Читать книгу Seewölfe Paket 6 - Roy Palmer - Страница 16

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„Hölle! Muß ich dir erst mit Feuer den Hintern ansengen, bis du das verdammte Herdfeuer ankriegst?“

Kopfschüttelnd beobachtete der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella VIII.“ die Bemühungen des Schiffsjungen Bill, das Kombüsenfeuer in Gang zu bringen.

Der schlanke schwarzhaarige Junge grinste sich eins: er war lange genug auf der „Isabella“, um wüste Flüche und noch wüstere Drohungen nicht mehr so ernst zu nehmen. Der Kutscher widmete ihm noch einen vernichtenden Blick, griff nach seinen Bratpfannen – und stieß im nächsten Moment einen erbitterten Fluch aus.

Die „Isabella“ holte schwer nach Steuerbord über.

Pfannen flogen durch die Kombüse, in den Schapps begannen Flaschen und Vorratsbehälter zu tanzen. Der Kutscher warf sich hastig über sein Kochgeschirr, um zu verhindern, daß die schweren Eisenpfannen durch die Kombüse segelten.

Gleichzeitig dröhnte vom Achterkastell die Stimme Philip Hasard Killigrews herüber.

„Gei auf Marssegel! Fier weg Fock und Großsegel!“

„Aye, aye!“ ertönte die Antwort Ben Brightons.

„Aye, aye!“ brüllten die Männer, die bereits zu ihren Stationen an Brassen und Fallen eilten.

Von einer Sekunde zur anderen wurde es an Deck lebendig, jähe Erregung zerbrach die Eintönigkeit des Tropen-Nachmittags. Bill blitzte durch die Kombüse, um einen Blick aus dem Schott zu werfen – und was er sah, ließ ihn unwillkürlich den Atem anhalten.

Der Wind war umgesprungen und wehte plötzlich aus Lee. Die Segel klatschten gegen Wanten und Stage, als eine bösartig heulende Bö sie über den anderen Bug faßte. Wolkenfetzen jagten am eben noch klaren Himmel dahin. Mit aufgerissenen Augen starrte Bill über die aufgewühlte See, die plötzlich tiefschwarz geworden war.

Der Seewolf stand hoch aufgerichtet auf dem Achterkastell.

„Fier weg Besan!“ schrie er. „Nicht so lahm, Kreuzdonnerwetter noch mal!“ Und scharf wie ein Peitschenhieb: „Wasserhose querab Backbord!“

Bill warf den Kopf herum.

Fast hätte er aufgeschrien, so gespenstisch war der Anblick des aufgewühlten Horizonts. Ein furchterregendes Ungeheuer schien auf die „Isabella“ zuzurasen, ein schwankendes, sich windendes Etwas, das rasend schnell dahinwirbelte, alles ringsum in undurchdringliche Schwärze hüllend. Es sah aus, als habe sich die See in wilder Wut aufgebäumt, als stürzten sich die schwarzen Wolken aus dem Himmel auf das Wasser, um es zu sich emporzureißen.

Schwarz und drohend tanzte die riesige Säule heran, eine Ausgeburt der Hölle, ein gieriges Untier, das alles verschlingen würde, was ihm in den Weg geriet.

Wie gelähmt vor Entsetzen erkannte Bill, daß die tückischen Windströmungen und der Druck der sich steil auftürmenden Dünung die „Isabella“ genau auf die unheimliche Erscheinung zudrückten.

„Weg mit dem Besan!“ ertönte Hasards Stimme.

Gleichzeitig ließ der dröhnende Baß des Profos Bill zusammenzukken: „Hopp-hopp, ihr lahmen Kakerlaken! Werft das verdammte Fall los, oder ich zieh’ euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen! Manntaue spannen! Luken verschalken, Ferris, oder der Kahn kriegt den Bauch voll Wasser! Himmelarsch, wollt ihr euch wohl bewegen, ihr verdammten …“

Das Heulen des Sturms verschluckte den Rest der Worte. Die Seewölfe hätten sich auch ohne Carberrys Flüche bewegt: sie kannten den tückischen Feind, der da auf sie zujagte.

Bill flitzte über die Kuhl, um beim Durchholen der Strecktaue zu helfen. Krachend schlug die schräge Gaffelrute des Besans an Deck, als Bob Grey und Sam Roscill das Fall loswarfen. Stenmark, Batuti und Matt Davies hingen wie die Klammeraffen am Bugspriet, um die wild schlagende und sich blähende Blinde aus dem Wind zu reißen und festzuzurren. Und im Großmars hockten Donegal Daniel O’Flynn und Arwenack, der Schimpanse – wie gelähmt von dem geisterhaften Schauspiel und unfähig, sich von dem Anblick loszureißen.

„O’Flynn!“ brüllte der Seewolf. „Hast du den Verstand verloren?“

Dan zuckte zusammen, dann schwang er sich hastig über die Segeltuchverkleidung der Plattform und enterte ab. Der Schimpanse folgte ihm und keckerte angstvoll. Hasards Augen hatten sich zu schmalen, eisblauen Sicheln verengt, als er herumschwang und mit drei Schritten zum Ruderhaus stürmte, um das Rad zu übernehmen. Immer noch trieb die „Isabella“ auf die Wasserhose zu, von tückischen Kreuzseen geschüttelt, auch ohne Segel Fahrt laufend. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde das schwarze, wirbelnde Seeungeheuer genau auf das Vorschiff treffen.

„Verdammt!“ brüllte Ben Brighton, was bei diesem ruhigen, beherrschten Mann etwas heißen wollte. „Das Ding saugt uns geradewegs in die Hölle, wenn wir da durchlaufen.“

„Wir werden durchlaufen!“ schrie Hasard zurück. „Scheuch die Leute unter Deck, Ben, schnell!“

„Aber …“

„Unter Deck mit euch! Sind wir hier ein Debattierklub? Ferris, ein Tau her! Lasch mich fest, aber Tempo, zum Teufel!“

„Aye, aye, Sir …“

Der rothaarige Schiffszimmermann hangelte sich mühsam den Niedergang zum Achterkastell hinauf. Ben Brighton sprang auf die Kuhl und klammerte sich an den ausgespannten Tauen fest.

„Alle Mann unter Deck!“ gellte seine Stimme, während das Tosen und Heulen des Sturms zum rasenden Inferno anschwoll.

Hasards Fäuste umspannten die Speichen des Ruders. Sein Blick hing an der schwankenden Säule der Wasserhose, während ihn Ferris Tucker mit fliegenden Fingern im Ruderhaus festband, damit er nicht über Bord gespült werden konnte. Protestierende Stimmen wurden laut. Und dann ein Gebrüll, das mühelos das Toben der Elemente übertönte: Ed Carberry, der eisenharte, salzgewässerte Profos, der diesmal schneller als selbst Ben Brighton begriff, was die Stunde geschlagen hatte.

„Unter Deck, ihr verlausten Affen! Schneller, ihr Rübenschweine, oder ihr werdet gleich auf dem Meeresgrund spazierengehen! Kutscher, wenn du mißratener Kombüsenzwerg das Feuer nicht gelöscht hast …“

„Ich bin doch nicht blöd, du Steinzeitmensch!“ schrie der Kutscher empört. „Kümmere du dich um deinen Kram!“

Der Profos stieß einen Laut aus, bei dem es der Kutscher vorzog, ganz schnell zu verschwinden.

„Ab, Ferris!“ schrie Hasard auf dem Achterkastell. Der rothaarige Hüne holte Luft, aber ein Blick in das wilde, verzerrte Gesicht des Seewolfs ließ ihn verschlucken, was er eigentlich hatte sagen wollen.

Binnen Minuten war der letzte Mann unter Deck verschwunden.

Hasard stand am Ruder und hielt mit eisernen Fäusten die schlingernde, stampfende Galeone mit dem Kopf schräg zur Dünung, damit sie nicht quer zwischen Die Wellenberge geriet. Undurchdringliche Schwärze schien die „Isabella“ zu verschlingen, die schwankende Säule der Wasserhose ragte vor dem Schiff auf wie eine gigantische Geistererscheinung.

Der Seewolf biß die Zähne zusammen. Seine blauen Augen funkelten, das schwarze Haar flatterte im Wind. Verbissen starrte er zu dem wirbelnden Ungetüm hinauf, das die „Isabella“ im nächsten Moment zerschmettern mußte, und wartete auf den entscheidenden Moment, auf den Augenblick, in dem die Wasserhose in sich zusammenfiel, weil das große Schiff den Rhythmus der in ihr wirkenden Luftströmungen zerstörte.

Jetzt war es soweit!

Eine Gigantenfaust schien das Vorschiff der „Isabella“ zu packen und schleuderte sie herum.

Die rotierende Säule der Wasserhose neigte sich und begann wie ein verwundetes Tier zu taumeln. Einen Augenblick beugte sie sich gleich einem riesenhaften Geisterwesen über die stampfende, torkelnde Galeone, dann brach sie wie von einem Hieb zerrissen in sich zusammen.

Kein Mensch hätte sich unter der Gewalt der herunterprasselnden Wassermassen an Deck halten können.

Die „Isabella“ tanzte wie ein Korken unter einem Wasserfall. Schwarzes, schimmerndes Wasser ging wie ein Vorhang nieder, hüllte das Ruderhaus ein, ließ Holz bersten und Wanten und Stage wie Spinnweben zerreißen. Treibholz krachte auf die Planken, Tangstreifen, zerfetzte Fischkörper – alles, was die Wasserhose in ihrem unwiderstehlichen Wirbel emporgerissen und in sich eingesaugt hatte.

Hasard glaubte jeden Moment, das Ruderhaus werde über seinem Kopf zusammenbrechen. Längst gehorchte das Schiff dem Ruder nicht mehr, die letzten Fetzen des Sturmsegels flogen dem Seewolf um die Ohren. Sturzseen überspülten ihn und ließen die straff gespannten Taue ächzen, die ihn festhielten. Ringsum war die Dunkelheit jetzt fast undurchdringlich. Dichte schwarze Wolken trieben über die „Isabella“ weg, und als seien sie von den Mastspitzen der Galeone aufgerissen worden, öffneten sie ihre Schleusen.

Übergangslos wurde das Toben der zusammenfallenden Wasserhose von einer Regenflut abgelöst, die dem Schiff kaum weniger zusetzte.

Hilflos torkelte die „Isabella“ in der Dünung. Minuten dehnten sich und wurden zu höllischen Ewigkeiten. Im Chaos der kreuz und quer laufenden Strömungen begann sich die Galeone wie ein Kreisel zu drehen. Brecher hämmerten auf die Bordwände ein, spülten über die Decks, nahmen zersplitterte Spieren, tote Fische und wirre Knäuel gebrochener Strecktaue mit. Grün schimmernde Brecher, wie Hasard feststellte. Querab von der schwankenden, schlingernden Galeone zeigte sich ein Streifen blaßgrauer Helligkeit, der erbarmungslos das ganze Chaos an Bord enthüllte und zugleich das Ende der Katastrophe ankündigte.

Die Regenflut hörte so plötzlich auf, wie sie eingesetzt hatte.

Jäh riß die Wolkendecke auf.

Die letzten Sturmböen fegten den Himmel leer, die Sonne brach hervor, die See beruhigte sich, als sei überhaupt nichts geschehen. Der Wind schlief ein. Nicht der leiseste Hauch einer Brise war mehr zu spüren – und die Männer, die jetzt wieder an Deck auftauchten, starrten schwer atmend und mit ungläubigen Augen in die Runde.

Selbst Ed Carberry vergaß das Fluchen.

„Bei allen Wassermännern“, murmelte er verblüffend leise. „Das ist ja Zauberei, das …“

Er stockte abrupt. Sein Blick war auf die Verwüstung an Deck gefallen. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, als hoffe er, daß die Vision verschwinden würde, dann stieß er einen abgrundtiefen Seufzer aus.

„Teufel, Teufel“, flüsterte er.

Das war sein einziger Kommentar. Er drohte nicht einmal, den Männern die Haut abzuziehen und die Streifen an den Mast zu nageln, wenn sie nicht augenblicklich mit dem Aufklaren anfingen.

Philip Hasard Killigrew wischte sich das triefende Haar aus der Stirn und löste die Taue, mit denen er festgebunden war.

Er war naß wie eine aus dem Wasser gezogene Katze, und er hatte ein paar Schrammen an Gesicht und Armen, wo ihn herumwirbelnde Splitter und Trümmerstücke gestreift hatten. Sein Blick wanderte über das Durcheinander. Die Fockmarsrah existierte nicht mehr, das Steuerbord-Hauptwant bestand aus Fetzen, das Kombüsenschott war Kleinholz. Eine der schweren Culverinen hing buchstäblich an einem Faden: das Brooktau drohte jede Sekunde zu brechen.

Hasard verzichtete darauf, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn sich die Kanone selbstständig gemacht hätte. Mit einem tiefen Atemzug laschte er das Ruder fest und trat an die Schmuckbalustrade.

„Klar Schiff überall“, sagte er in die atemlose Stille hinein. „Al, würdest du freundlicherweise dafür sorgen, daß die verdammte Kanone da drüben nicht über Bord geht? Kutscher, Bill, ab in die Kombüse! Ferris, du …“

„Wasser im achteren Laderaum“, meldete Ferris Tucker, der bereit einen ersten Kontrollgang unternommen hatte. „Die Luke war gut verschalkt, aber jetzt sieht sie trotzdem aus wie Brennholz.“

„Hauptsache, der Kahn ist nicht leck. Klar bei Lenzpumpen! Dan – in den Großmars mit dir! Nimm den Kieker mit und sieh zu, ob du den schwarzen Segler sichtest.“

„Aye, aye, Sir!“

Donegal Daniel O’Flynn wollte besonders schnell sein und griff blindlings hinter sich nach der Webleine. Er griff ins Leere, weil das Steuerbord-Hauptwant keine Webleinen mehr hatte. Erschrocken schrie Dan auf, als er das Gleichgewicht verlor. In der nächsten Sekunde prallte er unsanft auf den Achtersteven und schnitt ein ziemlich verdattertes Gesicht.

Brüllendes Gelächter löste die Spannung.

„Donegal Daniel O’Flynn“, sagte Hasard sanft, „wenn du genau hinsiehst, wirst du entdecken, daß man notfalls auch über die Backbordwanten in den Großmars entern kann.“

Dan turnte wie ein geölter Blitz über die Nagelbank und enterte auf.

Al Conroy, der Stückmeister, hatte die Culverine mit dem beschädigten Brooktau klariert und ging daran, die restlichen Geschütze zu kontrollieren. Ed Carberry brüllte, fluchte, drohte mit sämtlichen Strafen der Hölle und noch ein paar anderen, bei denen der Teufel vor Neid erblaßt wäre, und jeder einzelne der Männer wurde plötzlich ungeheuer emsig.

„Dan!“ schrie Hasard zum Großmars hoch. „Kannst du den Schwarzen Segler entdecken?“

„Keine Spur, Sir!“ rief Donegal Daniel O’Flynn zurück. „Die See ist so leer wie …“

Er stockte abrupt.

Hasard runzelte die Stirn und wartete. Er glaubte, daß Dan nun doch die schwarzen Segel des „Eiligen Drachen über den Wassern“ gesichtet hätte. Siri-Tong und der Wikinger hatten mit dem Viermaster etwas zurückgehangen, als urplötzlich der Sturm über die „Isabella“ hereingebrochen war. Nach Hasards Meinung konnte der Schwarze Segler nicht viel abbekommen haben, von der Wasserhose schon gar nicht. Sobald es aufbriste, würde er wieder erscheinen, aber vorerst war es etwas anderes, das Dans scharfe Augen erspäht hatten.

„Deck!“ schrie der junge O’Flynn. „Boot Backbord querab. Der Kahn treibt kieloben! Scheint so, als hinge da jemand über den Planken.“

„Was heißt hier ‚scheint so‘, du grüner Hering?“ fluchte der Profos. „Reiß gefälligst deine Klüsen auf und …“

„Mann und gekentertes Boot ein viertel Strich Backbord querab!“ meldete Dan exakt. „Die Dünung treibt den Kahn auf uns zu.“

Hasard stand bereits am Backbord-Schanzkleid.

Inzwischen war das Boot auch mit bloßem Auge zu erkennen: eine winzige Nußschale, im Sturm gekentert, im Grunde nur noch ein trauriger Überrest mit geborstenen Planken und halb abgerissenem Kiel.

Der Mann, den Dan O’Flynn gesichtet hatte, schien sich mit letzter Kraft an das umgeschlagene Fahrzeug zu klammern. Er lag halb über dem zerfetzten Kiel, mit ausgebreiteten Armen. Erst nach Minuten hob er mühsam den Kopf, starrte zu der ranken Galeone herüber und bewegte die Hand in einer matten Geste, die vermutlich ein Winken darstellen sollte.

Im Großmars spähte Dan O’Flynn angestrengt durch das auseinandergezogene Spektiv.

„He!“ schrie er so schrill, als sei er wieder in den Stimmbruch zurückgefallen. „Der sieht ja wie der leibhaftige Tod aus!“

„Willst du ihn deshalb absaufen lassen?“ fragte Hasard trocken. „Setzt Großsegel und Fock! Pete, du übernimmst …“

„Klar Ruder!“ meldete Pete Ballie, der längst seinen Platz eingenommen hatte und über beide Ohren grinste.

„An die Brassen und Fallen! Anluven! Und hoch mit dem Besan, Himmeldonnerwetter noch mal!“

Segeltuch entfaltete sich, begann sich träge unter dem kaum wahrnehmbaren Windhauch zu füllen. Die „Isabella“ schwang schwerfällig herum und erinnerte in diesen Sekunden wahrlich mehr an eine altersschwache Ente denn an einen stolzen Schwan. Aber immerhin: sie bewegte sich und glitt dem kieloben treibenden Boot entgegen.

Minuten später konnte auch Hasard den Mann genauer sehen, der sich an das Wrack klammerte – eine ausgemergelte, sonnenverbrannte Gestalt in zerfetzten Lumpen.

Sein Schädel war völlig kahl. Ein schmaler, knochiger Schädel, über dem die gelbliche Haut zu spannen schien, große, düster brennende Augen, ein verzerrter Mund, dessen Oberlippe von einer Narbe nach oben gezogen wurde, als blecke er ständig die Zähne. Knapp über der linken Schläfe klaffte eine handspannenlange, bereits vernarbende Wunde, die schmale, scharf gebogene Nase sprang vor wie ein Geierschnabel.

Dan O’Flynn hatte recht: der Bursche sah wirklich wie der leibhaftige Tod aus.

Aber er war ein Mensch und brauchte Hilfe.

Hasard schüttelte mit einer ungeduldigen Bewegung das unbehagliche Gefühl ab, das ihn beim Anblick des Schiffbrüchigen zu beschleichen drohte.

Ein paar Minuten später wurde auf der „Isabella“ das Beiboot abgefiert, weil der Bursche mit dem Totenkopf-Gesicht offenbar nicht mehr in der Lage war, aus eigenen Kräften an der Jakobsleiter aufzuentern.

Ferris Tucker und Stenmark hievten den Mann ins Boot. Die kieloben treibende Nußschale nahm Matt Davies mit seiner Hakenprothese in Schlepp. Der Kahn war zwar nur noch ein Wrack, aber noch hatten die Seewölfe keine Gelegenheit gehabt, die restlichen Boote der „Isabella“ zu überprüfen, und falls die Wasserhose größere Schäden angerichtet hatte, konnte man die Reste des halb zerfetzten Fahrzeugs vielleicht noch für die notwendigen Reparaturen gebrauchen.

Ferris Tucker brauchte keine Hilfe, um die ausgemergelte, zerlumpte Gestalt an Bord zu schaffen.

Der Bursche war nicht bewußtlos, aber er war auch nicht bei klarem Verstand. Seine aufgerissenen, brennenden Augen starrten ins Leere und schienen nicht wahrzunehmen, was um ihn geschah. Eben noch, als er an seine gekenterte Nußschale geklammert auf die „Isabella“ zugetrieben war, hatte er sich wenigstens zu einem matten Winken aufgerafft. Jetzt schien ihn der letzte Funke von Kraft verlassen zu haben. Der Himmel mochte wissen, wie lange er schon in dem kleinen Boot getrieben war, bevor die Ausläufer des Sturms ihn erwischten.

Vorsichtig ließ Tucker den Mann auf die Planken der Kuhl gleiten und lehnte ihn mit dem Rücken gegen das Schanzkleid. Der hünenhafte Schiffszimmermann fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das brandrote Haar und blickte auf das jämmerliche Bündel Mensch hinunter. Ed Carberry kratzte sein zernarbtes Rammkinn, schüttelte den Kopf und holte Luft, daß sich sein mächtiger Brustkasten dehnte.

„Kutscher!“ brüllte er, ehe Hasard etwas sagen konnte. „Komm her, du lausiger Quacksalber! Es gibt Arbeit!“

„Arbeit habe ich, auch ohne daß du großmäuliger Decksaffe …“ Der Kutscher verstummte abrupt.

Mit einer riesigen gußeisernen Pfanne in der Faust stand er im Kombüsenschott und riß die Augen auf. In seinem Allerheiligsten sah es aus, als hätte eine Horde Gorillas mit einem Elefanten gekämpft, daher war ihm im Eifer des Gefechts entgangen, was sich inzwischen abgespielt hatte. Jetzt starrte er verblüfft auf die Szene, wollte sich am Kopf kratzen und schlug sich dabei fast selbst die Bratpfanne um die Ohren.

„Klapp den Mund zu, bevor du dir den Gehirnkasten erkältest“, knurrte Carberry. „Der Kerl hier hat den Sturm in ’ner Nußschale abgeritten. Sieh nach, was die Wasserhose von ihm übriggelassen hat, aber ein bißchen plötzlich.“

Normalerweise war der Kutscher nicht auf den Mund gefallen, auch wenn er sich gelegentlich etwas gewählter ausdrückte als die anderen. Dem Arzt Sir Freemont aus Plymouth, bei dem er Kutscher gewesen war, bevor ihn eine Preßgang auf Francis Drakes „Marygold“ verschleppte, hatte er nicht nur einiges über die Wundbehandlung, sondern auch feine Manieren abgeschaut, die er dann allerdings rasch vergaß, weil sie nicht recht für salzgewässerte Schiffsplanken taugten. Jetzt besann er sich sichtlich auf seine Würde als höchste medizinische Instanz an Bord. Wo es darum ging, Blessuren zusammenzuflicken und Halbtote wieder auf die Beine zu bringen, da hatte er das Sagen – und da mußte notfalls sogar der eiserne Profos den Mund halten.

Der Kutscher besah sich die reglose, ins Leere starrende Elendsgestalt am Schanzkleid und gab nicht zu erkennen, daß auch ihm die Totenkopf-Physiognomie des Burschen unheimlich war.

„Hol mal die Rumflasche und den kleinen braunen Lederbeutel aus der Kombüse, Ed“, sagte er sanft. „Und bring auch gleich eine Muck mit, ja?“

„Du hast wohl einen Furz im Hirn, du …“

„Ed!“ sagte Hasard nur.

Der Profos schnaufte erbittert. Immerhin sah er ein, daß der Umgang mit der Rumbuddel aus den Geheimvorräten des Kutschers eine verantwortungsvolle Aufgabe war, die durchaus der moralischen Standfestigkeit des Zuchtmeisters bedurfte. Mindestens ein halbes Dutzend Männer hatten sich schon gestrafft, um sich freiwillig zu melden, Garantiert in der edelmütigen Absicht, die Qualität des Rums zu prüfen, bevor man den bedauernswerten Schiffbrüchigen damit traktierte.

Ed Carberry hielt das ebenfalls für eine ausgezeichnete Idee. Allerdings konnte er sie jetzt nicht mehr reinen Gewissens in die Tat umsetzen, da er sich sozusagen selbst durchschaut hatte. Fluchend und brummend verschwand er in der Kombüse, während der Kutscher neben dem Schiffbrüchigen niederkniete und ihn leicht an der Schulter rüttelte.

Der Mann reagierte nicht.

Seine dunklen, brennenden Augen waren weit aufgerissen, der seltsam starre Blick schien durch alles hindurchzugehen. Dicht vor diesen unheimlichen Augen schnippte der Kutscher mit den Fingern und nickte nachdenklich, als sich die Pupillen sekundenlang verengten.

„Blind ist er nicht“, stellte er fest, „aber halb verdurstet. Wahrscheinlich hat ihn die Sonne verrückt gemacht.“

„Du meinst, er hat den Verstand verloren?“

Der Kutscher nickte zögernd. Hasard starrte in das ausgemergelte Gesicht, dessen verbrannte Haut sich wie dunkles, brüchiges Pergament über den Knochen spannte. Der Mann starrte ins Leere. Und da die tiefe rote Narbe seine Oberlippe nach oben zog und die Zähne freilegte, sah es aus, als liege auf seinen Zügen ein ständiges teuflisches Grinsen, das der völlige Mangel an Ausdruck um so unheimlicher wirken ließ.

„Ein Jonas!“ flüsterte Blacky schauernd.

Hasard fuhr herum. Er sah gerade noch, wie sich Smoky, Decksältester und abergläubischster Mann der Crew, verstohlen bekreuzigte. Old Donegal Daniel O’Flynn spuckte über die Schulter und scharrte angelegentlich mit seinem Holzbein, als er den Blick des Seewolfs spürte. In Hasard war schlagartig wieder die Erinnerung an den Ärger mit dem unheimlichen „Jonas“ in der Karibik wachgeworden, und der Gedanke, daß ihnen etwas Ähnliches bevorstehen könne, ließ seine eisblauen Augen gefährlich glitzern.

„Blacky, Smoky“, sagte er scharf. „Wenn ich noch einmal das Wort Jonas höre, wird der Bursche tatsächlich Unglück bringen. Nämlich demjenigen, der sein Maul aufgerissen hat. Verstanden?“

„Aye, aye, Sir“, sagte Blacky.

„Aye, aye, Sir“, sagte Smoky.

„Aye, aye“, murmelte Old O’Flynn, der zwar nicht angesprochen worden war, aber aus Erfahrung wußte, daß man bei dem gewissen scharfen Tonfall in der Stimme des Seewolfs nicht vorsichtig genug sein konnte.

„Wer quasselt da was von Jonas?“ erkundigte sich Ed Carberry, der eben im Kombüsenschott auftauchte und nur die Hälfte gehört hatte.

„Niemand, Ed“, sagte Hasard.

Aber er sagte es so, daß der eiserne Profos lieber darauf verzichtete, lauthals zu verkünden, daß er, verdammt noch eins, schließlich gesunde Ohren habe.

Der Kutscher flößte dem Schiffbrüchigen erst eine Muck Trinkwasser und dann einen kräftigen Schluck Rum ein. Anschließend stellte er fest, daß die Kopfwunde schon hinreichend vom Salzwasser des Pazifiks desinfiziert sei, und murmelte etwas von „Kreislauf“ und „Blut in Wallung bringen“.

Ein paar von den Männern begannen an ihrem Weltbild zu zweifeln, als sie sahen, wie der Kutscher einen alten Lappen mit Rum tränkte und den starren Körper des Schiffbrüchigen damit abrieb. Die Reaktion war gleich Null. Sträfliche Verschwendung, ließ sich von den Gesichtern der Männer ablesen. Aber im Augenblick verspürte niemand Lust, das laut zu sagen.

Der Kutscher erklärte, daß der Unbekannte vorerst nichts weiter als Ruhe, Schatten und kräftiges Essen brauche.

Das alles konnte er ohne viel Aufwand kriegen. Er wurde auf eine Persenning im Schatten des Achterkastells gebettet, und für den Rest des Tages hatten die Seewölfe keine Zeit mehr, sich um ihn zu kümmern.

Die Wasserhose hatte auf der „Isabella“ eine ganze Menge zerschlagen.

Eine neue Fockmarsrah mußte geriggt, das Steuerbord-Hauptwant repariert, haufenweise Tauwerk gespleißt und ein neues Fockmarssegel angeschlagen werden. Will Thorne, der Segelmacher, war pausenlos beschäftigt, ebenso wie der Schiffszimmermann und der Stückmeister, der dafür zu sorgen hatte, daß die „Isabella“ wieder gefechtsklar wurde. Die Männer schufteten in der Hitze des tropischen Nachmittags, lenzten den achteren Laderaum leer, klarten auf, überprüften jede Planke, jeden Bolzen, jedes Bändsel, und der Profos tobte von einem Ende des Schiffs zum anderen und drohte jedem mit Kielholen, Hautabziehen und Ander-Rahnock-hängen, der es auch nur wagte, mal den Kopf zu heben.

Die Dämmerung brach plötzlich herein, wie immer in den Tropen.

Es hatte aufgebrist, die „Isabella“ lief wieder Fahrt. Immer noch war von dem Schwarzen Segler Siri-Tongs nichts zu sehen, aber Hasard wußte, daß der Viermaster rasch wieder aufsegeln würde. Stetig glitt die „Isabella“ nach Westen.

Den ausgemergelten Schiffbrüchigen, der im Schatten des Achterkastells kauerte, hatten die Seewölfe fast vergessen.

Als er sich wieder in Erinnerung brachte, hockte der Schiffsjunge Bill gerade im Licht einer Schiffslaterne auf der Kuhl und sah dem Segelmacher über die Schulter, um die Bootsmanns-Naht zu lernen.

Der weißhaarige Will Thorne zuckte leicht zusammen, als er den Schatten bemerkte, der plötzlich neben dem Niedergang hochschnellte.

Auch Hasard hatte die Bewegung gesehen. Er lehnte an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und blickte aus zusammengekniffenen Augen zu dem Fremden hinunter. Bisher hatte der Mann an seinem Platz gekauert, als sei er zu Stein erstarrt, jetzt atmete er heftig. Seine Brust hob und senkte sich rasch, die Hände mit den langen, dürren Fingern zuckten unruhig.

Er flüsterte etwas.

Ein einzelnes Wort, das er zwei-, dreimal wiederholte. Ein Name, wie der Seewolf zu verstehen glaubte.

„Morro“, krächzte die dünne, brüchige Stimme. „Morro – Morro …“

Und dann, mit erschreckender Plötzlichkeit, warf der Mann die Arme hoch und begann zu schreien.

„Morro! Meineidiger Hund! An der Rahnock sollst du hängen! Ich bin der Kapitän – der Kapitän! Alle Mann an Deck! Hängen sollst du! Hängen, hängen, hängen …“

Seine Stimme überschlug sich und kreischte in schrillem Falsett.

Wie von einem Katapult abgeschnellt raste er los, quer über die Kuhl. Ganz offensichtlich hatte er vor, über Bord zu springen.

Bill und der alte Segelmacher waren wie gelähmt.

Hasard reagierte sofort und wollte sich mit einem Satz über die Schmuckbalustrade schwingen, aber da sprangen bereits die Männer auf, die vor den Speigatten gehockt und Tauwerk gepleißt hatten. Mit vier, fünf Schritten erreichte der drahtige, flinke Sam Roscill den Schiffbrüchigen – und torkelte im nächsten Moment zurück, als die ausgemergelte Elendsgestalt ihn unversehens mit einem wilden Schwinger erwischte.

Viel Dampf saß nicht dahinter, aber der Schlag erfolgte so überraschend, daß sich Sam. Roscill auf den Planken überschlug.

„Hiergeblieben!“ rief Ed Carberry, der von der anderen Seite heranfegte. Seine riesige Pranke schoß vor und packte den Unbekannten am Kragen. Der Mann kreischte. Sam Roscill sprang auf, fauchend vor Wut, und wollte sich auf den Mann stürzen.

Matt Davies streckte nur mal eben die Rechte aus. Roscill schrie wütend auf, als er plötzlich am Haken des Einarmigen festhing. Die anderen wollten sich ausschütten vor Lachen. Sam Roscill wollte etwas ganz anderes, nämlich Matt Davies an die Kehle fahren. Aber im nächsten Augenblick vergaß er seine Absicht, denn da begann der Schiffbrüchige in Carberrys Griff zu toben wie ein rasender Derwisch.

Er schrie, spuckte, geiferte und sprudelte einen Schwall von unverständlichen Worten hervor, während seine Augen im Wahnsinn glühten. Blindlings schlug er um sich, bäumte sich auf, versuchte zu kratzen und zu beißen. Ed Carberry, der dem armen Kerl nicht ernsthaft wehtun wollte, vermochte ihn kaum zu bändigen. Mit der ausgestreckten Faust hielt er ihn am Kragen, und immer noch kreischte die heisere Greisenstimme Flüche und Verwünschungen.

„Verrat“, war zu verstehen. „Meuterei – Mordsgesindel – Rache …“

In wilder Wut drohte der Verrückte, irgendwelche Verräter aufhängen zu lassen, und kreischte immer wieder, daß der Tag der Rache kommen und er, der Kapitän, blutiges Gericht halten werde. Inzwischen war auch der Rest der Crew an Deck erschienen und starrte auf die makabre Szene. Zumindest diejenigen unter den rauhen Kerlen, die ohnehin an Wassermänner, Geisterschiffe, Unglücksboten und ähnlichen Spuk glaubten, wurden etwas blaß um die Nasen.

Carberry gehörte auch nicht zu denen, die etwa am Mast gekratzt oder vor sich hin gepfiffen hätten, da man schließlich wußte, daß so etwas den Sturm anlockte. Aber im Augenblick erschien ihm der tobende, geifernde, um sich schlagende Kerl in seinem Griff viel zu real, um ihn unheimlich zu finden. Nach dem zweiten Nasenstüber war es der Profos leid.

„Na warte, du Affenarsch!“ sagte er erbittert, und dann begann er, den Tobsüchtigen wie einen nassen Lappen zu schütteln.

Schlimmer hätte es dem Burschen auch nicht ergehen können, wenn er ins Zentrum der Wasserhose geraten wäre.

Er beruhigte sich sehr schnell.

Das heißt: er verlor das halbe Bewußtsein, und Carberrys kräftige Fäuste schienen die Erinnerungsfetzen in seinem Hirn dermaßen durcheinanderzuschütteln, daß er auch die „Verräter“ und den „Tag der Rache“ vergaß. Er fiel in sich zusammen. Als der Profos ihn mit einem ärgerlichen Brummen wieder auf die Persenning neben dem Niedergang setzte, ließ er den Kopf auf die Knie sinken und rührte sich nicht mehr.

Carberry rieb sich über sein Rammkinn und blickte zum Achterkastell hoch.

„Der Idiot wollte über Bord springen“, entschuldigte er sich. „Sollte ich ihm vielleicht zu seinem eigenen Besten noch eins auf seinen verlausten Schädel plätten?“

„Wo soll der denn Läuse haben?“ fragte Dan O’Flynn grinsend. „Der ist doch so kahl wie …“

„Halt deinen vorlauten Mund, sonst bist du auch gleich kahl“, schnauzte der Profos. „Weil ich dir nämlich die Haare einzeln ausreiße, du grüner Hering! Aber im Ernst: man sollte den Kerl vielleicht anbinden.“

„Laßt ihn in Ruhe“, beendete Hasard die Diskussion. „Dan – ab in den Großmars! Wenn wir Thorfin und Siri-Tong nicht bald sichten, werden wir Segel wegnehmen müssen.“

Dan O’Flynn enterte wieder auf.

Stille senkte sich über die Decks. Nur Sir John, der Papagei, hockte auf der Nock der Großrah, plusterte sein leuchtendes Gefieder auf und übte sich darin, die dünne, heisere Fistelstimme des Schiffbrüchigen nachzuahmen, die ihm offenbar sehr imponiert hatte.

„Meuterei!“ krächzte er. „Verrat – Verrat …“

Seewölfe Paket 6

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