Читать книгу Brenzlige Wahlen - Ruben Gantis - Страница 16

Оглавление

Kapitel 10 - Rückblende – Parteienvielfalt – August 2021

NEWSLOX: Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde zeigt Wirkung: großes Interesse an kleinen Parteien; Protestwähler an den Rändern erwartet.

Schon die ersten Worte saßen. Er wusste um seine Wirkung, wenn er als Mann mit nigerianischen Wurzeln in breitem Berliner Dialekt eine Rede begann. Dass der überhaupt Deutsch kann! Seine runde Brille setzte er auf und ab. Rhythmisch bewegte er sein Kinn, wenn er sprach. Als ob er einem Takt folgte. Sein weißes Hemd lässig über der dunklen Hose. Hellblaues Sakko. Passende Lederschuhe. Er wusste sich zu kleiden. Erzählte von den Lebensumständen in seiner Geburtsstadt Lagos. Dort lebte er nur vier Wochen, danach zog seine Familie nach Berlin. Er war in Dahlem aufgewachsen als der zweite von drei weiteren Brüdern. Dann sprach er über seine Zeit im Internat in Salem, wo er umfangreichen Musik- und Sprachunterricht genoss, aber seinen Berliner Slang nicht ablegen konnte. Leises Gelächter auf den Bildschirmen. Die Kunstkurse förderten seine kreative Ader und zum Dank hatte ihn der Vater verpflichtet, Verwaltungswissenschaften zu studieren. Wieder Heiterkeit auf den Schirmen. Dr. Davide Ensika gewann die Herzen der Zuhörer. Weil er wusste, wie das ging.

Sven beobachtete Matthias, wie er sich einem Pennäler gleich Notizen machte, als die Zugeschalteten sich vorstellten. Die Aramiser hatten ihn erst vor ein paar Wochen auf seinen Vorschlag hin aufgenommen. Sven war überzeugt, dass der alte Spezi mit seiner immer guten Laune eine Bereicherung für die Aramiser war.

Sie trafen sich regelmäßig. Machten einmal im Jahr eine Charity-Veranstaltung mit Tombola. Halfen sich gegenseitig durch ihre Kontakte, aber vor allem: sie waren ein Club, in dem Menschen sich so vertraut waren, viele sogar Freunde, dass sie politisch diskutieren konnten. Gemeinsam wollten sie einen Beitrag leisten, die Gesellschaft zu verändern. Das dachte Sven zumindest.

Matthias, charmant, hilfsbereit, verlässlich. Ein Menschenfänger, ging es Sven durch den Kopf. Dass er aber akribisch Namen notierte, überraschte Sven. Welche weiteren Geheimnisse würde Matthias noch mit sich herumtragen?

Pünktlich um 13:00 Uhr hatte die Videokonferenz begonnen und ein Teilnehmer nach dem anderen ploppte aus dem Warteraum in die Schalte. Es wurde gewunken und die Teilnehmer begrüßten sich wild durcheinander. Die Pandemie hatte noch nicht alle traditionellen Begrüßungsriten umgekrempelt. Nach ein paar Minuten hatte der Vorsitzende der Aramiser Berlin-Mitte die Teilnehmer gebeten, die Mikrofone auf stumm zu stellen, so dass man dem Programm vernünftig folgen könne. Es war eine überraschend große Gruppe. Abwechslung im Lockdown.

Sven öffnete ein zweites Fenster an seinem Rechner. Eine neue NEWSLOX-Nachricht tauchte auf:

Konservativer Kanzlerkandidat der FORTSCHRITTSPARTEI Spieler hat überparteiliche Unterstützung und Popularität.

Der wird das noch schaffen, wenn es so weiter geht, überlegte Sven und war alles andere als glücklich darüber. Es reichte ihm schon, dass seine Frau den Spieler bewunderte. Diesen Blender! Er hatte Blender schon immer gehasst. Er wollte keine Verbotspartei in der neuen Regierung, die in Deutschland mit ihren wilden Ideen experimentieren würde. Seine ZENTRALE PARTEI DEUTSCHLANDS hatte schon genug verbockt.

Als der Vorsitzende den Gast ankündigte, war es still. Ein junger Schwarzer in diesem traditionellen Club, bislang nicht vorstellbar. Dr. Ensika kam nach dem spontanen Applaus in Fahrt und erzählte von seinem Berufsleben. Wie er schon in den letzten Studienjahren als DJ in Berliner Clubs unterwegs war, aber letztlich als Acappella-Sänger Erfolg hatte.

„Aber wer braucht schon nen schwatten Acappella-Sänger mit Berliner Dialekt“, fragte er. Grölendes Gelächter, soweit man es auf den kleinen Bildschirmen sehen konnte.

„Herr Dr. Ensika, erzählen Sie uns: für was brennen Sie?“, startete Sven die virtuelle Fragerunde.

„Natürlich für meine Musik. Hochtrabend würde ich sagen: ich träume von einer Identität und Gemeinschaft schaffenden Kultur, mit Denkräumen für jedermann.“

„Geht’s konkreter?“ Melanie konnte es nicht lassen. Die Aramiser wussten, wie gern sie ihre linken Positionen in ihrem Kreis vertrat und waren gespannt auf seine Antwort.

„OK. Ich lebe ganz besonders fürs Anpacken, Umsetzen, etwas auf die Kette bringen. Meine Verwaltungslaufbahn habe ich erst gar nicht begonnen. Vergeudete Energie. Hat Papa aber nicht geglaubt. Ich habe stattdessen über meine Singerei hinaus ein eigenes Musiklabel aufgebaut. Und das war in den sozialen Netzwerken in kurzer Zeit so erfolgreich, dass ich gut davon leben konnte. Hat Papa wieder nicht geglaubt. Bis Corona kam. Alle Konzerte abgesagt. Mein Geschäft lag brach. Aber nach zwei Wochen hatte ich neue Clips online gestellt. Jetzt ist alles gut.“

Er machte wieder eine Pause. Denn jetzt kam es:

„Und ich bin durch meine Zeit in Salem sowas von konservativ erzogen worden. Helmut Kohl hätte seine Freude gehabt. Frau Merkel würde jubeln, wenn sie wüsste, dass ich jede Woche ihren Podcast höre. Und die Kombi schwarz, Musiker, konservativ, die müssen Sie erst mal finden.“

Wieder Beifall aus allen Ecken.

„Ist das dann auch Ihre politische Perspektive?“, stellte Melanie eine fiese Frage.

„Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“

Sie hob verdutzt die Augenbrauen.

„Melanie Haupt, Tierärztin und erstes weibliches Mitglied in diesem Verein. Damals habe ich allerdings meine politischen Ansichten verheimlicht. Die hätten mich sonst nie aufgenommen.“

„Stimmt genau“, kam es aus dem Off.

„Allerdings. Beispielsweise bin ich der Meinung, dass die Flüchtlingspolitik in Deutschland nichts taugt.“ Er musste einen Nagel einhauen. Sie sollten sich an ihn erinnern. „Und in meiner Musik setze ich mich dafür ein. Also für eine bessere Flüchtlingspolitik.“

Nagel wieder etwas rausziehen. Abschwächen. Erstauntes Nicken um ihn. Nur nicht bei Melanie. Sie schüttelte den Kopf.

Davide lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und fragte sich, ob die Aramiser sich trauen würden, ihn aufzunehmen. Er brauchte Unterstützer für seine Ambitionen. Es ging gerade erst los.

Brenzlige Wahlen

Подняться наверх