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Kapitel 9 - Rückblende – Ränderparteien – Juni 2021

Man muss Kinder loslassen können. Genau wie man Träume loslassen muss. Das hatte Tanja in ihrem Leben gelernt. Sie schaute ihrer Tochter hinterher, die winkend die Treppen zur S-Bahn-Station Friedenau hinunterlief und bestellte noch einen Kaffee to-go in dem geschlossenen Café. Die Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht. Bald würde sie mit Sven nichts mehr zu diskutieren haben, spekulierte Tanja, als sie die NEWSLOX-Schlagzeile ihrer FORTSCHRITTSPARTEI auf dem Handy las:

NEWSLOX: FORTSCHRITTSPARTEI versucht Spagat: Nachhaltigkeit und innovatives Wirtschaftswachstum.

Sie verspürte seit Monaten eine gewaltige Enge, die sich um sie legte wie eine Zwangsjacke. Ihre Hosen. Röcke hatte sie aus ihrem Kleiderschrank verbannt. Seit dem Lockdown saßen sie einfach zu knapp. Sie schob die in die Jahre gekommene Tortoise-Sonnenbrille auf ihre Stupsnase und merkte, dass sich die Pandemie bei gutem Wetter ertragen ließ. Nur wie lange noch? Sie vermisste die Bürgerfreiheiten. Keine Freunde treffen, ständig Masken tragen, geschlossene Restaurants, keine Theater und auch die Berlinale war ausgefallen. Ihre Fotogruppe konnte sich nicht treffen, nicht mal, um nur draußen zu fotografieren. Das einzig Gute: dass in wenigen Tagen das Schuljahr vorbei war und sie sich dann völlig dem Umzug widmen konnte. Ihr neues Leben auf Mallorca sollte ein Pflaster werden auf den Wunden, die sie immer noch schmerzten. Ihr Job. Einöde. Bis sie gekündigt hatte. Und vielleicht konnte auf Mallorca nicht alles gut, aber vieles besser werden. Sogar mit Sven.

Der Wind wehte durch ihre roten Haare. Langsam wurden sie länger. Frisöre waren ja zu. Sie nahm den Pappbecher in die Hand und machte sich gemächlich auf den Heimweg. Eilig hatte sie es nie. Hektik kannte sie aus ihrem Elternhaus nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie alle Lehrer waren. Tanja musste lachen bei dem Gedanken.

Selten hatte sie ihre Eltern allerdings so engagiert erlebt wie in den Aufbruchstagen der Parteigründung. Vielleicht lag es nur daran, dass die Partei in Karlsruhe gegründet wurde. Ihrer Heimatstadt. Ihre Eltern mussten halt nicht weit fahren, um sich zu engagieren.

NEWSLOX: Verfassungsschutz warnt vor der Verächtlichmachung der Corona-Politik durch die Ränder-Parteien; Vertrauensverlust der Bürger in das demokratische System Deutschlands zu erwarten.

„Angel dir einen Beamten, Kind“, war der Ratschlag, den sie schon früh hören musste. Und als sie dann, viel zu jung, ihren zukünftigen Unternehmergatten vorstellte, waren die Eltern entsetzt. Die Eltern hatten sie nie verstanden. Sven war nicht der Traumschwiegersohn. Dass er auch nicht der Traummann ohne Macken für sie war, ahnte sie damals noch nicht.

Auf was hatte sie alles verzichtet, der Familie wegen? Damals wusste sie es noch nicht. Sie hatte sich in Sven verliebt und es war keine Frage, dass sie zu diesem Mann ziehen und in Berlin ihr Lehramtsstudium beginnen würde. Denn sie waren vom ersten Augenblick an Soulmates, die die gleichen Werte teilten: Familie, Sicherheit, Verantwortung für die Umwelt.

Sie summte Wannabe von den Spice Girls, als sie die Wohnungstür aufschloss. Ihre Musik in den 90ern.

„Sven, bist du zuhause?“, rief sie gut gelaunt den Korridor entlang Richtung Arbeitszimmer.

„Ja, ich sitz‘ auf der Couch“, kam es aus dem Wohnzimmer zurück. Sven lag vielmehr auf dem Sofa, die Krawatte hing schlaff zur Seite. Der oberste Hemdenknopf geöffnet. Er atmete tief und massierte sich die linke Brust. Tanja öffnete die Tür, schob den Kopf ins Zimmer und sah die Sohlen seiner Halbschuhe. Er hatte die Beine hochgelegt und schaute auf den Fernseher.

„Was ist los, Schatz?“ Sie roch den Whiskey. „Hast du etwas getrunken? Um diese Zeit schon?“

„Der Verkauf des Geschäftes ist geplatzt.“ Er leerte das Whiskey-Glas in einem Zug. „Und ich habe keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll.“

„Oh Gott. Und jetzt? Du warst dir doch so sicher!“ Sie stand auf, ging zum Barschrank, holte die Flasche Hierbas de Mallorca raus und goss sich den grünen trockenen Likör in ein Glas. Er schmeckte nach kräftigen Kräutern. Sie schüttelte sich. Dann füllte sie das Glas noch einmal.

„Möchtest Du auch einen, Liebling?“

„Nein, mir reicht‘s“, und streckte ihr den Arm entgegen. „Corona-bedingt. Wie alles von dieser beschissenen Pandemie bestimmt ist.“

Gedankenabwesend goss sie den Hierbas in Svens Whiskeyglas und reichte es ihm.

„Zum Wohl.“ Tanja leerte auch das zweite Glas in einem Zug und stellte es ab.

„Was machen wir denn nun, Sven?“

„Ich weiß es nicht, Schatz.“

„Kann das nicht doch noch etwas werden?“

„Es klang nicht so.“

„Und ich? Ich habe doch gar keinen Job mehr!“

„Das ist nur eines von vielen Problemen, über die wir nachdenken müssen, Liebes. Ich will gar nicht dran denken, die vielen Mitarbeiter zu entlassen.“ Der sonst so harte Sven. Sie kannte ihn genau.

Es rieselte zu Tanja durch, dass ihre Pläne erledigt waren. Kein Umzug, kein entspanntes Leben mit Fotografie, Yoga und politischen Diskussionen. Was nützte es ihr nun, schlussfolgerte sie, dass sie sich seit Jahren jeden Artikel zum Klimawandel und die Folgen für die Welt reingezogen hatte, wenn sie sich jetzt nicht dafür einsetzen konnte? Weil die finanziellen Ressourcen plötzlich weg waren.

„Ich muss an die frische Luft. Kommst du mit? Wir werden sehen, welche Überraschungen unser Leben noch parat hat.“

Sie antwortete nicht. Hatte sie ihn überhaupt noch gehört?

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