Читать книгу Brenzlige Wahlen - Ruben Gantis - Страница 17

Оглавление

Kapitel 11 – Verspätete Überbrückungshilfen - September 2021

Wie Sven diese Anrufe hasste. Seit über zehn Jahren. Einmal im Jahr setzte Achim Bochtler einen Besprechungstermin auf und Sven hatte zu folgen. Am Tag nach der Wahl war es wieder so weit. Sie trafen sich am Bundeskanzleramt zu einem Spaziergang im Tiergarten. Sven trug einen leichten Sommeranzug mit T-Shirt, fast eine fahrlässige Verleugnung seiner selbst auferlegten Kleiderordnung. Achim hingegen kam in Shorts, die er an warmen Tagen zum Hauptkleidungsstück gemacht hatte. Nach der inzwischen üblichen Begrüßung per Ellbogen schlenderten sie die Paul-Löbe-Allee Richtung Osten. Die Ansicht dieses Mannes raubte Sven Kraft. In weißer Maske und nach vorne gebeugt wirkte er wie ein Geist.

„Der Reichstag hat so manchen Sturm überlebt. Ich bin gespannt, wie unser politisches System die neuesten Entwicklungen übersteht“, begann Achim die Unterhaltung. „Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der Linksruck der Regierungspolitik in den letzten Jahren uns die Verhältnisse gebracht hat gestern, die dieses Gebäude schon einmal erlebt hat. Sonst leider niemand mehr. Ich möchte nicht mit Kanzler Spieler tauschen, denn die Probleme sind enorm, die er kurzfristig lösen muss.“

Er fuchtelte mit den Armen, als ob er dozieren würde, während er fortfuhr.

„Bist du gekommen, um mir Nachhilfe in Politik zu geben?“

„Nein.“

„Was dann?“

„Ich gebe dir Nachhilfe in Zahlungsmoral. Deine jährliche Zahlung steht aus, seit acht Wochen.“

„Achim, du liest doch auch die Nachrichten?“

Er griff in die Innentasche des Sakkos, holte sein Handy raus:

NEWSLOX: Überbrückungshilfen kommen zu spät bei Antragstellern an; designierter Kanzler Spieler bittet um Geduld, las er ihm vor. „Ich habe Geldsorgen im Moment. Kann ich dir dieses Jahr im Dezember zahlen? Bitte. Gern mit Zinsen.“

„Mein lieber Sven, es ist mir egal, wann Spieler seine „themenbezogenen Mehrheiten“ organisiert kriegt und wie viel hunderte Kompromisse er dafür schließen muss, um die Hilfen auszuzahlen. Am Ende des Monats bringst du mir meine 30.000 Euro in bar. Bestechung hat halt ihren Preis.“

Er lachte dreckig.

„Wir treffen uns am Eingang zum Bundeskanzleramt. Und hör auf zu jammern, vom Staat abhängig zu sein. Als ich damals die Drecksarbeit für dich gemacht hab‘, hast du nicht hingesehen. Jetzt schreist du nach Hilfen? Was ist nur aus dir geworden? Es ist der Lauf der Wirtschaft, dass Unternehmen sterben und Neue entstehen. Dein Lederwarengeschäft wäre auch ohne Corona unter die Räder gekommen. Du hast dich einen Dreck um Online-Vertrieb gekümmert, deine Kundschaft und die Produkte wurden immer älter. War ja auch bequem all die Jahre. Du hast es schon immer gemocht, wenn die anderen dir den Dreck wegräumen, stimmt‘s?“

Sven zog die Sonnenbrille über seine Geheimratsecken, schlupfte aus dem Sakko und legte die Maske ab. Er stellte sich vor den Bekannten.

„Hör zu, das muss jetzt ein Ende haben, ok? Du hast so viel Geld von mir erhalten. Es ist genug, Achim. Ich lass mich von dir nicht mehr erpressen. Ich habe eh nichts mehr zu verlieren.“

„Schau an. Früher hattest du Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg, wenn deine Bestechung rausgekommen wäre. Eine Ächtung als einer, der Korruption fördert, aber nach außen mit strahlend weißer Weste rumläuft. Der sich jetzt einen schlauen Lenz auf Mallorca machen wollte. Vergiss es. Du wirst zahlen oder du kannst deinen Abgesang feiern. Freitag zwölf Uhr in bar. Pünktlich. Wie immer.“

Sven setzte seine Brille wieder auf. Er musste einen Weg finden, das Geld aufzutreiben und sich aus dieser Klammer zu befreien.

Für den Rest des Tages igelte er sich ein. Er ging seiner Frau aus dem Weg. Früher hatten sie alles besprochen. Dieses Thema aber nicht. Jetzt nicht daran zu denken. Tanja war sauer auf ihn und sie hatte Angst vor der Zukunft. Wohin das alles noch führen würde – er wusste es nicht. Wann war ihnen ihr Glück bloß abhandengekommen?

Um 09:00 Uhr startete die Videokonferenz mit den Mitarbeitern. Tanja war anwesend. Nicht sichtbar für die anderen. Aber so am Tisch platziert, dass er ihre Reaktionen auf seine Rede sehen konnte. Er brauchte irgendeine Form von direkter Interaktion. Nur dann war er selbstsicher. In seinen Sanierungsüberlegungen hatte er sich dazu entschieden, von den insgesamt 45 Mitarbeitern 33 zu entlassen.

Während er sprach, griff er immer wieder zum Wasserglas neben sich. Sein trockener Hals machte seine Stimme brüchig, wegen der Aufregung und wegen der Betroffenheit. Sven kannte einige der mehrheitlich weiblichen Kollegen seit mehr als zwanzig Jahren. Es machte ihn traurig, deren Arbeitsplatz nicht erhalten zu können. Er erklärte die Notwendigkeit dieses Schrittes, so gut er konnte. Als er im Video die ersten Tränen sah, musste er sich zusammenreißen. Tanja nickte ihm aufmunternd zu. Er kam zum Ende seiner Rede. Keine Fragen. Keine Reaktion. Erschöpft bedankte er sich bei den Mitarbeitern ein letztes Mal für ihre Treue. Er küsste Tanja auf die Stirn, klappte seinen Laptop zu und ging in sein Arbeitszimmer. Er litt. Nie hätte er gedacht, dass er irgendwann seine Leute entlassen müsste. Weil das Geschäft nicht mehr lief. Frustriert, traurig, matt beugte er sich, auf den Unterarmen aufgestützt, über seinen Schreibtisch.

Ruhe und Alleinsein war das Einzige, was er nun brauchte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Der Felsbrocken rollte weiter auf ihn zu.

Brenzlige Wahlen

Подняться наверх