Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 56
Im Licht des Dunkels
ОглавлениеEin Pfad in der Dunkelheit:
Eine leicht verschwommene Gestalt tauchte vor Antilius auf. Es war der Sandling. Er begrüßte Antilius liebenswürdig und wies ihm den Weg. Er sah gesund und vor allem glücklich aus.
Wie war das möglich? Wo war er?
Antilius ging wie in einem Trance-Zustand weiter. Langsam wich die Dunkelheit, die nicht unangenehm war, einem schwachen silbernen Licht.
Antilius sah nach unten und konnte erkennen, dass er auf einem sandigen Weg schritt.
Er war hier schon einmal gewesen. Er war wieder in Verlorenend.
Er ging zur Klippe, an der er Tahera das erste Mal getroffen hatte. Das Meer war ruhig und sanft. Die ewige Nacht war klar. Das Strahlen der Sterne war so intensiv wie nie zuvor.
Tahera stand plötzlich an der Klippe neben Antilius und lächelte ihn an.
»Bin ich jetzt … tot?«, fragte Antilius.
»Nein. Es ist noch zu früh für dich. Deine Reise hat gerade erst begonnen«, sagte Tahera.
»Aber das Schwarze Loch. Es …«
»Du hast es versiegelt«, unterbrach sie ihn. »Ich schäme mich zuzugeben, dass ich nicht an dich geglaubt habe. Aber jetzt weiß ich, dass du der Einzige warst, der Thalantia retten konnte. Das Orakel hat sich nicht in dir getäuscht. Und der Sandling auch nicht.«
»Aber wie kann es sein, dass wir wieder hier sind? Warum sind wir hier in Verlorenend, Tahera?«
»Weil die Geschichte, deine Geschichte, Antilius, hier noch nicht beendet ist. Du warst der Schlüssel, der das Schwarze Loch schließen konnte, weil du etwas Besonderes bist. Und weil dich und den Dunkelträumer etwas verbindet.
Aber ist das überhaupt wichtig, nach dem Warum zu fragen? Ich sage dir, was wichtig ist: Das Portal wurde vom Schwarzen Loch zerstört. Niemand hätte auch nur in Erwägung gezogen, dass das möglich wäre. Jeder, sogar das Orakel hielt das Portal für unzerstörbar. Aber die Macht, es zu vernichten, lag im Portal selbst. Das hast du zwar nicht gewusst, aber du hast es gefühlt«, sagte Tahera und wartete gespannt auf eine Reaktion.
Antilius blickte nachdenklich zur Seite, dann nickte er bedächtig.
»Es gibt aber auch eine schlechte Nachricht«, sagte sie leise.
»Ich weiß«, sagte Antilius düster. »Die Späher haben erkannt, dass Koros nicht als Transzendenter geeignet war. Als sie geflohen sind, haben sie die Macht der Transzendenz mitgenommen.«
Tahera nickte. »Ja. Sie haben sie mitgenommen an einen Ort, den wir nicht erreichen können. Und als wir beide versucht haben, den Kristall zur Ruhe zu bringen, habe ich gespürt, dass der Dunkelträumer dich gesehen hat, Antilius. Er weiß, wer du bist und was du vergessen hast. Er ist erwacht und voller Zorn. Und er wird wieder versuchen, nach Thalantia zurückzukehren – koste es, was es wolle. Der Transzendente ist zwar besiegt, aber seine Macht liegt nun in den Händen der Späher. Sie und das Flüsternde Buch werden weiter an der Rückkehr des Dunkelträumers arbeiten. Sie waren ihrem Ziel noch nie so nahe wie heute.«
»Was wird jetzt geschehen?«, fragte Antilius.
»Du wirst in die wirkliche Welt zurückkehren. Du musst zurück nach Thalantia.«
»Und du nicht?«, fragte Antilius sofort.
Tahera machte ein bestürztes Gesicht: »Das Orakel hat, als es uns und die Largonen nach Thalantia teleportiert hat, fast seine gesamte Lebensenergie aufgebraucht. Es stirbt. Es kann nur noch dich zurückschicken. Deshalb musst du dich beeilen, denn nur auf Thalantia wirst du die Antworten finden, die du brauchst, um die Rückkehr des Dunkelträumers zu verhindern. Das Orakel wird nicht mehr lange durchhalten können.«
Antilius traf diese Nachricht wie ein Schlag. »Das heißt, niemand wird mehr von oder nach Verlorenend gehen können.«
Tahera sah Antilius nur fest in die Augen und sagte nichts. Ihr Blick war ernst und endgültig.
»Wenn nur noch einer gehen kann, warum willst du dann nicht gehen? Du verstehst augenscheinlich mehr als ich von dem Geschehen«, fragte er verzweifelt.
Tahera schüttelte sanft den Kopf. »Das weißt du doch. Wenn der Dunkelträumer erneut versucht zurückzukehren, dann musst du dort sein, nicht ich. Auch wenn du dich nicht an deine Vergangenheit erinnern kannst, so ist doch jetzt offensichtlich, dass dich und den Dunkelträumer etwas verbindet, und dieses Etwas liegt in deiner Vergangenheit verborgen. Nur du kannst dich ihm entgegenstellen, sollte es eines Tages dazu kommen.«
Antilius wollte noch etwas sagen, weil ihm immer wieder durch den Kopf schoss, dass es keine Möglichkeit mehr geben würde, nach Verlorenend zurückzukehren, aber Tahera ließ ihn nicht.
»Es wird Zeit, Antilius. Du musst gehen. Deine Freunde erwarten dich schon.«
»Pais? Gilbert?«
»Ja. Sie konnten dem Schwarzen Loch entkommen.«
»Geht es Gilbert gut?«
»Er hat einen hohen Preis bezahlt. Er ist wieder im Spiegel eingesperrt.«
»Kannst du nicht irgendetwas für ihn tun?«
»Er wird sich wieder erholen. Seine Freiheit aber hat er eingebüßt. Ich weiß nicht, wie man sie ihm wieder zurückgeben könnte. Das Schwarze Loch hat die gesamte Energie des Avioniums aus dem Adler-Gebirge aufgesogen, sodass davon nichts mehr übrig ist. Ohne das Avionium weiß ich nicht, wie man ihn wieder befreien könnte. Es tut mir so leid.«
»Ich hätte besser auf ihn Acht geben müssen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dem Spiegelgefängnis zu entkommen.«
»Er wird eine zweite Chance bekommen. Irgendwann. Davon bin ich überzeugt.«
Antilius schwieg zunächst. Dann fragte er: »Irgendetwas verheimlichst du mir, Tahera. Ich meine nichts über den Dunkelträumer, sondern über dich. Ich spüre eine Vertrautheit zu dir, die ich mir nicht erklären kann. Ich habe das Gefühl, dich schon länger zu kennen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.«
Tahera wirkte ein wenig erschreckt, aber sie behielt die Fassung und ließ sich mit einer Antwort lange Zeit.
»Ich kann es dir nicht sagen, denn das habe ich versprochen. Und es würde auch nichts nützen, wenn ich es dir verrate, denn du würdest dich nicht erinnern. Nur auf Thalantia wirst du die Möglichkeit bekommen, deine verlorenen Erinnerungen wiederzufinden. Wenn du die Chance dazu siehst, musst du sie ergreifen.
Ich glaube nämlich, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird, dass wir uns gesehen haben. Und sollten wir eines Tages wieder zueinanderfinden, dann wirst du wissen, wer du bist und wer ich bin und was uns beide verbindet.
Du musst dich jetzt beeilen. Das Orakel wartet! Geh zu ihm!«
Eine kleine Hand zupfte an Antilius' zerrissenem Hosenbein.
Sein Blick fiel auf einen kleinen Jungen, der ihn mit kindlicher Ungeduld und Begeisterung anlächelte.
Antilius ging in die Hocke auf Augenhöhe.
Das Gesicht des Jungen. Seine Augen. Sie waren rot. Er erkannte Wrax darin wieder, auch wenn er diesen Namen nicht kannte.
»Wie ist das möglich?«
»Kinder wissen nichts über Gut oder Böse. Und lügen ist ihnen auch fremd. Sie haben keine Vorurteile und sind frei von Hass. So wie uns beide hat das Orakel diejenigen, die es für würdig hielt, mit letzter Kraft hierher gebracht. Und Wrax durfte wählen, als was er hier leben wollte. Es war seine Entscheidung. Vergiss nicht, wir sind in Verlorenend. Hier ist fast alles möglich«, sagte Tahera mit klangvoller Stimme.
Wrax zog an Antilius' Arm. Er wollte ihm etwas zeigen.
»Komm mit!«, sprach er mit seiner Kinderstimme.
»Leb wohl, Antilius«, sagte Tahera mit Tränen in den Augen. Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn, und Antilius fühlte plötzlich wieder diese Vertrautheit zwischen ihr und ihm. Es war fast so, als hätte er sie schon viel länger gekannt. Er hatte aber keine Zeit mehr, dieses Gefühl noch länger zu erforschen, denn er musste sich beeilen.
Wrax führte Antilius zum nahe gelegenen Kornfeld. Zu einer ganz besonderen Stelle. Kinderlachen drang hervor. Genau wie beim ersten Mal, als er das Kornfeld durchstreift hatte. Es war dieselbe Stelle, an der er zum ersten Mal ein Kinderlachen gehört hatte.
Wrax kicherte und zog sich zurück.
Antilius durchsuchte das Feld, das ihm knapp über die Hüfte ging. Er folgte dem Lachen.
»Hierher!«
Antilius ging in die Hocke. Ein kleines Mädchen grinste ihn aus großen glänzenden Augen an. In dem silberfarbenen Dämmerlicht sah sie beinahe aus wie ein Geist. Es wollte ihm etwas zuflüstern und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich mit seinem Ohr zu ihm zu wenden.
Antilius beugte sich vor.
Und dann flüsterte ihm das Mädchen ihr Geheimnis ins Ohr:
»Benutze es, wenn es so weit ist«, sagte es.
Er sollte seine Hand öffnen.
Sie legte ihm ein kleines, ordentlich gefaltetes Leinentuch hinein. Ein kleiner Gegenstand war darin eingewickelt. Antilius betrachtete das Tuch kurz und wollte es dann entfalten, doch das kleine Mädchen legte ihre kleinen Hände auf seine und bedeutete ihm, es nicht zu tun.
»Wenn es so weit ist«, sagte sie.
»Wann soll das sein?«
»Wenn du mich wieder siehst, am Ende deiner Reise. Dort, wo die Finsternis zum Leben erwacht ist.«
Antilius schaute noch einmal herab auf das Tuch aus Leinen und dann hob er wieder den Kopf. Das Mädchen war fort.
Er ging schließlich zurück zu dem Stein, der das Orakel beherbergte.
»Ich bin bereit, zurückzukehren«, sprach er in die silberne Nacht. Und das Orakel schickte ihn zurück, bevor es schließlich starb.
Antilius kehrte zurück. Zurück zu dem Ort, an dem sein Schicksal sich erfüllt hatte.
Es gab noch so viele Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Aber er fühlte, dass sein Abenteuer noch lange nicht vorbei sein würde.
Erleichtert sah er Pais mit Gilbert im Spiegel und Haif wieder, die immer noch an der Barriere von Valheel waren.
Der Nebel war verzogen.
Der Vollmond Quathan schien genauso wie es in dieser Nacht sein sollte.
Pais ging auf Antilius zu. Und als er seine Augen sah, wurde die Prophezeiung des Orakels bestätigt.
Antilius ließ seinen Blick über die Schlucht gleiten. Das Mondlicht von Quathan spiegelte sich in seinen Augen wider. Seine Augen funkelten in einem strahlenden Silber.
Pais stockte der Atem. Denn plötzlich, nach all dem, was an diesem Tage geschehen war, hatte Antilius etwas Fremdes an sich. Es war nicht bedrohlich. Das fühlte Pais sofort. Aber da war etwas in Antilius erwacht, das schon seit seiner Geburt in ihm gewesen sein musste und dennoch nicht zu seinem bisherigen Leben dazugehörte. Doch nun war es hier. Es strahlte Pais mit einer betörenden Energie an und schien bis in sein Herz vorzudringen.
»Was ist geschehen?«, fragte ihn Pais fasziniert.
»Mir wurde noch mehr Zeit gegeben. Was immer es ist, mit dem wir es zu tun haben, es hat gerade erst angefangen«, sagte Antilius.