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Kapitel 1 – Wahlparty – September 2021

Sie waren so unfassbar lang. Die Schlangen. Fast 1.000 Meter. So etwas hatte man in West-Berlin seit der Luftbrücke nicht mehr gesehen. Mit jedem Meter zur Wahlurne stieg die Spannung. Würden sich die Prognosen erfüllen? Würde es zum Erdrutsch kommen?

Mit Maske und Abstand bewegten sich die Menschen hin zur Wahlkabine in der Rheingaustraße in Schöneberg. Tanja und Sven Buschner hatten wie immer per Briefwahl gewählt. Trotz der Warnungen in den Nachrichten, dass Briefwahl eventuell nicht sicher sei. Der Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde schien die Menschen zu motivieren. Wahrnehmung demokratischer Pflichten nach sechzehn Jahren Bundeskanzlerin.

Sven schlenderte in seinem hellen Sommeranzug die Straße entlang, weißes Hemd und Slippers. Anzüge waren sein Markenzeichen. Alle Farben, jeden Tag. Auch wenn die meisten seit einer ganzen Weile am Bauch spannten. Tanja hatte sich bei ihm untergehängt. Trotz ihres gemütlichen Gangs ließ die Sonne sie schwitzen. Sie trug ihre lila Lieblingsbluse und die ausgefranste grüne Hose. Zu ihrem roten Kurzhaarschnitt passten die kleinen, filigranen Ohrstecker. Schmuck war ihr nicht so wichtig. Aber ihre helle Tortoise-Sonnenbrille schon.

Sie mussten sich beeilen. Für 16:00 Uhr hatten sie Freunde zu ihrer verbotenen Wahlparty eingeladen. Die andere Hälfte der Gruppe traf sich bei den Müllers in Zehlendorf und kam per Video-Konferenz dazu. Tanja nahm dieses kleine Risiko auf sich. Als Rebellin war sie stolz darauf. Manchmal im Leben galt es, die Ketten zu sprengen. Es gelang ihr viel zu selten, dachte sie in letzter Zeit öfter.

Zeitgleich kamen Matthias Umpner und Melanie Haupt bei den Buschners an.

„Bist du nicht jüngst bei unserem Wohltätigkeitsclub, den Aramisern, aufgenommen worden? Matthias war dein Name, richtig? Ich bin Melanie, jetzt mal live.“

„Stimmt. Hallo. Schön, dich kennen zu lernen.“

Sein nonchalantes Lächeln steckte Melanie an. Er öffnete die Arme. Dabei musste er sich ziemlich streckten, denn in ihren hochhackigen Stöckls war sie fast einen halben Kopf größer als er. Von ihrer offenen Bluse ließ er sich nicht beeindrucken. Er war ein Schelm mit blauen Augen.

„Deine positive Lebenseinstellung, die du auf alle Menschen übertragen möchtest, ist mir im Kopf geblieben.“

„Danke. Jeder sollte andere respektieren. Macht das Leben vorurteilsfrei. Bin unabhängig davon. Leute mögen mich oder nicht.“

„Das nenn‘ ich mal eine Vorstellung.“

„Ich sag‘, wie ich bin, entweder kommst damit klar oder wirst mich nicht leiden können. Bin so.“

Melanie grinste. Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Ihre Köpfe gingen nach oben, als Sven vom Balkon rief:

„Wollt ihr nicht doch hochkommen?“

„Musst aufmachen.“

„Dazu musst du erstmal klingeln.“

Melanie stapfte die Treppe hoch. Matthias nahm zwei Stufen auf einmal. Blaue Sneakers, blaue enganliegende Jeans, roséfarbenes Sommerhemd. Von hinten gefiel er ihr auch.

Während Sven oben auf sie wartete, dachte er an die früheren Wahlen. Seit 1994 verbrachten Tanja und er jeden Bundestagswahlabend zusammen. Sie hatten sich bei Tanjas Abi-Fahrt kennengelernt und ineinander verliebt. Die Unterstützerin der FORTSCHRITTSPARTEI und das Parteimitglied der ZENTRALEN PARTEI DEUTSCHLANDS. Ihre konträren politischen Ansichten waren für sie immer ein Kick gewesen. Sie wussten nicht, welche harten Proben ihnen auch deshalb bevorstanden.

Ob über die Parteiprogramme, ob über reale Politik in ihrem Kiez, ob über die bewegenden Themen der Zeit – sie hatten ihre Diskussionen. Sven schmunzelte, denn als Lehrerin konnte Tanja kaum nachvollziehen, wie ihr Unternehmergatte, Inhaber von Lederwaren Buschner, und sie so unterschiedliche Ansichten vertreten konnten. In früheren Jahren hatte sie ihm schon einmal einen Blumentopf hinterhergeworfen, wenn er sie zur Weißglut getrieben hatte.

Obwohl er gerne Menschen zusammenbrachte, fragte er sich, ob es so eine gute Idee war, ihr heute erst, nach vielen Jahren, Melanie offiziell vorzustellen? Er zweifelte. Eigentlich konnte das nicht gutgehen.

Ab dem zweiten Stock schnaufte Melanie schwer und Matthias lief langsamer. Es lag nicht an ihrem eleganten Sommerkleid. Die Folgen ihrer Naschsucht, zu Pralinen als Betthupferl konnte sie nie nein sagen, ließen sich schon seit Jahren nicht mehr verbergen. Außer Atem oben angekommen, beklagte sie sich mit einem blinzelnden Auge, dass Matthias sie hätte tragen sollen. Sven nahm sie für einen Moment zur Seite und legte fast flehend den Zeigefinger vor den Mund. Sie nickte stumm. Dann stellte er sie seiner Frau und seiner Tochter vor. Melanie erinnerte ihn süffisant an eine frühere Begegnung im Ruderclub am Wannsee. Peinliche Stille für einen Moment. Sven drehte sich um, als ob er seinen pochenden Herzschlag verbergen wollte. Als Lea ihr die Hand reichte, ebbte seine Spannung ab, erst recht als sie anfing, über ihn zu lästern. Die Gefahr war gebannt. Für den Moment. Aber Melanie zog die Augenbrauen nach oben.

Buschners durchsanierte Altbauwohnung war groß, hell, modern eingerichtet. Die weiße, offene Küche harmonierte perfekt mit dem Glastisch und den Stühlen im Essbereich. Dunkelbraunes Eichenparket. Große Fassadenscheiben. Pedantisch sauber, wie ein polierter Kühlergrill. Fast männlich. Es war nicht nur Schmuck, für den sich Tanja nicht besonders interessierte.

Auf dem großen Fernseher an der Wand war die andere Gruppe aus Zehlendorf bereits zugeschaltet. Einer hielt ein Stimmzettelimitat hoch. Man konnte ihn nicht hören. Tanja hängte sich sehnsuchtsschwer bei Matthias ein, reichte ihm ein Bier und nippte an ihrem Weißwein. Sie jammerte ihm leise ins Ohr, wie schwer alles für sie sei, ohne Mallorca, ohne Job. Sein durchtrainierter Arm umschlang sie wie ein Klettergewächs, zog sie an sich heran und er flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Du bist mein Retter“, hauchte sie ihm zu, errötete und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Wieder klingelte es an der Tür. Mit ihren unendlich langen Gazellen-Beinen stolzierte Lea Buschner in ihren knallengen Jeans zur Tür. Model-Maße. Enganliegendes T-Shirt in Weiß. Ihre Mutter hatte sie zur mehr Zurückhaltung aufgefordert. Mit „mir egal“ hatte sie sie abgefertigt. Sie drückte den Summer.

Dann stand er vor ihr. In seiner rot schimmernden afrikanischen Lederjacke, lässigen Cordhosen und blauem Hemd. Gewagt, dachte Lea - aber beeindruckend. Sie freute sich, dass sie nicht mehr allein die Jüngste war. Man sah das Wow. Da war etwas in der Luft. Eine Art von gegenseitiger Anziehung, die nur möglich ist, wenn man noch viele Hormone hatte.

„Mein Lieblingsteil“, zog er verlegen am Revers der Jacke. Er traute sich nicht über die Türschwelle, aber bedankte sich brav für die Einladung des Vaters, der im Hintergrund Melanie und Tanja mit seinen Blicken in Schach hielt. Er hätte offensichtlich einen guten Eindruck hinterlassen, meinte Lea und zog ihn zur Tür rein.

„Flirtest du etwa mit mir?“, fragte Davide.

„Natürlich nicht, du bist doch ein Bekannter meines Vaters.“

Beide lachten. Gedacht hatte sie etwas anderes. Seine runde Brille war ein Hingucker auf seinem komplett rasierten Schädel. Und sie guckte den schwarzen Mann aus Nigeria gern an. Schon jetzt.

Tanja ergriff einen Löffel und klopfte an ihr leeres Glas, begrüßte die Gäste, beschwor die Außergewöhnlichkeit dieses Tages für Deutschland und eröffnete ihre hybride Standort-Party. In dem Moment trat ihr Sohn Julian durch die Tür, schlürfte zum Büffet und lud sich den Teller voll. Tanja stellte ihn vor. Julian wollte nur weg. Peinlich, diese Erwachsenen. Er schenkte sich noch eine Cola ein und machte sich davon. Kopfschütteln bei Vater und Mutter.

Sven füllte ihr Riesling nach. Tanja zuppelte an ihrer feinen Halskette, die nicht zu den Ohrsteckern passte. Um dann mit dem lahmen Satz die Stimmung nicht gerade anzufachen, dass heute deshalb ein großer Tag für das Land sei, weil Julian heute zum ersten Mal erlebe, dass auch Männer Bundeskanzler werden könnten. Melanie gähnte abschätzig, griff Matthias‘ Hand, führte sie unauffällig entlang ihrer drallen Oberschenkel und schleifte ihn aufs Sofa. Sie spürte in ihrem Rücken, wie Sven sie beobachtete – diese unheilige Allianz. In der Politik wie im Leben: Partner sollten sich besser prüfen, bevor sie sich binden.

„Wie wäre es, wenn jeder tippt, wie die nächste Regierung aussieht?“, schlug sie vor, um den Kreis aufzulockern.

Georg aus Zehlendorf begann, schob sich vor die Kamera, öffnete seine Elefantenbemusterte Krawatte und erklärte stolz, dass er die FREIBERUFLER PARTEI gewählt habe, weil er echte Klientelarbeit für Leistungsträger der Gesellschaft schätze. Melanie griff zu einem der Rotweingläser, die schön aufgereiht auf dem Sofatischchen standen. Sie brauchte Alkohol. Der nächste Zehlendorfer hielt ein Plädoyer für die RADLERPARTEI. Grün-liberal, dachte sie. Er wünschte sich dringend eine Partei, die nicht nur aufs Auto, sondern auf Fahrradwege und alternative Verkehrsströme setze.

„Papa, darf ich auch?“

„Klar, mach.“

Mit dünner Stimme begann sie: „Die Aussagen von eben unterstütze ich.“ Sie räusperte sich. „Wenn es nicht bald gelingt, den CO2-Footprint zu verringern, ist meine Generation voll am Arsch.“

„Lea!“, schnaubte ihre Mutter.

Jetzt wird’s spannend, dachte Melanie und schob Matthias‘ Hand von sich. Sie spitzte die Ohren.

„Sorry, ich meine, dass die jungen Menschen nichts für die Autoversessenheit ihrer Alten können. Aber die Lasten müssen wir später tragen. Das ist nicht fair. Ich hoffe, die PJD kommt in die Regierung.“

„Wer?“, hallte es aus dem Fernseher.

„Die Partei JUNGE FÜR DEUTSCHLAND.“

Stille auf der anderen Seite.

„Stehen die links oder rechts?“

„Mitte-links.“

„Lea hat einen guten Punkt.“ Melanie rückte ihren Rock zurecht und robbte sich, seelöwengleich, zur Kante des Sofas. „Ich gehöre zwar nicht mehr zu den ganz Jungen, aber mir würden die Linksaußen, meine geliebten RUBINEN, in der Regierung mit den Ökos gefallen. Voller Fokus auf die Hilfsbedürftigen der Gesellschaft.“

Melanie wollte fortsetzen, aber Tanja stieg auf den Stuhl und ging ungewohnt schlagfertig dazwischen. Sven deutete ihr an, wieder herunterzusteigen, was sie ignorierte.

„Genau, wir brauchen eine Koalition der ökologisch-orientierten Parteien. Klarere Positionen für eine nachhaltige Welt“, donnerte sie wie von der Kanzel, immer den Blick auf Matthias gerichtet. „Oder?“, forderte sie ihn auf, zu übernehmen.

Der zögerte für einen Moment, legte die Beine lässig übereinander, nahm das Bier in die andere Hand und schaute sich fragend um. Er wollte sich nicht blamieren.

„Unterstütze die HANDWERKER-PARTEI. Die stehen für Tradition und Wandel. Mein Logistik-Unternehmen ist auch ein Handwerksbetrieb. Durch Einsatz von Fahrradkurieren entlasten wir den Verkehr und kommen schneller zum Kunden.“

„So öko? Ich hätte dich mehr auf dem sehr konservativen Flügel gesehen“, frotzelte Melanie und kniff ihm dabei in den Hintern.

Sven reagierte angespannt. Die beiden durften sich nicht zu nahekommen. Das war gefährlich. Gefährlich für alle. Matthias sah ihn an, nickte vielsagend mit dem Kopf.

„Hatte einfach zu viel negative Erfahrung mit den Rechten, ziehen zu viele schräge Vögel an“, erwiderte er, wieder in Svens Richtung blickend.

Spinnt der, dachte Sven. Wieso dieser Blick? Aber warum fühlte er sich überhaupt angesprochen? Matthias konnte nichts wissen.

„Was willst du denn damit sagen?“, echauffierte er sich und machte ein paar Schritte auf ihn zu.

„Oh oh, Sven, halt die Zügel im Zaum. Unsere Kampfzeiten sind lange vorbei“, besänftigter er ihn, begleitet von seinem fröhlichen „mir-kann-keiner-was“-Grinsen.

Tanja schaute irritiert zwischen beiden hin und her. Auch Melanie war verwirrt über diesen Wortwechsel. Was war die Geschichte, die die beiden verband? Vielleicht konnte ihr das nützen.

„Ihr wisst ja, wo ich bisher politisch stand“, war Sven als nächster dran. Er machte eine Kunstpause. „Aber die bisherige Regierungskoalition hat ihre Chancen verwirkt. Wo haben die uns denn vor dem Virus beschützt? Erst keine Masken, dann keine Tests und jetzt keine Impfungen. Und dieser verdammte Lockdown geht doch nur auf den Rücken des Handels.“

Er nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.

„Die Beamten haben keinerlei Einbußen. Der halbe öffentliche Verwaltungsapparat hockt daheim und tut nichts, weil die Kommunen und Länder kein Home-Office ermöglichen. Aber der Einzelhandel schmiert ab. Obwohl wir Hygienekonzepte entwickelt haben. Die Regierung kriegt es nicht gebacken. Es ist einfach zum Heulen. Jetzt ist Tag der Abrechnung. Man muss sich ja nicht alles gefallen lassen. Und wie soll man sich sonst wehren? Als Demokrat. Also Freunde, auch auf die Gefahr, dass ihr mich jetzt für bekloppt haltet, ich habe dieses Mal Protest gewählt - von rechts.“

Acht digitale Augenpaare und fünf Personen im Raum stierten auf ihn. Zehlendorf war stumm. Tanja stieg vom Stuhl wie Jeanne d’Arc vom Scheiterhaufen. Langsam ging sie auf ihren Mann zu. Die Freunde schauten ihr gespannt zu. Sie stellte sich vor Sven. Wartete und zählte bis fünf. Dann knallte sie ihm eine. Seine Wange leuchtete rot. Tanja verließ wortlos das Zimmer. Matthias schaute seinen Kumpel Sven an und winkte mit dem Kopf in ihre Richtung. Der nickte und Matthias lief Tanja leise hinterher. Melanie beobachtete die Szene schweigend. Beeindruckt, überrascht, irritiert.

Das war‘s dann wohl mit der wohltuenden Streitkultur, dachte Sven. Und es traf ihn, denn die Familie war alles für ihn. Dafür hatte er bisher wie ein Verrückter geschuftet. Doch die Pandemie brachte sie an die Grenzen. Besonders Tanja. Er hatte Sorge um ihre gemeinsame Zukunft.

In dem Moment erklang aus dem Hintergrund die Melodie der Tagesschau. Die ersten Kommentare zur Wahl kamen durch. Die ökologisch orientierte FORTSCHRITTSPARTEI war Wahlsieger und erreichte zusammen mit der ZENTRALEN PARTEI DEUTSCHLANDS 43 Prozent der Stimmen. Eine solide Mehrheit war nur mit der rechten ANTI CORONA PARTEI machbar, was die Parteien bereits im Vorfeld ablehnten.

Ohne die kleinen Parteien ging also nichts. Zum ersten Mal würde es in Deutschland eine MINDERHEITSREGIERUNG geben.

Die Deutschen, Lämmern gleich, hatten es also getan. Der Stimmung im Land gefolgt. Das Corona-Leiden war entscheidend. Die Schwächen der Regierung zu sichtbar. Für jedermann. Die Kanzlerin wurde aus dem Amt gejagt. Eine neue Zeit brach an, die den Deutschen alles abverlangen sollte. Genau wie den Buschners.

Würden es andere wirklich besser machen? Sven hatte viele Fragen im Kopf, aber die Wichtigste war: was würde ein politischer Wechsel mit dem Land und seiner Familie machen? Alles stand auf dem Spiel. Alles.

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