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Kapitel 8 - Ausblick – Impfschleicher – Dezember 2021

Er war verloren. Als er in der Unterführung stand, kein Mensch um ihn herum, wusste er, dass er sich verlaufen hatte. Er schaltete sein Handy ein, um die Karten-App zu aktivieren. Kein Empfang.

Dieser unterirdische Ort war ihm unheimlich. Es stank nach Urin. Nach Fäkalien. Von weiter vorne hörte er Stimmen. Balkan. Raus. Einfach nur raus. Er drehte um und lief los. Schneller. Den Buschner-Rucksack warf er über die Schulter. Die Kälte befeuerte seine Fluchtgedanken. Plötzlich wurde er geblendet. Zwei Scheinwerfer, dann vier.

„Stehen bleiben und Hände auf den Rücken!“, dröhnte eine Aussenlautsprecherstimme.

Er befolgte dem Befehl. Stellte den Rucksack auf den Boden.

„Zeigen Sie uns ihren Ausweis. Rechte Hand. Ganz langsam.“

Er blätterte vorsichtig den Mantel zur Seite und griff zur Gesäßtasche. Umständlich fingerte er die Geldbörse heraus.

„Kann ich die zweite Hand nehmen?“

„Ja, aber langsam und stehen bleiben und weiter ins Licht schauen.“

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Kalter Schweiß. Er hielt den Ausweis heraus in die Luft. Ein Uniformierter stieg aus und kam ihm entgegen. „Was machen Sie hier?“

„Ich habe mich verlaufen.“

„Haben Sie jemanden mit einem Rucksack gesehen, Ihre Größe, schütteres Haar? In den letzten 15 Minuten?

„Nein, was ist passiert?“

„Sie können gehen.“

Wie konnte man ihn nur verdächtigen? Ihn, der so grundehrlich war. Die Welt war verrückt geworden. Er stieg die Treppen hinauf. Dann sah er eine große Menschenmenge vor dem Kino stehen. Ein Krankenwagen im Hintergrund. Blaulicht ohne Sirene. Er ging hinüber, sah die dunkle Blutlache erleuchtet und fragte in die Menge, was denn passiert sei.

„Eine Schlägerei zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften. Wollten nur ins Kino. Einer wurde schwer verletzt. Der Prügler ist abgehauen.“

Er wendete sich ab. Ihm war speiübel. Er musste sich übergeben. Langsam richtete er sich wieder auf, schaute auf das Straßenschild und wusste, wohin er zu gehen hatte. Das war nun das Ergebnis, nach wenigen Monaten Impfen.

Wohin er auch schaute: nur Versager. Die EU. Die Regierung. Die lokalen Politiker. Er. Keine pragmatischen Entscheidungen. Keine Balance zwischen Zugeständnissen und Entbehrungen. Wie konnte er so viele Jahre so blind sein und die ZENTRALEN wählen? Die Kanzlerin hatte den Karren versenkt. Es nützte nichts mehr, über sie zu schimpfen, denn sie war weg. Aber er verspürte Hass. Zumindest Wut, wenn er an die Jahre der Unterstützung seiner Partei dachte. Alles umsonst. Die Konsequenzen der Politik der Kanzlerin würden noch lange zu spüren sein, grübelte er. Er bückte sich, griff in den Schnee und warf einen Schneeball auf ein Schild. „Zutritt nur für Geimpfte.“ Zu dem Zeitpunkt ahnte er schon, dass alles viel schlimmer kommen würde.

Seine Wohnung roch nach Kaminfeuer, es war warm.

„Tanja, bist du zuhause?“

Er bekam keine Antwort und wunderte sich, denn sie würde nie das Feuer offen brennen lassen. Plötzlich hörte er ein Rumpeln aus der oberen Wohnung. Leas Wohnung. Er zog das Kaminglas nach unten, so dass keine Funken auf den Parkettboden springen konnten. Aus der Schale auf dem Vitrinen-Schrank griff er den Schlüssel und stapfte nach oben. Auf sein Klopfen reagierte niemand. Er klingelte kurz, keine Reaktion. Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen klingelte er Sturm und hantierte mit dem Schlüssel, als Lea die Tür einen Spalt öffnete, gerade so, als würde sie einen Einbrecher erwarten.

„Papa?“

„Ja, wer sonst klingelt direkt an der Tür? Ist Mama hier?“

Lallend rief Lea in den Raum, „Aufgepasst haha, der Herr Papa ist da“, und lachte sich schief über ihren eigenen Reim. Sven sah seine Frau, kichernd und giggelnd mit Melanie anstoßen. Er roch den Sekt und sah die drei leeren Flaschen.

„Auf unsere mutige Tat.“

„Auf die mutigen Frauen“, sekundierte Lea, bis auch Melanie irgendwas über Mut faselte.

Die Drei fläzten sich auf den Sofas. In ihrem Wohnbereich. Zum Schlafen ging sie in ihre Barbiewelt. Die alte Puppenkiste hatte sie noch aufbewahrt. Der Jugendschreibtisch daneben. Am liebsten lag sie auf dem Sofa, so wie jetzt, nur meist allein.

„Können die Damen mich mal dankenswerterweise auf den Stand bringen?“

„Klar“, antworte Tanja und die beiden anderen prusteten.

„Nachdem es bei meiner Freundin Carola mit dem Impfen nicht geklappt hat, kam uns eine andere Idee. Deshalb sind wir böse Erschleicherinnen von Impfstoff.“

Wieder giggelten die drei.

„Ihr seid was?“, fragte Sven irritiert.

„Du hättest mir ruhig mal erzählen können, dass du die Melanie schon so lange kennst“, trötete Tanja in stärkstem badischem Sing-Sang.

Sven froren die Sinne. Melanie musste es ihr gesagt haben. Er zählte schon rückwärts, bis die Granate hoch gehen würde.

„Keine Sorge, mein Lieber. Ich habe nichts von unserem wirklichen Geheimnis verraten“, lallte nun auch Melanie.

Er hielt die Luft an.

„Also, deine Frau steckt hinter der Aktion. Sie war gestern im Impfzentrum und wollte geimpft werden, da sie angeblich ihre Schwiegermutter pflegt“, fuhr Melanie fort.

„Dann wurden die aber misstrauisch“, ergänzte Lea.

„Warst du da auch dabei?“

„Na klar, als Backup. Aber weil die Impftante skeptisch war, hat sie Oma angerufen. Und die wusste natürlich von nichts und puff, ist unsere kleine Lüge explodiert.“

Lea stand auf, machte einen Schritt nach vorne, stolperte über ihre langen Beine und fiel zurück in den Sessel.

„Na gut, für das Migrantenheim ist im Gesundheitsamt doch so ein junges knackiges Leckerchen zuständig. Ich kenn ihn noch aus der Zeit, als das Heim gebaut wurde.“

Melanie pausierte für einen Moment und hing dem Gedanken nach, wie ernst es ihr damals war, das Heim zu bauen. Sie grinste, denn sie war sich treu geblieben, dachte sie. Engagement für die Sache. Und weil sie an den Abteilungsleiter des Amtes denken musste in dem Moment.

„Den hab‘ ich neulich getroffen und er konnte nicht aufhören, mir auf die Möpse zu glotzen. Wie früher schon, nur damals durfte er nicht ran. Diesmal schon.“

Tanja prustete los und Lea schob sich ihre Brüste zusammen.

„Auf die großen Titten.“

Sven schüttelte den Kopf. Konnte aber nicht umhin, einen Blick auf ihren bewundernswerten Körper zu werfen. Sie war wirklich eine hübsche junge Frau geworden, sinnierte er. Seine Tochter.

„Also hab‘ ich ihm einen schönen Abend mit mir gegönnt. Und für mich war‘s auch aufregend“, und blies ihre linke Backe rhythmisch auf. Sie klopfte sich dabei auf den Schenkel.

„Und was hat das nun mit eurem Impfschleichertum zu tun?“

„Ach Papa, du stellst dich aber auch dämlich an.“

„Der geile Bock hat Melanie gefickt und ihr dafür versprochen, sie und drei Freundinnen auch außerhalb der Priorität zu impfen.“

„Geile Geschichte, oder Papa?“

„Ich gönn‘ es euch“, sagte Sven. „Aber in Ordnung finde ich das nicht. Das ist der Anfang der Anarchie.“

„Ach mein lieber Gatte, du bist so ein Spießer. Lass uns doch mal unseren geliebten Staat bescheißen.“

„Ihr bescheißt nicht den Staat, sondern eure Mitmenschen. Und das ausgerechnet ihr, die Linke und die Progressive.“

„Mensch Papa, jetzt lass mal Luft ab. Du laberst eine solche Scheiße. Ich hab‘ die Chance, mein Leben etwas sicherer zu machen, ja vielleicht auf Kosten von ein paar anderen. Und du freust dich nicht. Wenn du so ans System glaubst, warum hast du dann die Nazis gewählt?“

Schlagartig sank die Temperatur im Raum.

„Euer Gewissen. Ihr müsst damit leben. Ihr unterstützt die Spaltung der Gesellschaft. Ihr lebt auf Kosten derer, die die Impfung dringender brauchen.“

In diesem Moment sprach Eiszeit aus allen Gesichtern. Als Sven die anderen ansah, dachte er, er hätte lieber nichts gesagt. Die Kombination dieser drei Frauen konnte für ihn nur zum Desaster werden.

Brenzlige Wahlen

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