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Kapitel 12 – Minderheitsregierung – Oktober 2021

NEWSLOX: Minderheitsparteien lassen Wahl des neuen Bundeskanzlers Spieler der FORTSCHRITTSPARTEI scheitern; spektakulärer Coup mit rechter ANTI CORONA PARTEI bringt ihn dennoch ins Kanzleramt. Neue MINDERHEITSREGIERUNG: FORTSCHRITTS-PARTEI mit linken Parteien (RUBINEN, PARTEI DER LESBEN, SCHWULEN, BI, TRANGSGENDER, PARTEI FÜR INTGRATION).

Sie fühlte sich wie ein Küken, das die Eierschale sprengt. Raus, endlich raus. Endlich wieder fotografieren. Menschen auf dem Markt. Sie steckte die Kamera in die Tasche ihrer dunkelgrauen Fotojacke. Sie versank darin, als ob sie unsichtbar wäre. Mit ihrem Rucksack bewaffnet ging sie die Hauptstraße entlang. Die vierspurige Straße war laut. Aber Tanja suchte abwechslungsreiche Motive auf der von Maskenträgern bevölkerten Meile.

Auf Höhe der Nr. 78 ging plötzlich die Haustür auf. Zwei junge Mädchen in ihren blauen Hijab-Kopftüchern sprangen vor ihr auf den Gehweg. Schnell griff sie nach der Kamera, ging in die Hocke und fing die flüchtige Szene ein. Die Mutter rief ihnen nach, sie sollten die Masken aufsetzen. Entschuldigend sah sie Tanja an und meinte nur: „Mädchen!“ Tanja schmunzelte, dachte an Lea und rückte ihre helle Sonnenbrille zurecht.

Aus der Hocke sah sie eine Tafel an der Wand, die an das Attentat auf US-Soldaten in der Diskothek La Belle im Jahr 1986 erinnerte, bei dem drei Soldaten starben. Sie wohnte so nahe dran – dennoch hatte sie dieses Mahnmal noch nie gesehen. Sie wusste nicht, dass Muammar al-Gaddafi dafür von den Amerikanern verantwortlich gemacht worden war und als Vergeltung Bomben auf die libysche Hauptstadt Tripolis gefallen waren. Plötzlich kam sie sich so lächerlich vor. Mit ihren kleinen Sorgen: kein Job, kein Mallorca, kein bequemes Leben. Sie schämte sich.

Dabei war heute der große Tag. Deutschland öffnete das Leben wieder. Bundesweite Impfungen – traumatisch langsam. „Endlich wieder zum Frisör“, stand auf einem Plakat. „Das eigene Feilen der Nägel hat ein Ende“, auf einem anderen an der Litfaßsäule. Wenn schon die Regierungsbildung so lange dauert, kein Wunder, dass die Aufhebung des Lockdowns zur Geduldsprobe verkam, dachte Tanja.

Spontan rief sie bei Martina an, um einen Frisörtermin zu bekommen. Kein Durchkommen. Sie schrieb ihr eine SMS. „Sorry, erst in 14 Tagen.“ Ihre Laune verdunkelte sich. Überall nur Maskenträger. Strahlten die Menschen schon wieder? Sie konnte es unter den blauen Gesichtsbedeckungen nicht erahnen. Um sich aus ihrer Laune raus zu katapultieren, wollte sie einen Schnaps und steuerte ihre Stammkneipe an. Geschlossen.

Sie schaute auf ihre Rolex, die Sven ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Mehr eine Herrenuhr, mit dem großen Ziffernblatt. Aber genau diese hatte sie sich gewünscht. Es war nicht die Uhrzeit. Bars, Kneipen und Restaurants hatten vielmehr weiterhin geschlossen. Also lief Tanja einfach weiter zum Wochenmarkt auf dem Breslauer Platz in Friedenau. Allein. Auf Sven hatte sie keine Lust seit dem Wahlabend. Nicht mal, ihn zu sehen.

Julian half ihr, den Sonntagstisch zu decken. Ausnahmsweise nicht widerwillig, es war sein letztes Wochenende zu Hause. Ab Mittwoch würde er nach Brighton ins Hockey-Internat gehen. Beflissen trug er Teller, Besteck und alles ins Esszimmer, was er sich zu seinem letzten Sonntagsfrühstück hatte wünschen dürfen. Pünktlich um zehn Uhr kam Lea zur Tür rein. Verschlafen schlurfte sie barfuß in gestreiften Leggins und Schlabberpuli in die Küche, nahm sich eines der Saftgläser, das die Mutter vorbereitet hatte und drehte ab in Richtung Tisch. Beinahe wäre sie mit ihrem Bruder zusammengestoßen, der voller Elan die nächsten Teller aus dem Schrank fingerte.

„Pass doch auf, du Trampel!“, fauchte sie.

„Mach du dich lieber mal nützlich!“, stänkerte der zehn Jahre jüngere Bruder zurück. „Kaum kann man wieder Party machen, lässt Lea es krachen.“

„Schön die Maske aufgehabt?“, sekundierte ihre Mutter mit ihrem badischen Akzent, der nur zuhause hörbar war.

„Beim Knutschen bestimmt nicht.“

„Halt doch deine Klappe, du Depp! Was bist du so frech? Ach ja, ist ja heute dein letztes Frühstück. Machst dir schon in die Hose, weil du allein verreist?“ Sie streckte ihm die Zunge raus.

„Lass ihn doch in Ruhe, Lea und hol‘ bitte deinen Vater, der hockt an seinem Schreibtisch.“

„Papa!“

„Brüllen kann ich selbst. Geh‘ und hol ihn bitte, die Eier werden kalt.“

Sven Buschner wertete die Umsätze der ersten Öffnungstage aus. Kein Anlass für Euphorie. Er hörte, wie Lea an die Tür klopfte, drehte sich auf seinen Drehstuhl zu ihr und sah dabei auf das Selfie, das sie vor ein paar Jahren an einem Sonntagmorgen gemacht hatten. Seine Familie, sein Glück.

„Ein bisschen Schiss hab‘ ich schon, allein zu fliegen, Papa.“

„Es ging mir bei meinem ersten Flug allein genauso. Aber keine Sorge –das Begleitprogramm der Airline ist perfekt und in London wirst du abgeholt.“

„Ihr nervt.“

„Nur weil du gestern abgestürzt bist, besteht kein Grund, grantig zu sein, liebe Tochter.“

„Bin nicht grantig. Zumindest nicht deswegen.“

„Weswegen dann?“

„Weil du peinlich bist, Papa.“

„Oh, den Satz hast du zum letzten Mal mit zwölf gesagt.“

„Aber bis jetzt hast du auch nicht die Nazipartei gewählt.“

Ihr Vater sog Luft ein.

„Wenn ihr zugehört hättet, wüsstet ihr, warum. Die Große Koalition hat uns Einzelhändler vergessen.“

„Deswegen wählt man doch nicht die Rechten.“

„Im Rummaulen sind meine Damen ja vereint. Aber irgendwo muss das Geld für dein Meteorologie-Studium, Julians Internat und Mamas Freizeitleben ja herkommen.“

„Was soll das denn nun Sven, Freizeitleben?“, murrte Tanja. „Ich kann nichts dafür, dass der Rektor mich nicht wieder einstellt. Wegen irgendwelcher Fristen. Bin halt keine Beamtin. Dir war das vor 15 Jahren auch nicht wichtig. Hättest mich ja drängen können. Wie sonst bei allem anderen, was dir hoch und heilig ist.“

„Hä?“, kommentierte Sven genervt.

„Jetzt hab‘ ich den Dreck. Ich werde die Zeit nun für mich sinnvoll nutzen. Gestern habe ich mich zu einem Yoga-Kurs für Fortgeschrittene angemeldet. “

„Cool, Mama“, unterstützte sie ihr Jüngster.

„Oh, Yoga, geiler Akt, Mama.“

„Gell“, missverstand die Mutter ihre Tochter.

„Wie lahm, das ist doch voll Kacke Mama. Und Deinen Herrn Spieler, den kannst du jetzt schon vergessen. Der hat sich von den Rechten zum Kanzler wählen lassen. Der wird die erste männliche Nutte im Kanzleramt. Er lässt sich für jeden Deal ficken.“

„Lea!“, rief ihre Mutter.

Tanja war baff angesichts der derben Sprüche. Die schaute sie mitleidig an. Lea wusste genau, wie sie ihre Mutter provozieren konnte.

„Ist doch wahr, Mama. Der Typ ist von Tag eins an ‘ne Schlampe.“

Sven hätte beinahe den O-Saft wieder ausgespuckt.

„Früher hast du dich engagiert. Heute erzählst du uns, du hättest dich in einem Yoga-Kurs eingeschrieben. Ist das deine neue Form von Protest?“

Ihre Mutter bekam den Mund nicht mehr zu.

„Ich unterstütze jetzt Melanie bei der Planung einer Demo gegen die Ungerechtigkeit in der Pandemie. Geht nun auch wieder, seit das Versammlungsverbot aufgehoben ist“, ergänzte die Tochter.

„Ich dachte, du stehst mehr auf Klima, wie deine Mutter?“, sagte ihr Vater.

„Die hat wirklich coole Ideen, die ist tough und mach echt Protest. Jedenfalls hat sie viele Pläne. Ich bin dabei, auch wenn es euch nicht passt.“

„Komm ihr besser nicht zu nahe, Lea. Ich kenn‘ Melanie schon lange. Sie ist sehr berechnend. Konzentrier‘ dich lieber auf dein Studium, so dass du mal fertig wirst. Vor dem 16. Semester.“

Seine Tochter warf ihre Serviette auf den Tisch und lief zur Tür.

„Macht euer Scheiß-Frühstück allein! Diesen Schwachsinn hör‘ ich mir nicht mehr an! Sorry, Julian, bedank dich bei deinem Vater. Nur weil es grad nicht so läuft in der Firma. Der ist doch nur ein Schönwetter-Kapitän. Wenn der Wind von vorne weht, werden die sozialen marktwirtschaftlichen Prinzipien verraten. Und du Mama, du heulst rum, wenn deine Schönes-Leben-Pläne verpuffen. Anstatt dich zu engagieren. Ihr seid so Panne. Schade, dass ihr nicht nach Mallorca abhaut.“

Mit einem lauten Rums schmiss sie die Tür zu. Tanja fing an zu weinen. Julian nahm seine Mutter in den Arm und Sven lief betreten zum Balkon. Bedröppelt schlürfte er in Richtung Arbeitszimmer. Er musste die Zahlen besser verstehen. Tanja griff nach der dunkelroten Vase – dem wertvollen Erbstück ihrer Großtante - und warf sie ihrem Mann hinterher. Gegen den Türrahmen. Knapp verfehlt. Halb ungläubig, halb in Rage schaute er sie an. An diesem Morgen zerbrach mehr als ein Stück Keramik.

Brenzlige Wahlen

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