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Kapitel 3 - Rückblende – Einzelhandel – Juni 2021

Wie benommen begann Sven in dem cognac-farbigen Drehstuhl zu wippen, als ob er die Wirkung so hätte abfedern können. Um 11:15 Uhr war die Videokonferenz beendet und seine Welt in sich zusammengefallen. Er ging hinüber zum Sekretär, öffnete die Glaskaraffe und goss sich einen Jameson Black Barrel Whiskey ein. Seine Beine zitterten, als er sich auf das Ledersofa setzte, auf dem er sonst gern in ein Nickerchen verfiel. Er stürzte das Glas hinunter. Schüttelte den Kopf. Der Verkauf der drei Filialen des Koffer- und Taschengeschäftes von Lederwaren Buschner hatte als sichere Sache gegolten. Es sollte doch ihr Ticket sein in ein neues Leben. Mallorca. Mit viel Sonne. Und wenig Sorgen. Was hatte er nicht alles durchgemacht, um das zu erreichen?

Die Videokonferenz begann pünktlich. Noch kürzer als sonst fiel die Begrüßung aus. Der Käuferanwalt redete nicht drumherum. Er entschuldigte seinen Mandanten und schaute Sven durch den Bildschirm warnend an – vor dem, was gleich einschlagen sollte.

NEWSLOX: Handel mit Textilien und Lederwaren durch Corona-Pandemie im Jahresvergleich um fast 40 Prozent eingebrochen, Internet- und Versandhandel annähernd in gleicher Höhe gestiegen.

Sven führte das Geschäft in dritter Generation und seine Eltern hatten nichts gegen den Deal. Corona hatte den Wunsch verstärkt, die Firma loszuwerden. Wenn die Menschen nicht verreisen konnten, kauften sie auch keine Reisetaschen. Tanja hätte sich als Fotografin versuchen können, sein Sohn würde in ein paar Wochen in ein Internat nahe Brighton gehen und seine Tochter war froh, wenn sie ihre Eltern im Drei-Generationen-Haus nicht ständig sah. Für ihn war es kein Problem, sein Netzwerk in Berlin zumindest für eine Weile ruhen zu lassen. Dann konnte er den Erinnerungen leichter entfliehen. Erinnerungen, die über sein Leben zogen wie schwarze Wolken im Gewitter.

Er konnte nach diesem unerwarteten Schlag nicht sofort über die Konsequenzen nachsinnen. Er ging zum Sekretär, goss sich ein zweites Glas ein, als ob er sich Mut antrinken müsste. Kein Mann für Krisen. Sicherheit, ja Stabilität. Wäre da nicht der tiefe Wunsch nach einem stressfreieren Leben, hätte ihn nichts nach Mallorca gezogen. Aber er wollte die Stunde null. Einen Neustart. Und vergessen. Er hasste unvorhergesehene Ereignisse. Nach außen konnte er es verbergen, aber in ihm wütete es, wenn er in Schwierigkeiten rutschte. Harte Schale, weicher Kern.

Seit er als Kind seine Schwester bei diesem Fahrradunfall verlor, lag dieses Trauma über ihm. Die Narbe auf seiner linken Brust erinnerte ihn täglich von neuem an den Unfall. Die Arme sich berührend fuhren sie auf dem Deich in Holland. Plötzlich ein Schlagloch. Dieses verdammte Stück nicht reparierter Straße. Sie zog den Lenker von ihrem kleinen Holländerrad zur Seite und begann zu rollen. Den Deich hinunter. Immer schneller. Dem Wasser immer näherkommend. Er schrie. Sie hörte ihn nicht. Er knallte auf den Boden, riss sich die Haut an der Fahrradbremse auf. Immer wieder kam diese Erinnerung. Aber seine Schwester raste ins Wasser. Konnte nicht mehr bremsen. Keine Chance. Sie ertrank. Es machte ihn heute noch wütend und hatte ihn geformt. Heute konnte er Schmerzen verbergen. Aber wie kann ein Mensch so etwas vergessen? Sollte er je wieder angstfrei sein?

Die letzten fünfzehn Jahre waren hart für das Unternehmen. Es gelang ihm aber, aus der Finanzkrise heraus zu segeln. Aber jetzt: Ihm graute vor dem Gedanken, dass ihre Pläne nun verrauchten. Er lief in die Küche und schritt an vier großformatigen Windmühlen-Bildern vorbei, die Tanja auf Mallorca fotografiert hatte. Die gleiche Mühle, die gleiche Tageszeit, der gleiche Standort, vier Jahreszeiten. Er lächelte. Sie waren so kurz davorgestanden.

In der Videokonferenz wollte er mit dem Anwalt der Käuferseite die letzten Feinheiten des Vertrages besprechen. Inzwischen hasste er Videokonferenzen. Das unpersönliche Format, das keinen Small-Talk zuließ und eine konsequente Agenda verlangte. Er trug einen Anzug. Dunkelblau. Selbst auf die Krawatte verzichtete er nicht. Blau-gelb. Ein wenig altbacken. Sein grau-meliertes Haar fein frisiert, Seitenscheitel. Der einzig offene Vertragspunkt waren die finanziellen Garantien des Käufers. Drei Monate hatten sie verhandelt und ohne Corona wäre das Geschäft lange über die Bühne. Mallorca war so nah.

Er griff nach einem Apfel in der Obstkiste, die neben der Küchenzeile stand. Sven biss in den Apfel wie in die verbotene Frucht. Was würde noch kommen?, fragte er sich. Er war wütend, dass die Politik unfähig war, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Seine Partei. Die ZENTRALE PARTEI DEUTSCHLAND. Er erinnerte sich, dass er voller Überzeugung schon damals in die Jugendorganisation eingetreten war. Und ihr immer die Treue hielt. Aber jetzt?

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