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Langsam, Schritt für Schritt, stapfte der ärmlich gekleidete Mann durch den mit Tang überhäuften Sand. Dabei hielt er sich immer dicht ans Wasser, seine Füße wurden mitunter durch die Ausläufer der Brandung überspült.

Das kantige und wettergegerbte Gesicht des Mannes wirkte ernst und angespannt. In seinem Gang lag ein Anflug von Nervosität. Von Zeit zu Zeit verharrte er und sicherte scheu wie ein Tier, dem der Jäger auf der Spur ist, nach allen Seiten. Hin und wieder bückte er sich und hob etwas auf. Nachdem er es kurz in Augenschein genommen hatte, ließ er es in dem derben Jutesack verschwinden, den er über der linken Schulter trug.

Jetzt, im Morgengrauen des 2. April 1593, erinnerte nicht mehr viel an den heftigen, auflandigen Sturm, der während der Nacht getobt hatte und wie ein Inferno über die samländische Westküste hinweggebraust war.

Vorbei war das Heulen und Pfeifen des Windes, vorbei das Tosen der Brandung und das Aufspritzen der Gischt. Die See hatte sich wieder beruhigt, die schwarzen Sturmwolken waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Die Sonne schob sich wie ein riesiger roter Ball am Horizont hoch und schickte sich an, die letzten grauen Dunstschwaden, die wie zerfetzte Tücher über der Wasserfläche schwebten, aufzulösen.

Fritz Strakuweit, so hieß der Mann, der den Strand absuchte, stammte aus dem kleinen Küstenort Palmnicken. Und er war auf der Suche nach Bernstein, jenem versteinerten Harz von Nadelbäumen längst vergangener Zeiten, das man auch das Gold der Ostsee nannte.

Der Sturm der vergangenen Nacht hatte ihn veranlaßt, schon im ersten Morgengrauen auf Bernsteinsuche zu gehen, denn gerade nach solchen auflandigen Stürmen gab es oft reiche Beute. Die Brandung hatte erhebliche Mengen „Kraut“, wie der Tang von den Einheimischen genannt wurde, von dem verhältnismäßig flachen Meeresgrund losgerissen und auf die Küste zugetrieben.

Ganze Tanginseln schwabberten an der Küste oder lagen bereits am Strand – bereit zum „Abernten“, denn man brauchte den Bernstein nur aus dem Seetang zu lesen.

Strakuweit war sich dennoch im klaren darüber, daß es eine recht gefährliche Arbeit war, die er da tat, denn die Bernsteine waren nach Meinung der Obrigkeit nicht zur Bereicherung des gewöhnlichen Volkes bestimmt. Sie standen ausschließlich dem Landesherrn zu, der seinerseits wiederum dem polnischen König abgabepflichtig war. Also führte man überall scharfe Kontrollen durch.

Wurde ein Einheimischer beim Abernten von Bernstein erwischt, dann war ihm das Bernsteingericht in Fischhausen sicher. Ein Sack voll genügte, um an einem der zahlreichen Galgen, die man für diesen Zweck an der Küste aufgestellt hatte, gehängt zu werden.

Der Morgenwind pfiff kalt über die flachen Küstenstriche. Der Mann fröstelte in seiner dünnen, an zahlreichen Stellen geflickten Kleidung. Aber seine graublauen Augen glänzten erregt, wenn er das „Gold der Ostsee“ im Tang schimmern sah.

Trotz seiner Wachsamkeit hatte Fritz Strakuweit noch nicht bemerkt, daß er bereits seit einer Weile beobachtet wurde. Drei Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen, und zwar von der Deckung des dornigen Strauchwerks aus, das sich oberhalb der Küste hinzog.

Die drei Soldaten, die dort kauerten, ließen sich Zeit für ihren Zugriff. Sie konnten von ihrem Versteck aus einen weiten Teil der Küste überblicken, der Bernsteindieb konnte ihnen nicht entwischen. Sollte er nur erst seinen Sack vollsammeln, dann würde sich ihr Zupacken wenigstens lohnen.

Jedesmal, wenn sich die einsame Gestalt am Strand bückte, um etwas aufzuheben, grinsten sich die drei Burschen an. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Sack, den der Mann mit sich herumschleppte, prall gefüllt war. Sie hatten Zeit, und immer, wenn der Bernsteinsammler weiterstapfte, zogen sie in der Dekkung der kahlen Sträucher und Sanddünen mit ihm – wie unsichtbare Schatten.

Dabei paßten sie genau jene Momente ab, in denen der Mann verhielt, um seine Blicke prüfend über den Strand wandern zu lassen. Sie zogen stets rechtzeitig die Köpfe ein und rührten sich nicht. Der Kerl in den zerschlissenen Hosen sollte ruhig das Gefühl haben, der einzige Mensch weit und breit zu sein.

Fritz Strakuweit bemerkte tatsächlich nicht, wie sich langsam, aber sicher, das Unheil über ihm zusammenbraute.

Als er nach Ablauf einer guten halben Stunde eine kleine Bucht erreichte, war der Jutesack so gut wie voll. Die Steine lasteten schwer auf seiner Schulter. Eigentlich wollte Strakuweit seine Sammlertätigkeit jetzt einstellen, um sich so rasch wie möglich über Schleichwege nach Palmnicken zurückzuziehen. Doch da wurde er von neuen Funden abgelenkt.

Die drei Soldaten, bei denen es sich unverkennbar um Polen handelte, registrierten das mit einer gewissen Genugtuung.

„Jetzt greifen wir zu!“ entschied der Anführer. Er war ein hagerer Bursche mit einem Raubvogelgesicht und einer rötlichen Messernarbe über der linken Wange. „Der verdammte Bernsteinräuber hat seinen Sack bis obenhin voll. Noch mehr von dem Zeug kann er nicht mehr unterbringen.“

„Dann schnappen wir ihn“, bemerkte ein anderer. „Solange er sich noch in Strandnähe aufhält, kann er uns nicht entwischen.“

Die drei Soldaten verteilten sich rasch, um Strakuweit von Norden, Osten und Süden her in die Zange zu nehmen. Einen Fluchtweg nach Westen gab es nicht, weil dort die See lag. Das Schicksal des Mannes schien besiegelt zu sein.

Mit schußbereiten Musketen pirschten sich die Soldaten an Strakuweit heran. Dabei half ihnen ein Zufall, der den Bernsteinsammler jegliche Wachsamkeit vergessen ließ.

Strakuweit stieß einen überraschten Laut aus, als er ein fast faustgroßes, glattgeschliffenes Stück im Seetang entdeckte – ohne Zweifel der größte und schönste Stein, den ihm der heutige Tag beschert hatte.

Entzückt starrte er seinen Fund an. Sein Herz schlug höher, als er bemerkte, daß es eine Anzahl von eingeschlossenen Insekten aufzuweisen hatte. Er wußte, daß gerade solche Stücke bei den Händlern und Aufkäufern besonders begehrt waren und einen dementsprechenden Preis brachten.

Noch immer blickte er wie gebannt auf den Stein und drehte und wendete ihn, um ihn von allen Seiten zu begutachten. Dabei war Strakuweit der See zugewandt, so daß er die drei Soldaten, die bereits ziemlich nahe an ihn herangelangt waren, nicht sah.

Erst das metallische Knacken der Musketenhähne riß ihn in die Wirklichkeit zurück.

Fritz Strakuweit erschrak fürchterlich. Er zuckte zusammen, als habe ihn ein Blitz getroffen. Sein Gesicht wirkte plötzlich verzerrt, als er – immer noch den Stein in der Hand haltend – die drei Soldaten erblickte, die ihre Musketenläufe drohend auf ihn gerichtet hatten. Die Augen des Mannes flackerten, und sein Atem ging rascher als sonst. Er wirkte in diesem Augenblick wie ein gejagtes Tier, das in die Falle seiner Häscher getappt ist.

Strakuweit begriff augenblicklich, daß seine Lage so gut wie aussichtslos war. Man hatte ihn umzingelt, so daß ihm von vornherein jeglicher Fluchtweg abgeschnitten war. Innerlich verfluchte er sich, weil er nicht wachsam genug gewesen war.

Er hatte sich zu sehr durch den fast faustgroßen Bernstein ablenken lassen, sonst hätte er die Soldaten zumindest früher bemerkt. Jetzt aber saß er in der Patsche, und zwar ganz gewaltig. Er konnte sich in allen Farben ausmalen, was ihm blühte: Man würde ihn in Fischhausen, das an der Nordbucht des Frischen Haffs lag, zum Tode verurteilen und an einen der Galgen hängen, die man zur Abschreckung an der Küste aufgestellt hatte.

Strakuweit stand wie angewurzelt und blickte in die grinsenden Gesichter der drei Soldaten. In ihren Zügen lagen Spott, Hohn und Triumph, dennoch entging ihm nicht, daß ihre Blicke begehrlich auf den Sack gerichtet waren.

„Her mit dem Zeug!“ befahl der hagere Bursche mit dem Raubvogelgesicht in hartem Deutsch.

Strakuweit reagierte mit Zorn und Trotz. Er riß den schweren Jutesack von der Schulter und warf ihn dem Polen vor die Füße.

„Nehmt die Steine!“ rief er mit zornbebender Stimme. „Euer sattgefressener König wird sich freuen, wenn er dadurch noch ein bißchen reicher wird!“

Der Hagere grinste unverschämt.

„Bei ihm ist das Zeug jedenfalls besser aufgehoben als bei Lumpenkerlen wie dir! Wie heißt es so schön? Man soll Perlen nicht vor die Säue werfen!“ Er lachte brüllend, und seine Kumpane stimmten in das Gelächter ein.

Aus Strakuweits Augen leuchtete plötzlich blanker Haß.

„Ich habe diese Steine nicht in Polen aufgesammelt, sondern in meiner eigenen Heimat!“ rief er. „Sie gehören den Menschen, die hier wohnen und darben und oft nicht wissen, wie sie ihre Frauen und Kinder ernähren sollen. Ihr aber würdet am liebsten noch den Nackten die Kleider ausziehen!“

Die Kerle lachten erneut.

„Hört, hört!“ rief der Hagere. „Der Kerl spuckt Töne, als wäre er selber ein König. Ich bin mal gespannt, ob er auch noch so eine große Lippe riskiert, wenn er erst in Fischhausen am Galgen zappelt. Hoffentlich zieht man ihm dort den Hals hübsch lang, damit er die Früchte seiner Arbeit auch richtig genießen kann!“

Fritz Strakuweit sah plötzlich rot.

„Ihr verdammten Schweinehunde!“ brüllte er. Dann senkte er den Kopf und warf sich dem Hageren entgegen. Seine Rechte umklammerte noch immer den großen Bernstein, den er jetzt als Waffe einzusetzen gedachte. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren – außer seinem Leben, und das war ohnehin verwirkt.

Die Polen ließen ihm jedoch keine Chance.

Noch bevor er den Hageren erreichte, versetzte ihm der Soldat, der rechts von ihm gestanden hatte, einen brutalen Kolbenstoß in den Nakken.

Er brach mit einem Aufstöhnen zusammen und fiel bäuchlings auf den nassen und glitschigen Seetang. Vor seinen Augen begann sich ein Rad aus feurigen Sternen zu drehen, unter seiner Schädeldecke klopfte und hämmerte es, als würde man ihn mit Schmiedehämmern bearbeiten. Doch er wurde nicht besinnungslos, sondern blieb wie gelähmt auf dem Gemisch von Tang und Sand liegen.

Die Stimmen der Polen drangen wie aus weiter Ferne an Strakuweits Ohren. Die Kerle unterhielten sich in ihrer Muttersprache, doch der niedergeschlagene Deutsche konnte sie verstehen. Trotz seiner Benommenheit registrierte er jedes Wort.

„Der hält uns tatsächlich für so blöd und glaubt, daß wir die Steine abliefern“, hörte er den Hageren sagen.

„Soll er doch glauben, was er will“, entgegnete ein anderer. „Ich für meinen Teil denke nicht daran, das Zeug der Krone in den Rachen zu stopfen. Fetten Gänsen soll man schließlich nicht die Ärsche schmieren!“ Er lachte meckernd.

„Der Meinung bin ich auch“, ließ sich der dritte im Bunde vernehmen. „Am besten, wir teilen das Zeug und pusten dem Kerl eine Kugel zwischen die Rippen. So haben wir wenigstens etwas davon. Wenn sie ihn in Fischhausen aufhängen, nutzt uns das wenig.“

„Wir sind uns also nach wie vor einig“, sagte der Hagere. „Auf was warten wir dann noch? Los, laßt uns die hübschen Steinchen brüderlich teilen, danach servieren wir den Lumpenkerl ab. Wir sind hier allein auf weiter Flur, es gibt keine Zeugen, und niemand kann uns was anhaben.“

Fritz Strakuweit krampfte die Fäuste zusammen. So langsam fühlte er, wie seine Bewegungsfähigkeit in ihn zurückkehrte. Sein Nacken schmerzte nach wie vor, aber das dumpfe Hämmern im Kopf hatte merklich nachgelassen.

Diese verdammten Schweinehunde! dachte er. Die hatten von Anfang an vor, sich selbst zu bereichern!

Eine ohnmächtige Wut strömte durch seinen Körper. Was konnte er tun? Die Kerle waren zu dritt und außerdem schwer bewaffnet. Er aber lag mit heftigen Schmerzen am Boden, fast so wehrlos wie ein neugeborenes Kind. Daß er nun doch nicht am Galgen enden sollte, war nur ein schwacher Trost für ihn, wenn er dafür eine Musketenkugel in Kauf nehmen sollte. Das Sterben bereitete weder auf die eine noch auf die andere Weise Spaß.

Hinter Strakuweits Stirn jagten sich die Gedanken. Er mußte auf jeden Fall versuchen, sein Leben zu retten, auch wenn seine Chancen sehr gering waren. Er wollte nicht einfach hilflos von den Halunken abgeschossen werden. Vielleicht gelang es ihm, sich wenigstens einen dieser Kerle zu schnappen und ihm die Muskete zu entreißen, während sich die anderen damit beschäftigten, den Sack voller Bernsteine unter sich aufzuteilen.

Ja, er mußte es versuchen, und zwar sofort.

Vorsichtig öffnete er die Augen eine Spaltbreite, um die Lage zu peilen.

Einer der Polen stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Es war derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte. Die beiden anderen, darunter der Hagere, stützten sich, auf ihre Musketen und schickten sich gerade an, den Sack auszuleeren.

Jetzt oder nie! sagte sich Fritz Strakuweit und warf sich trotz der aussichtslosen Lage und der stechenden Nackenschmerzen blitzschnell herum. Es gelang ihm, aufzuspringen. Dann warf er sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den Soldaten, der ihm am nächsten stand.

Dieser bemerkte den überraschenden Angriff des Deutschen verhältnismäßig früh und versuchte, seine Muskete herumzureißen und abzufeuern. Doch Strakuweits Hände hatten die Waffe bereits gepackt.

Während ein erbittertes „Tauziehen“ begann, wirbelten die beiden anderen Soldaten herum und brachten ihre Musketen in Anschlag. Aber sie konnten nicht schießen, ohne dabei ihren Genossen zu treffen.

Der Hagere schätzte die Lage sofort richtig ein. Er drehte seine Waffe um und packte sie am Lauf.

„Wir schlagen den Hund tot!“ zischte er wütend. Gleichzeitig stürmte er auf Strakuweit zu, der seinem Gegner gerade einen heftigen Tritt gegen das Schienbein verpasste.

Der Soldat stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, verzog sein Gesicht zu einer haßvollen Grimasse und ließ die Muskete reflexartig los.

Doch dieser Sieg nutzte dem Deutschen nichts mehr.

Die beiden anderen Polen erreichten ihn fast gleichzeitig. Dann schlugen sie hart mit den Kolben ihrer Waffen zu.

Strakuweits Hände wurden schlaff und ließen die erbeutete Muskete in den Sand fallen. Aus seinem Mund drang ein gurgelnder Laut, dann sank er blutüberströmt zu Boden. Die beiden Soldaten hatten ihn mit mehreren wuchtigen Hieben am Schädel erwischt, aus einer Platzwunde schoß Blut.

Fritz Strakuweit rührte sich nicht mehr. Sein Körper lag seltsam verkrümmt im Sand, die Augen waren geschlossen.

„Der hat genug“, sagte der Hagere. „Hätte gar nicht gedacht, daß der Kerl so gefährlich ist. Am besten, wir schnappen uns jetzt den Sack und verschwinden von hier. Teilen können wir auch noch woanders.“

„Soll ich ihm noch eine Kugel verpassen?“ fragte derjenige, der von Strakuweit angegriffen worden war.

„Nicht nötig“, erwiderte der Hagere, der noch einen raschen Blick auf den blutüberströmten Deutschen warf. „Der ist mausetot und klaut bestimmt keine Bernsteine mehr!“

Diese Feststellung des beutelüsternen Halunken sollte sich jedoch schon recht bald als folgenschwerer Irrtum erweisen.

Seewölfe Paket 17

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