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Der Morgen des 26. Juli versprach einen Tag mit abermals klaren Sichtverhältnissen.

Old Donegal Daniel O’Flynn hatte soeben seinen Platz auf dem Achterdeck der „Empress of Sea“ bezogen und Martin Correa, der am Ruder stand, mit einem freundschaftlichen Schulterklopfen begrüßt. Es war fünf Uhr morgens. Sven Nyberg, die Zwillinge und Plymmie befanden sich noch unter Deck. Old Donegal kam nicht mehr dazu, Nils Larsen, dem Ausguck auf dem Vorschiff, ebenfalls einen Morgengruß zuzurufen.

Der alarmierende Ruf des Dänen löschte jäh alle anderen Gedanken aus.

„Kriegsschiffe Steuerbord voraus!“

Old Donegal knurrte einen Fluch, ruckte herum und riß das Spektiv an sich. Sekunden später hatte er das Bild, mit dem sie nun schon seit Tagen ständig gerechnet hatten.

Klar und deutlich zeichneten sich die Segel über der nordwestlichen Kimm ab.

„Sechs Schiffe!“ rief Nils Larsen. „Richtig?“

„Richtig“, erwiderte der alte O’Flynn knarrend, indem er weiter durch das Spektiv äugte. „Drei verdammte Galeonen, drei Karavellen und ein Haufen Kleinzeug.“ Er ließ das Spektiv sinken. „Denen zeigen wir schleunigst die Hacken, Martin. Los, los, Kurs auf die Schlangen-Insel!“

Correa ließ den kleinen Dreimaster abfallen, und dank seiner hohen Fahrt wurden die Segel über der Kimm sehr schnell kleiner.

Knapp vier Stunden später, gegen neun Uhr, erreichte die „Empress“ die Schlangen-Insel.

Am Strand der Innenbucht wurde Old Donegal von Hesekiel Ramsgate, Karl von Hutten und Pater David empfangen.

„Es ist soweit!“ brüllte der alte O’Flynn, noch während er aus dem von Martin Correa gepullten Boot kletterte und auf die Männer zustelzte. „Jetzt kriegen wir den schönsten Teufelstanz, Freunde.“ Atemlos blieb er vor den Wartenden stehen, die ihn anstarrten.

„Der spanische Verband?“ fragte Pater David grollend.

„So ist es“, entgegnete Old Donegal und nickte. „Allerdings fehlen drei Galeonen. Die Freunde werden wohl zugeschlagen haben.“

„Aber es ist ihnen nicht gelungen, den gesamten Verband aufzuhalten“, folgerte Hesekiel Ramsgate düster.

Old Donegal zog die Schultern hoch.

„Es bleibt nur eins“, sagte Karl von Hutten, „sofortige Evakuierung. Wie besprochen.“

Es gab keine andere Möglichkeit. Zügig wurden die Maßnahmen in die Wege geleitet, die während der letzten Besprechung des Bundes der Korsaren bis ins kleinste geplant worden waren.

Arkana und ihre Kriegerinnen und Krieger bezogen die vorgesehenen Verteidigungsstellungen rings um die Insel. Alle anderen, die sich nicht an den Kämpfen beteiligen würden, begaben sich an Bord der „Wappen von Kolberg“, die von Renke Eggens und einem Teil der Crew Arne von Manteuffels geführt wurde. Zu den Evakuierten gehörten Gotlinde, Gunhild, Mary O’Flynn und die Kinder.

Da alle Vorbereitungen rechtzeitig getroffen worden waren, lief die Evakuierung zügig ab. Bereits um zehn Uhr verließen die „Empress“ und die „Wappen“ die Schlangen-Insel und nahmen Kurs auf Coral Island.

Den Vereinbarungen entsprechend, wurde unterdessen auf der Schlangen-Insel der Gefechtsstand bezogen. Hesekiel Ramsgate, Pater David, Karl von Hutten und mehrere Männer aus der Werft-Crew erstiegen zu diesem Zweck das westliche Felsmassiv, das sich in langgezogener Formation von Norden nach Süden erstreckte. Bei dem Gefechtsstand handelte es sich um den höchsten Punkt der Insel, der einen freien Überblick nach allen Himmelsrichtungen ermöglichte. Gleichzeitig waren die Männer durch Felsblöcke und Barrieren, hinter denen sie sich verbergen konnten, vor Blicken von außerhalb der Insel geschützt.

Auch die einzelnen Positionen, die Arkana und ihre Kriegerinnen und Krieger bezogen hatten, waren ähnlich gut vor unerwünschten Blicken abgeschirmt. Wenn sich die Angreifer der Schlangen-Insel näherten, würden sie praktisch keine Menschenseele erblicken.

Stunden verrannen, ohne daß sich etwas tat.

Das änderte sich erst, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Karl von Hutten, der zu dieser Zeit die Beobachtung übernommen hatte, straffte plötzlich seine Haltung.

„Sie kommen!“ rief er. „Von Westen. Kein Zweifel, es ist der Verband.“

Geduckt pirschten sich die übrigen Männer an die Felsbarrieren heran und riskierten einen vorsichtigen Blick.

„In der Tat“, flüsterte Pater David, „sie erdreisten sich in der Tat, ein Gottesurteil heraufzubeschwören. Denn der Allmächtige wird diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht zulassen.“

Die übrigen Männer schwiegen. Zu sehr nahm sie das Geschehen in seinen Bann.

Nur die Mastspitzen des Verbandes waren zunächst über der westlichen Kimm zu erkennen. Noch segelten die Kriegsschiffe aus Havanna in Kiellinie.

Kurz darauf fächerten die Galeonen und Karavellen auseinander.

„Jetzt haben sie ihr Ziel erfaßt“, sagte Hesekiel Ramsgate gepreßt.

„Aber sie sollen ihr blaues Wunder erleben“, knurrte Pater David, „so wahr uns Gott helfe.“

In diesem Moment lösten sich die sechs Schaluppen von dem Verband und nahmen Direktkurs auf die Schlangen-Insel. Offenbar waren die Einmaster vorausgeschickt worden.

Durch Zuruf gab Karl von Hutten die Meldung vom Herannahen des Feindes an die nächste Verteidigungsstellung der Schlangenkriegerinnen weiter. Sehr rasch wurde auf diese Weise die alarmierende Nachricht weiterverbreitet, bis auch jene Verteidigungsposten informiert waren, die den anrückenden Verband nicht selbst sehen konnten.

Äußerst vorsichtig verhielten sich die Verteidiger der Schlangen-Insel jetzt. Sie riskierten bestenfalls, ihren Haarschopf über die Deckung hinauszuschieben. Die Hauptaufgabe der Beobachtung oblag ohnehin den Männern im Gefechtsstand.

Mittlerweile schwärmten die sechs Schaluppen aus. Offensichtlich hatten sie Order, die Insel von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Die sechs Kriegsschiffe hatten sich unterdessen halbkreisförmig von Westen nach Süden verteilt und waren mit auf gegeiten Segeln in Warteposition gegangen.

Regungslos verharrten die Männer in sicherer Deckung. Behutsam spähte Karl von Hutten über den zerklüfteten Felsbrocken, den er als Deckung benutzte. Flüsternd teilte er den Freunden mit, was sich außerhalb der Insel tat.

In der Tat umkreisten die Schaluppen das felsige Eiland. Dabei hielten sie ausreichenden Sicherheitsabstand und tasteten sich mit mäßiger Fahrt voran. Etwa eine halbe Stunde dauerte es, bis sich die in vorderster Position segelnde Schaluppe von der Westseite her nach Norden vorgearbeitet hatte.

Dann entdeckten die Spanier an Bord des Einmasters den Felsendom.

Die Schaluppe drehte bei.

Während Karl von Hutten dies schilderte, konnten sich die Männer in ihrem felsigen Versteck ein Grinsen nicht verkneifen – trotz der immer bedrohlicheren Situation, in die sie nun gerieten.

An Bord des Einmasters kriegten die Dons samt und sonders lange Hälse und stierten sich die Augen aus dem Kopf. Zwei von ihnen, die durch Spektive spähten, fingerten aufgeregt herum, offenbar, um die Scharfeinstellung zu verbessern.

Kein Zweifel, daß das, was sie erblickten, ausreichte, um sie buchstäblich aus dem Häuschen zu bringen. Sie konnten den größten Teil der Innenbucht mit ihren Stegen von Norden nach Süden überblicken. Und da war die einladende Passage durch den Felsendom. Offenbar kribbelte es ihnen mächtig in den Fingern, jetzt und auf der Stelle nach dem Rechten zu sehen.

„Wagt es nur“, flüsterte Pater David, „wagt es, und wir werden euch einen glühendheißen Empfang bereiten.“

Aber die Spanier überlegten es sich anders. Unvermittelt drehten sie ab und segelten nach Westen zurück, auf das Flaggschiff zu.

Voller Ungeduld wartete Capitán Don Garcia Cubera, bis der Schaluppenführer über die Jakobsleiter aufgeentert war. Und heftig winkte Cubera ab, als sich der Mann in militärisch strammer Haltung auf dem Achterdeck der „San José“ aufbaute und ebenso stramm salutieren wollte.

„Stehen Sie bequem, Mann“, sagte Cubera. „Reden Sie. Schnell, schnell.“

„Jawohl, Señor Capitán“, sagte der Schaluppenführer ehrerbietig. „Die Insel besteht größtenteils aus Felsen, die von See her nur schwer zugänglich sind. Es gibt aber eine große Innenbucht, die lediglich von der Nordseite her durch einen Felsendom zu erreichen ist. In der Bucht haben wir mehrere Stege und einen Strand gesehen. Ausreichende Liegeplätze für mehrere große Schiffe.“

„Und?“ bellte Cubera. „Was heißt das? Liegen in dieser verdammten Bucht Schiffe oder nicht?“

„Kein einziges, Señor Capitán. Es waren weder Schiffe zu sehen noch irgendeine Menschenseele. Die ganze Insel wirkt wie ausgestorben.“

Eben dies bestätigten kurz darauf auch die übrigen Schaluppenführer, die sich an Bord der „San José“ zur Meldung einfanden. Cubera entließ sie und dachte über das Gehörte nach. Er brauchte nichts zu überstürzen und hatte Zeit, den Angriff in aller Ruhe und wohlüberlegt durchzuführen.

Die Lage war mehr als rätselhaft. Kein einziges Schiff in der Inselbucht – nun, das konnte bedeuten, daß die Piraten ihren Schlupfwinkel aus einer Vorahnung heraus geräumt hatten. Die Stege deuteten letztlich darauf hin, daß es eine Ansiedlung geben mußte, wenn auch nichts Lebendes auf der Insel zu erkennen war.

Die Schaluppenführer hatten auch gemeldet, daß die Innenbucht durch den Felsendom von größeren Schiffen zu erreichen wäre.

Capitán Cubera gab sich einen innerlichen Ruck. Er mußte herausfinden, was diese überaus seltsame Lage zu bedeuten hatte. Kurz entschlossen preite er den Kapitän der Kriegsgaleone „San Gabriel“ an und befahl ihm, durch den Felsendom in die Bucht zu segeln und die Insel aus unmittelbarer Nähe in Augenschein zu nehmen.

Die Galeone setzte Segel, löste sich aus der Warteposition des Verbandes und ging auf Nordkurs.

Karl von Hutten ahnte, was jetzt folgen würde. Wenige Worte genügten zur Absprache mit den Gefährten. Dann huschte der Mann mit dem blonden Haar und dem indianischen Gesichtsschnitt davon. Von See her war er nicht zu sehen, als er nach Osten hin von der felsigen Höhe abstieg.

Etwa eine Viertelstunde brauchte er, um jenen schmalen Felsengrat zu erreichen, der dem Höllenriff nordwestlich vorgelagert war. Geduckt pirschte er sich voran. Nur kurz verharrte er, um sich von der Position der herannahenden Galeone zu überzeugen. Der Dreimaster befand sich jetzt westlich des Gefechtsstandes, in dem die Gefährten ausharrten.

Karl von Hutten setzte seinen Weg mit raubtierhafter Behendigkeit fort. An der nordwestlichen Innenseite des Felsendoms erklomm er das kegelförmige Massiv. Ein gefährlicher und schweißtreibender Aufstieg, den er jedoch zügig bewältigte.

Nach knapp zwanzig Minuten erreichte er jene kleine Plattform auf der östlichen Innenseite des Felsendoms, wo er seine Vorbereitungen getroffen hatte.

Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Schiff des Verbandes die Innenbucht zu erkunden versuchen würde, war leicht vorherzusehen gewesen.

In sicherer Deckung wartete Karl von Hutten, bis die Galeone das Kegelmassiv nordwestlich umrundet hatte und von Norden her auf den Felsendom zusteuerte. Noch eine Weile beobachtete er die Strömungsgeschwindigkeit des ablaufenden Wassers.

Dann, als er sicher war, den richtigen Zeitpunkt abgeschätzt zu haben, schickte er die Pulverfässer nacheinander auf die Reise.

Insgesamt acht Fässer waren es, die er sanft ins Wasser gleiten ließ. Die Fässer waren absolut wasserdicht, da man sie von oben bis unten verpecht hatte. Außerdem waren sie so sorgfältig getrimmt, daß sie kaum aus dem Wasser lugten. Nur die glimmenden Lunten ragten oben heraus. Doch das spielte keine sonderliche Rolle.

Karl von Hutten lächelte grimmig, als er das letzte Faß über die Felsenkante gleiten ließ. Es war bereits etwa zwei Uhr nachmittags. Die Sonne leuchtete also nicht mehr in den Felsendom. Dort, im Schatten, würden die Lunten kaum zu sehen sein.

Zweihundert Yards von der Einfahrt in den Felsendom entfernt, beschloß der Kapitän der „San Gabriel“, die vorgesehene Taktik geringfügig zu ändern. Er verfügte über eine ausreichende Mannschaftsstärke, um sich für alle Eventualitäten zu wappnen.

So ließ er eine große Jolle abfieren, die mit zwanzig Männern besetzt wurde. Ihre Aufgabe war es, der Galeone zu folgen und sofort nach Erreichen der Innenbucht zu landen, um gewissermaßen in einem Sofortschlag die etwa vorhandenen Ansiedlungen aufzurollen. Wenn es Verteidiger gab, würden sie in erster Linie damit beschäftigt sein, sich gegen die herannahende Galeone zu rüsten.

Dann segelte die „San Gabriel“ weiter auf den Felsendom zu, der sich für sie und ihre Besatzung als Tor zur Hölle erweisen sollte.

Der Mahlstrom hatte bereits beträchtlich an Kraft gewonnen. Doch es war der handige Nordost, der dem Rudergänger der Galeone half, auf Kurs zu bleiben und den Felsendom sicher anzusteuern. Indessen ahnten die Männer an Bord, daß es bei stärkerer Strömung unmöglich war, die Innenbucht zu erreichen. Eine höchst wirksame Abschirmung für die Piraten, die sich hier verborgen hielten.

Im Eingang des düsteren Felsendoms stieß ein Faß gegen den Vordersteven der Galeone. Gleich darauf trieben die übrigen Fässer heran und verteilten sich beidseits der Bordwände.

Die überwiegende Zahl der Decksleute, Seesoldaten und Offiziere spähte nach oben, in das feuchte Gewölbe, das sich über ihnen dehnte. Nur wenige warfen einen Blick über die Verschanzung nach unten. Die Funken, die dort auf der Wasseroberfläche sprühten, hielten sie für Reflexe verirrter Sonnenstrahlen.

Keiner der Männer ahnte, daß sie dem Tod ins Auge schauten, ohne ihn wahrzunehmen.

Dann, als sie etwa die Mitte des Felsendoms erreicht hatten, galt ihre ganze Aufmerksamkeit ohnehin der Bucht, die nun so greifbar nahe vor ihnen lag.

Es geschah in diesem Moment, in dem sie sich dem Ziel schon nahe glaubten.

Nahezu gleichzeitig explodierten die acht Pulverfässer – eins genau in Höhe der Pulverkammer.

Ein urgewaltiges Brüllen erfüllte den Felsendom. Grellrot stach der Feuerschein der Detonation seewärts und zur Bucht hin aus dem Dunkel.

Die Todesschreie der Besatzung gingen in dem alles verschlingenden Donner unter. Die „San Gabriel“ wurde buchstäblich in Stücke zerfetzt. Innerhalb von Sekunden tat sich der Höllenschlund auf, der das Schiff mit Mann und Maus hinabriß.

Über dem Felsendom erbebte das Gesteinsmassiv.

Karl von Hutten hatte seine Plattform bereits verlassen. Es grenzte an ein Wunder, daß der Felsendom nicht in sich zusammenkrachte.

Nur nach und nach versiegte das Grollen der Detonation. In der Strömung des ablaufenden Wassers trieben die Wrackteile auf die See hinaus. Niemand an Bord der „San Gabriel“ hatte die Fahrt in das Tor zur Hölle überlebt.

In panischer Hast, wie mit tausend Teufeln im Nacken, pullten die Männer in der Jolle nach Westen davon, zurück zum Verband, der ihnen Schutz vor dem Verderben gewähren würde …

ENDE

Seewölfe Paket 21

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