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Kapitel 13 – Impfgegner – Oktober 2021

Es war, als spürte sie das Unheil nahen. Melanie saß vor einem Take-Away-Café in der Oderberger Straße. Sie blätterte durch ihr Tablet und ärgerte sich über die aktuellen NEWSLOX:

Jüngste Umfragen gehen von bis zu 25 Prozent Impfverweigerern in Deutschland aus; linke RUBINEN lehnen Impfpflicht explizit ab.

Das war nicht hilfreich. Der aktuelle Stufenplan der Impfungen ging nicht weit genug. Für die Schwachen und Renitenten sollte es eine Impfpflicht geben. Was half es, wenn man die Alten retten wollte, die aber nicht zustimmten? Oder zustimmten, aber nur eine begrenzte Lebenszeit vor sich hatten, während die wirklich Hilfsbedürftigen nicht zum Zug kamen. In dem Moment humpelte eine alte Frau vorbei und schaute sie an, als ob sie die Antwort hätte. Melanie ließ den Kopf tief hängen, mitsamt ihren schweren ghanaischen Ohrringen, die sie scheinbar auf den Boden zogen.

Sie musste an ihre demente Mutter denken und merkte, wie ihr die Gedanken die Luft abschnürten. Bei ihrem letzten Besuch schaute Mutti sie mit großen Augen an und fragte den Vater, der noch immer im Flur stand, wer die Frau sei. Melanie stiegen Tränen in den Augen. Seit fünf Jahren besuchte sie ihre Mutter regelmäßig. Es hatte sich alles schlagartig geändert, als sie damals die Diagnose Alzheimer erhielten. Der Arzt im Krankenhaus prognostizierte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Mutter sich an nichts mehr erinnern werde, weil man die Krankheit erst im fortgeschrittenen Stadium entdeckt hatte. Melanie schwor sich damals, dass sie sich um ihre Mutter kümmern würde, solange es ging. Denn wirklich lebensbedrohlich war nicht die Demenz, sondern ihre chronische Lungenerkrankung. Stur wie Mutti war, hatte sie dem Rauchen nie entsagt und sich so über die Jahre eine permanente Entzündung der Atemwege und des Lungengewebes eingefangen. Das ständige Husten nahm zu. Warum hatte sie noch keinen Impftermin? Melanie wollte brüllen vor Wut. Sie hatte nichts gegen eine Impfpflicht – im Gegenteil.

Um 17:00 Uhr waren sie verabredet. Gleichgesinnte am Platz vor dem Neuen Tor. Sie wollten der FORTSCHRITTSPARTEI widersprechen. Vor deren Zentrale. Ihnen ihre Positionen entgegenschleudern. Melanie hatte die Versammlung dem Ordnungsamt gemeldet. Bestimmt mal eine Erfahrung für die neue Kanzlerpartei, wenn sie nicht selbst zu den Protestierenden gehörten, spöttelte Lea in ihrem Gespräch. Sie hatten die Formel, wie sie sich ein gerechteres Impfen vorstellten auf Plakate geschrieben: „Mehr Impfstoff plus Schnelles Impfen plus Faires Impfen plus Impfzwang“. Es traf genau, was sie sich vorstellten, auch wenn es sprachlich struppig daherkam.

Melanie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, als sie Lea kommen sah. Ihr Kind wäre wohl heute etwas älter als Lea. Damals. Nach dem unnötigen Streit, als sie so unglücklich auf den Bordstein gefallen war. Sie waren schon zankend aus ihrer Stammkneipe in der Choriner Straße gekommen. Er war betrunken und hatte es ihr gestanden. Dass es da die Neue gäbe. Vier Halbe hatte er gebraucht, um sich Mut anzutrinken. Vor der Tür zur Pinte kam er mit der Wahrheit raus. Als ob ihn dort keiner hören könnte. Sie, die strahlende Ossi-Maus. Er hatte sich Hals über Kopf in eine aus der BRD verknallt und wollte deswegen mit ihr Schluss machen. Sie gab ihm einen Stoß, er fiel nach hinten, griff nach ihr und riss sie mit. Mit vollem Gewicht knallte sie auf die scharfe Kannte und spürte den Schmerz. Kurz danach kam das Blut. Sie schrie und weinte. Er rief um Hilfe, aber keiner kam. Er rannte in die Kneipe zurück. Aber das Telefon ging nicht. Das Kind.

Sie hatte Rache geschworen. Er wusste es nur noch nicht.

Lea war Teil ihres Plans. Ihr Streben für eine bessere Welt, in der die Jungen nicht die Fehler ihrer Eltern ausbügeln mussten. Lea hatte gute Anlagen. Vielleicht von ihrer Mutter geerbt, als die noch nicht so trantütig war. Und sie wusste auch ihre Fähigkeiten zu nutzen, denn über ihren Instagram-Account erreichte sie viele Menschen. Ganz besonders Anhänger der neuen Partei „Junge für Deutschland“. Sie waren sich einig, dass es unverständlich war, warum die neue Regierung den Impfgegnern so viel Raum ließ, statt einen Impfzwang zu verfügen. Weder DIE FORTSCHRITTSPARTEI noch ihre RUBINEN. Obwohl die FORTSCHRITTSPAR-TEI auch die Gene der SED im Blut trug. Ihr fielen die Gebote der sozialistischen Moral und Ethik von Walter Ulbricht ein: „Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.“ Na dann.

Das Rattern der Straßenbahn drang aus der Invalidenstraße zu ihnen herüber. Ungefähr 50 Leute folgten ihrem Aufruf. Melanies rote Herbstjacke passte farblich zu ihrem Lippenstift. Heute verzichtete sie auf schicke Schuhe zugunsten von trittfesten Sneakers. Vielleicht müssten sie wegrennen.

Zusammen mit Lea stand sie vor der Eingangstür der FORTSCHRITTSPARTEI. Immer wieder kamen Mitarbeiter der Partei heraus, schauten sich neugierig um und griffen die Flyer ab, die Lea kurzfristig designt hatte. Sie interessierten sich nicht für ihre Versammlung. Sie machten sich viel zu schnell aus dem Staub. Ein Gespräch war nicht drin. „Verwaltungsangestellte eben“, schnaubte sie und rümpfte die Nase.

Jemand tippte Melanie auf die Schulter. Sie erschrak und hob die Arme zu einer Krav Maga-Selbstverteidigungsposition. Die aus Israel stammende Verteidigungstechnik hatte sie nach dem Einbruch in ihrer Wohnung bis zum Umfallen trainiert. Für einen Moment erinnerte sich.

Plötzlich stand er in ihrem Schlafzimmer. Erdgeschosswohnung. Wolliner Straße im Prenzlauer Berg. Nach dem Studium. Sie kam aus dem Bad. Nur im Negligé. Ein Schlag gegen den Sola-Plexus. Sie rang nach Luft. Er warf sie aufs Bett. Aber er konnte sie nicht herumwuchten. Sie war schon damals kein Federgewicht mehr. Seit damals war sie jederzeit gegen Angreifer gerüstet.

„Es ist Matthias! Kein Böser.“

Sie stutzte und dann erkannte sie ihren neuen Aramiser-Freund. Erleichtert umarmte sie ihn.

„Cooler Haarschnitt. Was bringt dich denn hier her? Willst du uns unterstützen?“

„Komme gerade von der Charité. Hab‘ dort meinen Sohn besucht. Starkes, chronisches Asthma. Muss immer wieder nach starken Anfällen behandelt werden. Geht ihm wieder gut. Bin froh. Wenig Kontakt.“

„Komm, mach mit, wir wollen der FORTSCHRITTSPARTEI einheizen. Nicht, dass es denen zu bequem wird im Kanzleramt.“

„Nene, nix für mich. Bin doch nicht politisch. Genieße lieber den schönen Herbsttag und kümmere mich um meinen Kram. Oh, neue Bewunderer?“, sagte er und zeigte nach rechts Richtung Luisenstraße von wo eine kleine Gruppe Langbärtiger auf sie zu trottete. Gesäumt von vier jungen Frauen in schweren Mänteln, die viel zu warm für diese Jahreszeit waren.

„Freundinnen von dir, Lea?“, nahm Matthias sie auf die Schippe, als die Gruppe abrupt hielt und in ihre Richtung schielte. „Jetzt wird’s gleich lustig. Mal sehen, ob die Ärger machen.“

„Sag bloß nichts zu meinem Vater von unserer Aktion hier. Sonst dreht der vollends ab, der halbe Nazi.“

„Ok, versprochen“, beruhigte Matthias sie.

Die Langbärtigen näherten sich und stellten sich breitbeinig im Halbkreis auf. Melanie machte einen Schritt auf sie zu, um sie ins Gespräch zu ziehen. Eine Auseinandersetzung wäre jetzt das Letzte, was sie brauchten. Eine der Frauen im Wollmantel fragte, warum sie denn einen Impfzwang wollten. Sie selbst wären Anthroposophen und lehnten es ab, da Impfungen die Seele vertreiben könnten. Man hätte das Impfen ohnehin nur Bill Gates zu verdanken, der die Bevölkerung per Impfung versklaven wolle. Dagegen müsse man sich wehren. Außerdem schütze Impfen die Schwächeren, was eine natürliche Selektion verhindere und damit Europa in den Untergang führe.

Beim letzten Satz zuckte Melanie zusammen und schaute ihn an.

„Sag mal, bei dir sitzt das Hirn wohl im Langbart? Was redest du denn für Zeug? Natürliche Selektion.“

Sie wollte gerade weiterreden. Da fiel ihr Blick auf Matthias. Er schüttelte den Kopf, um sie vor weiterer Dummheit zu bewahren.

„Kann jeder halten, wie er will. Am besten ihr zieht weiter. Lasst die Leute hier in Ruh. Haben andere Ansichten als ihr.“

„Wir wollen aber nicht, dass ihr hier rumsteht und vor der neuen Regierung fürs Impfen schreit.“

„Ist aber so“, erwiderte Matthias. „Kommt, Abflug. Kein Ärger, bringt nichts.“

Zwei der Langbärten gingen auf Matthias zu und stellten sich mit durchgedrücktem Kreuz vor ihn.

„Hast du eigentlich ein Sprachproblem oder warum redest du so seltsam?

„Ruhig, Brauner.“ Mit seinem Zeigefinger deutete Matthias Richtung Invalidenstraße. „Dort fährt die Tram. Weit weg von hier. Ist besser. Glaubt mir. Gewalt kann für Anthroposophen kein Mittel sein.“

„Du kannst ja sogar das Wort aussprechen.“

„Kann noch viel mehr. Verpisst euch jetzt.“

Matthias zückte sein Handy und machte ungeniert Fotos von den Anwesenden. Dabei drückte er unauffällig die 1 1 0 Tasten.

„Nimm dein Scheiß-Handy runter.“

„Ja, hallo hier ist Matthias Umpner. Wir werden am Platz vor dem Neuen Tor von einer Gruppe Unbekannter bedrängt.“

„Was soll das, du Vollpfosten, wir bedrängen euch nicht. Wir wollen diskutieren.“

Lea sah zwischen den beiden hin und her und blickte Matthias bewundernd an. Wenn er nur nicht mit ihrem Vater bekannt wäre, räsonierte sie, denn wenn der von der Situation erführe, wäre der nächste Ärger programmiert. Seelenruhig erklärte Matthias der Polizei die Situation.

„Danke, bleiben hier. Warten auf Sie. Nein, suchen keine Gewalt. Können uns wehren, wenn es sein muss. Beeilung bitte.“

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