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Kapitel 4 - Rückblende – Bleiberecht Flüchtlinge – Juni 2021

Nach dreißig Minuten traf sie im Flüchtlingsheim ein. Die Zufahrt war versperrt, das Heim abgeriegelt und von Ordnungskräften umzingelt. Melanie stieg aus und ging auf den Krankenwagen zu, als ob sie dazu gehörte. „Was denn los sei und wofür die Absperrungen seien?“, fragte sie einen Helfer. Sie war nicht der Typ Mensch, den geschlossene Türen aufzuhalten imstande waren.

Ihre Mitarbeiter waren pünktlich um 14:00 Uhr aus der Tierarztpraxis gegangen. Sie saß in ihrem Umkleidezimmer und überlegte, ob sie den blauen Schlupfkasack und die bequemen Schlupfhosen ausziehen und sich schick machen sollte für den Nachmittag. Melanie schaute in den Spiegel und hielt ihr neues blaues Jersey-Kleid vor sich. Schön tief ausgeschnitten, damit könnte sie bestimmt einen jungen Kerl in einem Café antörnen. Wenn nur nicht Corona das Leben kontrollieren würde. Ein wenig missmutig beendete sie ihre Modenschau, als das Rappeln ihres Handys ihr die aktuellen Nachrichten anzeigte:

NEWSLOX: Linke RUBINEN fordern Bleiberecht für alle Flüchtlinge.

Yes, meine RUBINEN stellen die richtigen Forderungen, analysierte sie, während sie ihre Handtasche über die Schulter schwang und die Praxistür schloss. Über die Kastanienallee fuhr sie nach Pankow. Auf Höhe des K86, einem besetzten Haus, musste sie hinter der Straßenbahn halten. Verdeck unten. Sie sah die großen Lettern am sogenannten Tuntenhaus: „Kapitalismus normiert - zerstört - tötet“. Da alle Nachbarhäuser teuer saniert waren, erinnerte sie das Haus unweigerlich an die Wendezeit, in der das K86 besetzt worden war. Der Verkehr rollte langsam wieder an. Hinter ihr hupte es.

„Beruhig dich, du Penner!“

„Fahr zu, du Kapitalisten-Pussy“, hörte sie.

Sie liebte es zu provozieren: überzeugte Sozialistin fährt schnelles Cabrio. In ihrer Welt kein Widerspruch. Sie reckte den Mittelfinger in die Höhe. SED-Mitglied wurde sie durch ihren Vater. Ein echter Genosse und Träger des Ordens, verdienter Tierarzt für hervorragende Leistungen beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft.

Wegen ihr hätte es keine Wiedervereinigung gebraucht. Obwohl, dann hätte sie auch nicht Sven kennen gelernt, dieses Schnuckelchen aus Westberlin. Dann wären ihr aber auch viel Leid und Schmerzen erspart geblieben, sinnierte sie, während sie im Rückspiegel ihren knallroten Mund begutachtete. Das Leben war grausam.

Melanie hatte sich sehr für die neuen Gemeinschaftsunterkünfte eingesetzt, die ohne Zaun und Abgrenzungen gebaut waren. Sowohl mit Zeit als auch mit Geld. Wo sollte sie auch hin mit dem vielen Einkommen, das ihre Praxis abwarf? Für sich selbst hatte die Fünfzigjährige gut gesorgt, eigene Kinder hatte sie keine und ihre Eltern brauchten keine Zuwendungen. Eigentlich lief es.

Von weitem sah sie das Heim. In der letzten Bürgerrunde im Rathaus von Pankow wurde sie als Vertreterin des Heimes aufgefordert, zu Vorwürfen Stellung zu nehmen, man würde das innerstädtische Biotop für ein Heim opfern. Sie erinnerte sich, wie sie aufstand, ihre wallende braune Mähne nach hinten warf und die Diskussion auf den Punkt brachte: Flüchtlinge seien wichtiger als ein Tümpel für Frösche. Argumentieren konnte sie, das hatte sie bereits in der Oberschule in der DDR gelernt und in zahlreichen Kommunikations-Workshops der RUBINEN, der SED-Nachfolgepartei, perfektioniert.

„Großausbruch von Corona mit neunzig Infizierten“, hörte sie den Helfer in gelber Sicherheitsjacke lapidar erklären. Dann wurde sie hinter die Absperrseile zurückgedrängt wie Schnee vom Schneeschieber. Die Flüchtlingsmädchen waren weggesperrt – wie sie früher in der DDR. Sie konnte nicht ahnen, dass das Land ganz andere Wege einschlagen würde.

Brenzlige Wahlen

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