knapp, er schoß nach oben. Dicht neben Hasard tauchte er auf.
„Nichts“, japste er. „Dieser Bastard ist nicht in der Kutsche. Vielleicht hat es ihn erwischt, und er liegt jetzt irgendwo auf dem Grund. Warte, ich sehe nach!“
Dan tauchte abermals, aber so sehr er sich auch bemühte, er fand nichts.
Als er zum drittenmal auftauchte, beendete Hasard die Suche.
„Laß es, Dan“, sagte er nur, „es hat keinen Zweck. Entweder ist er ertrunken, oder er hat sich abgesetzt, was für ihn auch das Gesündeste wäre. Denn wenn ich diesen elenden Mistkerl noch mal zwischen die Fäuste kriege, dann …“
Hasard sagte nicht, was er dann tun würde, aber Dan wußte es auch so.
Wenige Augenblicke später zogen Smoky und Ferris Tucker die beiden aus dem Wasser. Und genau in diesem Moment erscholl weiter hinten auf dem Kai wüstes Geschrei.
„Halt, Mann! Bleib stehen, du verdammter Bastard!“
„Das ist Stenmark, los, sehen wir nach, was da passiert ist!“
Hasard lief los, und die anderen folgten ihm.
Auch Patrick O’Moore hörte das Geschrei. In seinem Schädel schien zwar ein ganzes Kanonendeck ständig Breitseiten abzufeuern, aber O’Moore war zäh und außerdem ein äußerst gewandter und ausdauernder Schwimmer. Auch er hatte den Sturz der Kutsche einigermaßen überstanden, sich fast gleichzeitig mit Hasard aus der sinkenden Kutsche befreit und war, so schnell er konnte, davongeschwommen. In die Mill Bay hinaus, dort, wo ihn die Dunkelheit gegen Entdekkung schützte.
Voller Schrecken dachte er daran, daß möglicherweise Neil Griffith in die Hände Killigrews und seiner Leute gefallen sein könnte – und er wußte genau, was das bei einem Mann vom Zuschnitt des jungen Kapitäns bedeutete.
Er schwamm weiter, und zwar so leise, so schnell und so unauffällig, wie er konnte. Er konnte Neil Griffith jetzt nicht helfen. Er mußte sehen, daß er selbst so schnell wie möglich irgendwo an Land kam und sich trockene Kleider besorgte, wenn nötig, auch mit Gewalt. Patrick O’Moore war da nicht wählerisch.
Er verschwand im Dunkel der Nacht, während drüben am Kai wütende Rufe zu ihm herüberschallten. Doch dann richtete er sich plötzlich steil im Wasser auf.
„Oh, verflucht – das habe ich ja total vergessen“, murmelte er. Und in seinem Gehirn begann eine fieberhafte Tätigkeit. Alles war so verdammt schiefgegangen – und jetzt auch noch das. Er dachte daran, daß die „Isabella“ diese Nacht nicht überleben würde – gar nicht überleben konnte. Weder die Queen noch sonst irgend jemand würde die Silberbarren je erhalten, die tief im Rumpf der Galeone lagen.
Blitzartig durchdachte O’Moore alle Möglichkeiten. Aber da war nichts mehr zu ändern. Die Aktion war angekurbelt, und nicht nur das, sie lief bereits.
Er stieß einen wüsten Fluch aus. Denn jetzt konnte es geschehen, daß auch die wertvollen Karten vernichtet werden würden. Es war das erstemal, daß Patrick O’Moore ein Auftrag derartig danebengeriet.
Allen voran jagte der Schwede Stenmark durch die engen Gassen des Hafengebiets. Er schwang sein Entermesser und brüllte ununterbrochen aus Leibeskräften. Von Zeit zu Zeit erblickte er vor sich die schemenhafte Gestalt des Flüchtenden, der sich in geradezu unglaublichem Tempo bewegte. Meisterhaft benutzte er jede sich bietende Deckung, tauchte immer wieder in pechschwarze Schatten ein. Neil Griffith wußte, daß er um sein Leben lief. Es grenzte sowieso schon fast an ein Wunder, daß er diesen Kerlen von der „Isabella“ überhaupt entwischt war.
Stenmark hatte ihn gefunden. Sofort hatte er mit seinen mächtigen Pranken zugepackt und ihn vom Straßenpflaster hochgerissen. Neil Griffith war übergangslos hellwach gewesen, jede Benommenheit war schlagartig von ihm abgefallen. Er hatte alles in allem viel Glück gehabt, denn sein Sturz war glimpflich verlaufen.
Er spielte jedoch weiterhin den Benommenen, der noch halb ohnmächtig in den Pranken Stenmarks hing. Und dann, als sich der richtige Augenblick ergeben hatte, als der Schwede ihn zu den anderen schleifen wollte und schon ansetzte, um ihnen diese Neuigkeit zuzubrüllen, da hatte Neil Griffith ihm die Beine unter dem Körper weggetreten und gleichzeitig zugeschlagen. Der völlig überraschte Stenmark war zu Boden gegangen und hatte auch einige Sekunden gebraucht, bis er wieder auf den Füßen stand.
Aber da war Neil Griffith längst auf und davon – und der Flüchtende hörte nur noch das wilde Gebrüll der Männer hinter sich, die ihn jetzt durch die Hafengassen von Plymouth hetzten.
Immer wieder schlug er Haken, aber die Kerle waren einfach nicht abzuschütteln.
Doch dann hatte Neil Griffith Glück. Er gelangte an eine schmale, stockfinstere Gasse, in der keine einzige Lampe brannte. Er rannte hinein, stolperte völlig ausgepumpt ein paar Stufen empor, taumelte in eine zweite noch dunklere Gasse und verschwand schließlich in einem Torweg, in dem er nicht einmal die eigene Hand vor Augen sehen konnte.
Er ertastete einen Stapel von Fässern, und gleich darauf war er hinter den Fässern verschwunden.
Er hörte das Gebrüll des Schweden und die Rufe der anderen. Aber die Verfolger rückten nicht näher, sondern entfernten sich von Neil Griffith.
Griffith rutschte in sich zusammen. Nur ganz allmählich beruhigte sich sein Atem, hörten seine Pulse auf zu hämmern.
Diesmal war er noch entwischt. Aber was jetzt?
Hasard brach die sinnlose Jagd ab. Er kochte innerlich vor Zorn, daß ihm diese beiden Dunkelmänner durch die Lappen gegangen waren. Und dann durchzuckte ihn ein eisiger Schreck. Seine Radschloßpistole – sie mußte noch in der Kutsche liegen. Er dachte gar nicht daran, auf diese Waffe zu verzichten – jetzt war alles andere ohnehin schon egal.
Er griff sich Dan. Wenn überhaupt jemand Chancen hatte, diese kostbare Waffe wieder ans Tageslicht zu befördern, dann Daniel O’Flynn.
Das Bürschchen hörte nur kurz zu.
„Stimmt, ich habe da irgend etwas gefühlt, ich glaube, ich weiß, wo die Pistole liegt. Aber ich habe vorhin einfach nicht darauf geachtet, weil ich nach diesem verdammten Bastard suchte …“
Damit lief er auch schon los. Und der brauchte nicht lange. Triumphierend tauchte er wieder auf.
„Ich habe sie!“ schrie er, und seine helle Stimme, die sich noch im Stimmbruch befand, überschlug sich dabei.
Hasard nahm die triefnasse Waffe in Empfang.
„Das bringt dir eine Flasche vom besten Schottischen ein und noch mehr, Dan“, versprach er, und Dan grinste.
„Halte dich nur an mich. Hättest du auf mich gehört, als ich dir sagte, daß diese Kutsche für dich nicht taugt, daß diese Karre nicht nur eine Frechheit, sondern auch sonst noch alles Mögliche andere sei, dann brauchtest du dich jetzt nicht erst trokken zu legen. Denn die richtige Karosse dieses Sir Doughty steht vor der „Isabella“ an der Pier, und Ben Brighton hält die Leute fest.“
Dan warf sich in die Brust, gleichzeitig sah er, wie Hasard zusammenzuckte.
„Was sagst du da, Dan? Die richtige Karosse steht vor der „Isabella“ auf der Pier?“ Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
Er starrte über die Mill Bay, dorthin, wo er die beiden Galeonen wußte und auch die Umrisse ihrer Rümpfe und Takelage eben noch erkennen konnte. Also steckte hinter dieser ganzen Geschichte doch nicht Sir Doughty? Das war ja die Hölle! Eine andere Seite jagte also ebenfalls nach der Ladung der „Isabella“.
Die Seekarten fielen Hasard in diesem Moment nicht ein. Er wußte nur, daß er jetzt unter allen Umständen der Einladung Doughtys Folge leisten würde. Das wurde ja alles immer toller!
Er setzte sich in Bewegung.
„Dan, lauf los, sag Ben, daß ich trockene Sachen brauche, daß ich jetzt so schnell wie möglich zu Sir Doughty fahren werde.“
„Allein?“ fragte Dan, und in seinen Zügen stand überdeutlich die Hoffnung, daß Hasard ihn vielleicht mitnehmen würde.
„Allein, Dan. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen die Etikette, wenn ich dich mitnähme. Wir müssen uns aber benehmen, das erwartet Kapitän Drake von uns. Und im übrigen möchte ich, daß die Wachen ein höllisch scharfes Auge auf unser Schiff haben, während ich weg bin. Da ist noch eine andere Seite im Spiel, ein Gegner, den wir nicht kennen. Allmählich habe ich das Gefühl, daß unser Kampf mit den fünf Karavellen geradezu ein Kinderspiel war gegen das, was uns hier in Plymouth erwartet. Die Karavellen griffen uns offen an, dieser Gegner hier schlägt voller Heimtücke aus dem Dunkel und von hinten zu.“
Er versetzte Dan einen leichten Schlag auf die Schulter. „Los, lauf schon, Dan. Ich komme mit den anderen sofort nach.“
Dan war bei den letzten Sätzen Hasards nachdenklich geworden und sauste los. Doch weder er noch die anderen Männer der Besatzung konnten ahnen, was die „Isabella“ noch in dieser Nacht erwartete.