Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 51
Das Portal des Transzendenten
ОглавлениеDas Zeittor, das die Gorgens aus dem Erdinneren vor der Largonen-Festung regelrecht heraus gesprengt hatten, wurde rasch vor der trüben Silhouette des Adler-Gebirges errichtet.
Der Tag neigte sich dem Ende zu.
Das Buch mit den für Antilius leeren Seiten hatte Koros zugeflüstert, wo genau das erste Teil des Portals errichtet werden musste. Nahe der Schlucht sollte es stehen. Denn dort befand sich der Brennpunkt, an dem die Energie des Avioniums aus dem Adler-Gebirge auf das Portal fokussiert werden würde.
Nachdem das erste Fragment, das würfelförmige Gerüst der Largonen, aufgestellt worden war, überzeugte sich Koros zunächst von dessen einwandfreier Beschaffenheit.
Behutsam strich er mit seinen Fingerspitzen über die fremdartigen Einkerbungen der Verstrebungen des Zeittores. Jene Einkerbungen waren nicht zur Verzierung vorgesehen. Sie waren eine Botschaft. Eine Botschaft, geschrieben in einer vergessenen Sprache. Sie erzählte von der Vernichtung des Transzendenten. Von seinen letzten Schandtaten. Und sie erzählte von der Macht des Transzendenten. Die Macht, die sich nach seinem Tode von seinem Körper getrennt hatte und seither im Portal eingeschlossen war und darauf wartete, befreit zu werden.
Zum ersten Mal sah Wrax das erste Fragment in voller Größe und Erhabenheit. Es schaute überhaupt nicht bedrohlich aus.
»Jetzt dürft Ihr das zweite Fragment holen. Ich mahne Euch noch einmal zu absoluter Vorsicht!«, ordnete Koros ungewöhnlich ruhig an.
Das zweite Fragment hatte Wrax noch nie gesehen. Er wusste nur, dass es in das Würfelgerüst irgendwie eingebaut werden sollte. Der Berater vermutete, es handele sich ebenfalls um eine Konstruktion, da es schließlich auch ein Zeittor sein sollte. Aber das, was Koros vor einigen Jahren tief vergraben in der Erde fand, war kein Bauwerk.
Vier Männer hoben ein etwa zwei Meter langes und ebenso breites Ding, das in Leinen eingehüllt war, von einer Transportkarre. Sie trugen es anscheinend ohne großen Kraftaufwand zum Zeittor der Largonen, das nur wenige Meter vom Abgrund entfernt stand. Dann legten sie das Ding in die Mitte des Gerüstes hinein und enthüllten es.
Zum Vorschein kam ein gigantischer Kristall. Das war jedenfalls die erste Assoziation, die Wrax machte. Er war so klar, wie es nur ein Kristall sein konnte. Doch es konnte unmöglich einer sein. Einen Kristall, der die Größe eines ausgewachsenen Menschen hatte, konnte es nicht geben.
Wie auch immer, der weiße Kristall verbreitete eine erbarmungslos lähmende Schönheit.
Koros nickte stolz. Der Kristall, der die Form eines Oktaeders besaß, war wohl sein bestgehütetes Geheimnis. Der Herrscher musste schmunzeln, als er sich erinnerte, dass er damals den Kristall mit bloßen Händen ausgegraben hatte. Er erinnerte sich, wie der Kristall zu leuchten begann, als er ihn das erste Mal berührte.
Die vier Träger des Kristalls gingen beiseite und überließen von nun an dem Herrscher das Terrain.
»Wrax!«
Wrax kam.
»Geht nach dort«, sagte Koros und zeigte zu der Hügelkette, hinter der sich die Reste der Ahnen-Armee versteckt hielt.
Territoriumsmarkierer, wie Wrax sie selbst betitelt und beordert hatte, liefen Patrouille, um sicher zu stellen, dass die Gegner auch dortblieben.
»Wie bitte?«
»Keine Angst, Wrax. Ihr werdet unbewaffnet gehen. Ihr werdet ihnen nichts tun. Ich möchte, dass Ihr zu ihnen geht und sagt, dass der Anführer des Vierten Hauses zu mir kommen soll. Sein Name ist Lois. Und bitte, Wrax, fragt nicht nach dem Warum. Tut es einfach.«
Koros hatte den telepathischen Kontakt zu Lois nicht vollständig abgebrochen. Die ganze Zeit hielt er einen Schimmer von geistiger Verbindung aufrecht. So schwach, dass Lois es nicht bemerkte.
Wrax zögerte. Aber nicht lange. So marschierte er widerstrebend und wortlos zu den Hügeln. Sein eigenes Leben war ihm nichts mehr wert. Er war ohnehin verdammt.
»Gleich wird dein Warten belohnt, Alter Mann«, sagte Koros zu Pais, der etwas abseits des Geschehens stand.
Haif beobachtete alles aus sicherer, aber nicht allzu großer Entfernung in seinem Versteck auf dem Karren. Er sah, wie Pais, so er es denn wirklich war, sich neben den Herrscher stellte und etwas zu ihm sagte. Wenig später kehrte Wrax zurück. Und er hatte jemanden mitgebracht. Es war Lois.
Der Herrscher ließ seine Armee einen weitläufigen Halbkreis entlang der Steinstatuen um sich und das Portal bilden. Nur er, Wrax, Lois und sein Bruder Pais waren noch da.
Lois würdigte Koros keines Blickes. Er sah nur seinen Bruder. »Wir haben dich alle so vermisst«, sagte er. »Jarnah hat mich jahrelang jeden Tag gefragt, wo du bist. Wohin du gegangen bist. Ob du wütend auf sie gewesen bist. Wann du wieder nach Hause kommst. Sie fragte mich, ob sie dich je wieder sehen würde. Sie war noch zu klein. Sie verstand es nicht. Ich konnte es ihr nicht erklären. Ich konnte es niemandem erklären. Jarnahs Leben, unser Leben war nicht mehr dasselbe, seit du fortgegangen bist, Pais.«
Irgendwie gelang es in diesem Moment dem unterdrückten Pais die Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Lois' Worte verliehen ihm plötzlich eine unerklärliche Stärke, die den Bann, der über ihm lag, kurz aufbrach.
»Jarnah? Unsere Schwester? Wie geht es ihr?«
Lois senkte den Kopf. »Sie ist vor sechs Jahren von uns gegangen. Sie hätte dich so gerne noch einmal gesehen.«
Koros fühlte, dass ihm Pais entglitt. Er konzentrierte sich auf ihn und versuchte, ihm seinen Willen wieder aufzuzwingen. »Höre nur auf meine Stimme, Pais! Dein Bruder hat dich nicht vermisst. Er hasst dich. Genauso wie du ihn!«
Pais wurde innerlich zurückgedrängt und das fremde Ich übernahm wieder die Kontrolle. Doch er wehrte sich. Er kämpfte sich immer wieder nach vorn, wurde aber immer wieder zurückgeschlagen. Koros Widerstandskraft war unglaublich stark.
»Von wem sprichst du?«, fragte der falsche Pais.
»Jarnah. Unsere Schwester. Was ist nur mit dir geschehen, Bruder?«
»Schweig! Ihr habt mich einfach gehen lassen. Es hat euch nicht gekümmert, was aus mir werden würde, als ich gegangen bin!«
»Das ist nicht wahr!«
»Doch! Das ist es«, hetzte Koros, erfreut darüber, dass Pais nun wieder ihm gehorchte. »Glaub ihm kein Wort, Pais. Höre nicht auf seine feigen Lügen. Bereite deinem Schmerz ein Ende. Erlöse dich von deinen Qualen!«, sagte Koros, ohne Lois aus den Augen zu lassen.
Das andere Ich in Pais, jenes, welches nur auf Vergeltung aus war, ließ ihn seine Armbrust in Anschlag nehmen und auf Lois richten.
»Das kannst du nicht ernst meinen, Pais. Du bist kein böser Mensch. Du warst es noch nie. Zu einem Mord bist du nicht fähig.«
»Unsinn! Er hat Angst. Panische Angst. Lass ihn um sein Leben betteln, Pais. Lass ihn betteln und genieße es! Lass ihn auf den Knien um sein Leben winseln und genieße es!«
In Pais tobte ein grausamer Kampf. Koros prügelte seinen Verstand regelrecht davon. Pais bekämpfte ihn mit aller Macht.
»Lass ihn um sein Leben betteln!«
Wrax drehte sich weg und kniff die Augen zusammen.
»Pais, ich weiß, dass du mich hören kannst. Tu es nicht! Höre auf meine Stimme!«, bat Lois, ohne in Panik zu geraten.
»Erschieß ihn!«, brüllte Koros.
Lois, der fast überzeugt war, dass sein Bruder jeden Moment den Abzug betätigen würde, unternahm einen letzten Versuch, den wahren Pais hervorzuholen. »Pais, erinnerst du dich noch? Kurz bevor du fortgingst. Da hast du Jarnah ein Geschenk gemacht. Eine Medaille, auf der unsere Namen eingraviert waren. Sie sollte ihr als Talisman Glück bringen. Sie hat ihn immer bei sich getragen. Der Talisman war ihr ständiger Begleiter. Bis zu ihrem Tod.«
Pais begann zunächst kaum merklich und dann schnell heftig zu zittern.
»Töte ihn! Er hat es nicht besser verdient«, befahl Koros.
»Du bist kein Mörder.«
»Töte ihn!«
Der Finger am Abzug. Pais verlor jeglichen Einfluss. Er konnte es nicht mehr aufhalten. Er würde jeden Moment abdrücken.
»Töte ihn!«, schrie Koros, wobei ihm Speichel aus dem Mund spritzte.
»Das wird er nicht tun!«, rief eine andere Stimme dazwischen.
Sie kam von weiter entfernt. Von einer Gestalt, die im Schein der Abenddämmerung einen langen Schatten zog.
Antilius war gekommen. Das Orakel hatte ihn, ohne dass es irgendjemand gemerkt hat, wieder zurück in die wirkliche Welt geschickt.
Koros war so überrascht, dass er die telepathische Kontrolle über Pais fast verloren hätte. Rechtzeitig zwang er sich wieder, sich auf ihn zu konzentrieren, um Lois endlich zu erledigen.
Der Finger von Pais löste den Bolzen aus seiner Bewegungslosigkeit in der Armbrust und im selben Augenblick stieß ihn etwas von hinten zur Seite.
Pais stolperte und verlor seine Waffe. Der abgeschossene Bolzen schoss blind in den Himmel. Koros' telepathischer Kontakt zu Pais brach ab. Verdutzt schnellte er herum und erblickte einen kleinen, mit schmutzigem Fell überzogenen Sortaner, der blitzschnell die Armbrust ergriff, lud und auf den Herrscher richtete. Haif Haven erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Nach einem sehr kurzen Augenblick der Fassungslosigkeit über seinen eigenen Mut sagte er: »Unterschätze niemals einen Sortaner.«
»Wie konnte dieses Mistvieh sich unbemerkt an uns heranschleichen?« Die Frage war vorwurfsvoll an den Berater Wrax gerichtet. Und auch Wrax war völlig perplex. Tatsächlich war es Haif gelungen, aus dem in der Nähe stehenden Karren zu springen und sich geschwind an Pais, Wrax und Koros heranzuschleichen, die mit dem Rücken zu ihm gestanden hatten.
Einige der wenigen von Koros' Armee, die Haifs Aktion bemerkt hatten, wollten zu ihrem Herrscher eilen, doch Koros bedeutete ihnen, dortzubleiben, wo sie waren.
Koros' kurzzeitiges Erstaunen schlug in irres Gelächter um. Zuerst leise und dann so laut, dass es die ganze Schlucht erfüllte.
»Kleiner Mann ganz groß! Meinst du, du könntest mir damit gefährlich werden. Ich weiß nicht, aber ich könnte mich glatt darüber totlachen!«
»Dann lass doch deinen Worten Taten folgen!«, sagte Haif böse.
Antilius, der bislang abseits des Geschehens nur zugesehen hatte, eilte dazu. »Danke Haif. Bring bitte Pais und seinen Bruder in sichere Entfernung. Es wird euch kein Leid zugefügt werden, habe ich recht, Koros?«, sagte er und atmete dabei ganz ruhig und gleichmäßig.
Koros sah Antilius nur lange fasziniert an und nickte dann nur.
Pais bekam allmählich wieder einen klaren Kopf. Das andere Ich in ihm war verschwunden. Lois stützte seinen Bruder, der gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah, beim Gehen. Mit gezückter Armbrust schritt Haif rückwärts. Er wollte Koros auf keinen Fall den Rücken zukehren.
»Ich habe gewusst, dass du kommen würdest, bevor Pais seinen Bruder erschießen wird. Ich habe gewusst, dass du das nicht zulassen würdest. Das Schicksal hat uns zusammengeführt, so wie es sein soll«, sagte Koros.
Der Herrscher ließ auch seinen Berater gehen.
Jetzt waren nur noch Antilius und Koros auf der freien Fläche mit dem Portal und den großen Statuen am Rande der Schlucht.
Endlich standen sie sich Auge in Auge gegenüber und nicht mehr in einer Fiktion eines Traumes oder der Verschwommenheit einer surrealen Welt wie die in Verlorenend, sondern in der realen Welt.
Endspiel, dachte Antilius.