Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 52
Das Portal wird geöffnet
Оглавление»Du kommst spät«, sagte Koros und betrachtete sein Gegenüber mit Herzensruhe.
»Spät vielleicht. Aber nicht alleine«, erwiderte Antilius.
Er wies hinter sich. Koros Augen folgten seinem Fingerzeig. Weil er zunächst nichts außer seiner eigenen Armee in gebührendem Abstand im Halbkreis um sich und Antilius herum warten sehen konnte, wollte er schon selbstgefällig auflachen. Doch dann veränderte sich hinter Antilius etwas.
Ein leuchtender bronzefarbener Lichtspalt tat sich dort auf. Er schwebte über dem Erdboden. Der Spalt gewann an Länge. Ein gläsernes Klirren erschallte. Und dann sah Koros, wie jemand aus dem grellen Spalt trat, genauso wie zuvor Antilius. Es war ein Mensch. Es war der Begleiter von Antilius. Mit ihm hatte Koros sich nicht beschäftigt. Für ihn war er eine einflusslose Variable in seiner Gleichung der Macht.
Gilbert gesellte sich zu seinem Freund. »Wie war mein Auftritt?«, erkundigte er sich gut gelaunt.
Koros machte einen grimmigen Gesichtsausdruck. »Ist das deine Armee? Ist das deine Geheimwaffe, um mich zu besiegen? Ich fasse es nicht! Wie es scheint, habe ich dich völlig überschätzt, Antilius. Ich nahm an, du wärst ein ebenbürtiger Gegner. Ich glaubte, du würdest mich verstehen. Aber jetzt erkenne ich, dass du genauso klein und unbedeutend bist wie alle anderen.«
»Äh, wenn ich was sagen darf«, unterbrach ihn Gilbert. »Wir sind nicht die Einzigen. Sieh genau hin! Da kommt noch jemand, der sich schon tierisch darauf freut, dich kennenzulernen.«
Gilbert war es gelungen, echte Verwunderung auf das Gesicht des Herrschers zu zaubern. Wieder fiel dessen Blick auf einen Lichtspalt, der sich öffnete und größer wurde. Ein zweiter Spalt kam hinzu. Und ein dritter. Ein vierter. Es wurden immer mehr. Dreißig oder vierzig. Alle Spalte leuchteten innerhalb der gedachten halbkreisförmigen Linie, die durch die Statuen gebildet wurden, auf.
Der Unterschied zu jenem Spalt, aus dem Gilbert gekommen war, lag in der Größe. Die Öffnungen waren riesig. Und es dauerte nicht lange, bis auch schon der erste Riese aus einem der blendenden Lichter heraustrat und seine gewaltige Keule schwang. Eine Keule, die nur von Largonen verwendet wurde.
Aus jedem Spalt kam einer der Riesen mit den gekrümmten Hörnern, die ihnen aus ihren klumpigen Nasen wuchsen. Linkshorn und Rechtshorn waren auch dabei.
»Immer noch enttäuscht?«, fragte Gilbert schadenfroh.
»Ich habe mich schon wieder geirrt. Äußerst clever. Ich vermute mal, dass diese Ungetüme mein schönes Portal in die Schlucht werfen wollen«, zischelte der Herrscher sichtlich nervös.
»Erwartest du jetzt ernsthaft eine Antwort?«, fragte Antilius.
»Nein. Aber du hast eines nicht bedacht. Meine Männer haben sämtliche Katapulte auf diesen Platz gerichtet. Nur eine winzige Handbewegung ist notwendig, um alles hier dem Erdboden gleichzumachen. Und dann würden wir alle sterben. Die Largonen, dein Freund Gilbert und du auch. Willst du das, Antilius, du Narr?«
»Du würdest nicht zerstören, wofür du dein halbes Leben geopfert hast«, sagte Antilius ruhig.
»Das Portal kann nicht zerstört werden, und das weißt du. Woher nimmst du also die Gewissheit, dass ich es nicht mache?«
»Die Wahrheit. Weißt du nicht mehr? Das Einzige, was uns verbindet. Du kannst die Wahrheit nicht vor mir verbergen.«
Koros musterte Antilius sichtlich beunruhigt. »Du hast recht, das kann ich nicht. Was hast du jetzt vor?«
»Das wirst du schon sehen.« Antilius hob den Arm, um den Largonen zu bedeuten, dass sie beginnen sollten.
Die Riesen bildeten eine geschlossene Formation und stampften los. Aber nicht zum Portal. Sie wussten, dass es sinnlos gewesen wäre, auf das Portal mit Keulen einzudreschen. Ihr Ziel war die Armee des Herrschers.
»Lasst uns ein wenig Kleinholz machen!«, rief Linkshorn.
»Was soll das bezwecken?« Koros wirkte ziemlich verunsichert.
»Eine Vorsichtsmaßnahme. Es könnte ja sein, dass du auf dumme Gedanken kommst und mich hinterrücks erschießen lässt«, gab Antilius trocken zurück.
Die Largonen rollten wie eine Walze auf die Horden der Finsteren Ebenen zu.
Kurz darauf schlug auch schon die erste menschengroße Keule in einem der Katapulte ein, welches durch den wuchtigen Aufprall des Immerfest-Holzes regelrecht explodierte.
Die Toba, die den Largonen in Sachen Größe in fast nichts nachstanden, traten schreiend die Flucht an.
Ein Tabis, der auf einem anderen Katapult saß, versuchte eine Druckbombe auf die Largonen abzufeuern. Die Largonen waren jedoch schneller. Zwei von ihnen stemmten das Kriegsgerät hoch und trugen es samt quiekenden Tabis zur Schlucht und stießen es über den Rand.
Systematisch wurde jedes der Katapulte vernichtet, indem sie entweder zerstört oder in die Schlucht geworfen wurden.
Ermutigt durch das Auftauchen der unverhofften Verbündeten, krochen jetzt auch die verbliebenen Krieger der Ahnenländer aus ihren Verstecken und griffen die Feinde von hinten an, die fassungslos zur Schlucht starrten.
Die restlichen Gorgens flohen.
Chaos brach aus. Es war hoffnungslos für die Kreaturen der Finsteren Ebenen. Sie waren eingekesselt.
Koros Kehle wurde trocken. Seine Schweißporen verschlossen sich. Sein Haar wurde zu Stroh. Seine Wut stieg. Sie stieg ins Unermessliche. »Ein guter Zug«, röchelte er.
Antilius sagte nichts. Die Sonne war fast untergegangen.
»Ein wirklich guter Zug. Aber das, was ich mit nur einem Finger bewirken kann, das können nicht mal tausend Largonen!«
Er streckte seinen linken Zeigefinger aus und hielt ihn senkrecht, so als ob Antilius sich ihn genau ansehen sollte. Dann fuhr er mit diesem Finger langsam herum, bis dessen Spitze auf den großen Kristall im Würfeltor zeigte, der dort immer noch auf dem Boden lag. Der Kristall begann unmittelbar darauf zu beben. Die Vibration übertrug sich in den Boden und Antilius konnte seine Beine zittern spüren.
Schlagartig richtete sich der Kristall auf und erhob sich in die Luft, bis er exakt im Zentrum des Würfels schwebte.
»Sieh zu, Antilius. Und fürchte dich«, sagte Koros heiser.
Im Kristall flackerte ein weißes Licht auf. Es pulsierte in der gleichen Frequenz wie das erregte Herz des Herrschers.
Dann fing der Kristall an, sich zu drehen. Und zwar um zwei Achsen, eine horizontale und eine vertikale. Das weiße Licht wurde immer greller.
Die Kampfhandlungen der Largonen und der Armee der Ahnenländer wurden unterbrochen. Ein jeder blickte zu dem blendenden Ding nahe der Schlucht.
Antilius musste sich abwenden, um nicht zu erblinden. So auch Pais, Haif und Gilbert, die in einiger Entfernung zu ihm standen. Nur Koros starrte weiter in das entsetzliche Licht.
Ein Blitzschlag stieß aus dem Kristall in den Himmel empor, und das Licht veränderte seine Farbe ins Schwarze. Das Pulsieren blieb gleich.
Die Energie des Avioniums aus den Bergen der Ahnenländer und der aufgehende Vollmond Quathan verliehen dem Portal die Energie, um die darin eingeschlossene Macht der Transzendenz zu befreien.
Antilius konnte an der Haut die aufgeladene Luft fühlen.
»Da hast du es! Das Portal ist geöffnet. Ich habe es geschafft! Genau wie das Flüsternde Buch es mir gesagt hat. Siehst du es, Antilius? Siehst du es?«
Antilius sah es. Das schwarze Licht. Das dunkle Pulsieren.
Vom Wahnsinn besessen näherte der Herrscher sich dem schwarzen Kristall, dem Portal. Die Stimme aus dem Flüsternden Buch leitete ihn erbarmungslos: »Geh! Hol dir, was dir zusteht. Du hast es verdient. Die Belohnung wartet auf der anderen Seite des Lichts auf dich. Die Macht heißt dich willkommen«, sagte es.
Antilius machte keine Anstalten, Koros aufzuhalten. Gebannt schaute er in das dunkle Licht.
Das Portal, das ein Zugang in eine fremde Welt war, paralysierte jeden, der es ansah.
Mit gleichmäßigen Schritten näherte sich der Herrscher seinem Ziel. Unmittelbar vor dem Kristall machte er Halt und streckte eine Hand nach ihm aus. Sie versank in der undurchsichtigen Schwärze. Koros stöhnte auf. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Seine Lippen zitterten.
Dann machte er den letzten Schritt und wurde vom Kristall verschluckt.
Das schwarze Licht pulsierte weiter. Immer weiter.
Alle, Antilius, Haif, Pais, Gilbert, Lois, Wrax, die Largonen und die Armee von Koros und die der Dreizehn Häuser der Ahnenländer starrten in das schwarze Pulsieren. Jeder, auch Antilius, obwohl er es besser wusste, malte sich in diesem Augenblick den Untergang der Welt aus, so wie jeder für sich ihn sich vorstellte.
Noch war das Pulsieren schnell. Dann langsamer. Immer langsamer.
Und dann erlosch das schwarze Licht. Der Kristall schwebte lichtlos weiter im Zentrum des Würfels und drehte sich um seine zwei Achsen.
Die Nacht war hereingebrochen, sodass die plötzlich versiegende Lichtquelle Finsternis hinterließ.
Antilius hoffte, dass sich seine Augen rasch daran gewöhnen würden. So warteten er und seine Freunde und alle anderen still auf das Sichtbare.
Doch Antilius merkte schnell, dass diese Finsternis nicht natürlichen Ursprungs war. Diese Dunkelheit war schwärzer als jede Nacht ohne Sterne und ohne Mondlicht es je hätte sein können. Es war die Finsternis des Transzendenten.
»Kannst du etwas erkennen?«, flüsterte Gilbert, der jetzt neben Antilius stand.
»Bis jetzt noch nicht.«
Keiner war im Stande, durch die Finsternis zu sehen. Nicht einmal die übrig gebliebenen Tabis, die Dunkelheit von Ihrer Heimat gewöhnt waren.
Finsternis.
Und Schweigen.
Kein Pulsieren. Kein Geräusch.
»Was hat das zu bedeuten, Meister?«
Antilius wusste, was vor sich ging. Er konnte das Unhörbare hören und das Unsichtbare sehen.
»Der Transzendente kehrt zurück«, sagte er.