Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 46
Die Wächter von Valheel
ОглавлениеLois wollte kein Gemetzel veranstalten. Er wollte nur ein paar ausreichend große Lücken in die Gorgenblockade schießen, um die Gorgens in die Flucht zu schlagen und um seine Orlocks durchschlüpfen zu lassen.
Orlocks waren schlanke flugfähige Nagetiere mit einem pfeilförmigen Körperbau. Diese Tiere waren Tarnungskünstler. Wenn sie an Bäumen nach Nahrung suchten, verstanden sie es hervorragend, sich der Farbe der Borke anzupassen. Sie sollten sich nun an die Zugtaue der Borus haften und diese Seile dann durchbeißen, damit die Brücke unkontrolliert herabfallen und zerstört werden würde.
Sie zu züchten und zu dressieren war eine Lebensaufgabe. Deshalb schätzte Lois sie besonders. Sie waren seine Geheimwaffe. »Schickt sie rüber!«
Ein kleiner Schwarm der fliegenden Nager nutzte das Chaos in der Gorgenarmee und passierte sie unbemerkt.
Auch die anderen Anführer der übrigen Häuser der Ahnenländer schickten die Geheimwaffe los.
»Stellt das Feuer ein!«, befahl Lois.
Es waren nur noch wenige Gorgens übrig geblieben. Die meisten waren geflohen. Einige hatte der Tod ereilt.
Lois überprüfte seinen Geist. Er wollte feststellen, ob seine Gedanken von Koros abgehört wurden. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass seine Gedanken ihm alleine gehörten. Der Herrscher war anscheinend anderweitig beschäftigt.
Und das war tatsächlich der Fall. Koros schrie wie von Sinnen auf die Bändiger der Borus ein. Sämtliche knapp einhundert Borus waren mittlerweile allesamt vor die gänzlich ausgezogene Brückenkonstruktion, welche bereits in einen spitzen Winkel gesenkt worden war, an insgesamt zehn Seilen gespannt. Je weiter die Brücke herabgelassen wurde, desto größer wurde das Zuggewicht, dem die Lasttiere standhalten mussten.
Obwohl Koros am liebsten die Peitschen bei den Bändigern selbst verwandt hätte, ließen sich diese nicht aus der Ruhe bringen, da sie genau wussten, dass ein zu rasantes Vorgehen die Brücke zerstören würde.
Während der Herrscher noch seine Stimmbänder bis zum Äußersten reizte und die Brücke Zentimeter für Zentimeter unter Ächzen und Knarzen gesenkt wurde, landeten die Orlocks unbehelligt auf den dicken Seilen aus Hanf und begannen sogleich mit der Arbeit. Ihre scharfen Zähne schnitten sich mühelos durch die Fasern.
Schnell schrumpfte das erste Seil an der Bissstelle auf ein Zehntel seiner Ursprungsdicke. Erst als es der Spannung nicht mehr widerstehen konnte und es nach dem Reißen peitschend zurückschnellte, wurden die Orlocks entdeckt. Koros entdeckte sie und war außer sich, dass niemand sie bemerkt hatte.
»Kümmert euch um diese Viecher! Aber schießt nicht auf sie, sonst beschädigt ihr die Seile!«
Koros war rasend vor Wut, weil er diesen Zug nicht vorhergesehen hatte.
Die Brücke befand sich gerade in einem gefährlichen fünfundvierzig Grad Winkel. Wenn noch weitere Seile reißen würden, dann wäre die Konstruktion verloren.
Eine Handvoll Gorgens, die der Feuersbrunst entkommen waren, eilte herbei und stürzte sich auf die Orlocks.
Die Nager erwiesen sich dabei als äußerst hartnäckig. Sie ließen sich nicht ohne Weiteres vertreiben. Die Attacken der Gorgens beantworteten sie mit schmerzhaften Bissen.
Das zweite Seil riss und die Borus, die daran hingen, stolperten schlagartig vornüber. Dabei begruben sie zwei der Bändiger unter sich, denen die Atemluft aus den Lungen gepresst wurde.
»Beeilt euch! Vertreibt sie!«, kreischte Koros. Er machte Anstalten, an einem der Seile hochzuklettern, um sich persönlich der Störenfriede anzunehmen.
Einen Herzschlag später verabschiedete sich das dritte Tau. Und dann sogleich das vierte.
Die verbliebenen Borus, bei denen die Seile noch nicht angenagt waren, wurden unfreiwillig von der schweren Brücke nach hinten gezogen. Die Kräfteverhältnisse wurden umgekehrt: Nicht mehr die Borus kontrollierten die Neigung der Brücke, sondern die Brücke zog jetzt an den Borus. Kaum wahrnehmbar senkte sich das Konstrukt trotz Gegenhalten der übrigen Tiere. Die Lasttiere stemmten sich mit aller Macht gegen das Übergewicht. Ihre Hufe rammten sich in den sandigen Boden. Die Bändiger ließen die Peitschen im Sekundentakt knallen.
Aber alles half nichts. Die Brücke war bereits zu tief abgesunken und ihr Gewicht war nicht mehr zu halten. Die letzten Meter senkte sie sich unaufhaltsam und immer schneller.
Koros ergriff ein durchtrenntes Seil und zerrte wild daran, um das Unvermeidliche zu verhindern. Seine Scheu, sich in diesem Augenblick vor seine Untergebenen zu blamieren, war verpufft. Sein Plan war bis ins Detail durchdacht worden. Bis auf die Orlocks. Wahrlich eine Geheimwaffe.
Die schwere Konstruktion prallte darauffolgend erdbebengleich mit dem anderen Ende auf das Klippengestein der Ahnenländer und löste dabei keilförmige Brocken vom Rand der Schlucht.
Fast sämtliche Querverstrebungen der Konstruktion barsten gleichzeitig wie Streichhölzer und splitterten in alle Richtungen.
Die Bodenpartie des Bauwerks, mit Hilfe derer Koros die gegenüberliegende Seite ruhmreich erobern wollte, knickte an drei Stellen zusammen. Der klägliche Rest der Brücke machte sich daran, den Flug in die Tiefe anzutreten.
Siebzehn Borus wurden mitgerissen. Die anderen konnten von ihren Bändigern vom Zuggeschirr noch rechtzeitig befreit werden. Mit einem nachhallenden Rumoren und begleitet von den panischen Hilfeschreien der Lasttiere donnerten die Trümmer durch den Felsspalt.
Der danach folgende Aufprall war die Einleitung für eine unerträgliche Totenstille, die sich über der Barriere ausbreitete.
Für Jubelschreie auf der Ahnen-Seite über einen vorzeitigen Sieg über das Böse war es noch zu früh. Man hatte die zweite Brückenkonstruktion entdeckt, die auf ihren Einsatz wartete.
Doch das würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen, denn Koros musste Ersatz für die verloren gegangenen Borus finden.
Und genau diese Verzögerung seines Feldzuges könnte für ihn zum Verhängnis werden.
Als nämlich die Brückenteile an den Steilwänden vorbei in die Tiefe gerauscht waren, hatten sie auch mehrere Höhlen passiert, die im Fels dunkle Schatten bildeten. Hinter diesen Schatten verbarg sich etwas, das durch den Lärm geweckt wurde. Und darüber nicht sonderlich glücklich war. Feuerrote Reptilienaugen blitzen in der Dunkelheit der feuchten Grotten auf.
Lois konnte ihr Erwachen fühlen. Es waren die Wächter. Ein Vermächtnis desjenigen, der diese große Felsspalte geschaffen hatte:
Es waren die Wächter von Valheel.