Читать книгу Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe) - S. G. Felix - Страница 47

Wer ist Ilbétha?

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Ein Orakel hatte sich Antilius ganz anders vorgestellt. Möglicherweise war es ein steinerner Podest, auf dem ein altes Geschöpf saß und mystische, vage Prophezeiungen machte, dachte er. Aber nichts dergleichen bekam er zu sehen.

Eine glatte dunkle Felswand von höchstens vier Metern Höhe ragte vor ihm auf. Mitten in einer grau-silbrigen Einöde von Grasland lag sie.

Antilius glaubte, dass es sich um einen Fels gehandelt haben muss, der vor Urzeiten in zwei Teile gebrochen war. Er schaute sich um. Eine andere Hälfte gab es nicht.

Die Wand sah aber nicht so aus, als ob sie aus normalem Gestein bestünde. Dieser Fels war dunkler und härter. Eine Ahnung von einem metallischen Glanz verbreitete er.

Vielleicht war es kein Fels. Vielleicht stammte er nicht von hier.

Ein Meteorit, schoss es ihm durch den Kopf.

»Hier ist es. Ich werde mich entfernen. Zu mir wird es nicht sprechen. Es erwartet dich«, sagte Tahera und verließ Antilius und seinen Freund Gilbert.

»Na dann, probiere dein Glück, Meister«, sagte Gilbert.

»Was soll ich denn jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Sprich mit dem Orakel.«

»Ich soll mit dem Stein sprechen?«

Gilbert zuckte mit den Achseln. »Mach es einfach.«

Antilius zögerte einen Moment und schritt dann bedächtig dicht an die Felswand heran. »Ich bin Antilius«, begann er. »Ich frage mich, ob du mir helfen kannst, Orakel.«

Es gab keine Reaktion. Antilius untersuchte die Beschaffenheit der Oberfläche des Felsens mit seinen geschulten Augen. Dieses Ding gehörte nicht zu diesem Ort und nicht in diese Welt. Es war irgendwie anders.

»Hörst du mich, Orakel?«, rief er. Er drehte der Felswand den Rücken zu, sah sich um und wartete. Der Weg hierher war lang und gefährlich gewesen. Wenn das Orakel jetzt nicht antworten würde, dann wäre alles umsonst gewesen.

»Orakel! Sprich bitte zu mir!«

Ein Stöhnen erschallte hinter ihm aus dem Felsen, und ehe er sich umblicken konnte, packte ihn etwas, das aus der Felswand hervorkam, am linken Handgelenk. Gleich darauf auch am rechten. Es waren Hände. Hände aus Stein. Und dann, fast zeitgleich, packten ihn weitere Hände aus dem Stein an seinen Fußknöcheln und zogen ihn zusammen mit den anderen Händen an die Felswand heran.

Gilbert wollte seinem Meister zu Hilfe eilen.

»Nein! Warte. Ich darf mich nicht dagegen wehren«, sagte Antilius und vertraute dabei wieder auf seinen Instinkt.

Die Hände pressten Antilius nun vollends gegen die kalte, steinerne Wand. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Weitere Hände fuhren aus dem Fels und strichen ihm übers Gesicht, tasteten ihn ab und durchwühlten sein Haar. Er ließ alles über sich ergehen. Er wehrte sich nicht. Die kalten Hände zogen ihn ein Stück nach oben, sodass seine Füße keinen Bodenkontakt mehr hatten.

Dann fühlte er ein Stechen in der Brust. Gleichmäßig nahm der Schmerz an Intensität zu. Er schaute an sich herab und sah mit Fassungslosigkeit, dass sein Brustkorb von innen zu leuchten begann. Das Stechen war kaum noch zu ertragen.

Es war, als ob die Sonne ihn von innen verbrennen würde.

»Aufhören!« Gilbert rannte zu seinem Meister, doch auf halbem Weg schlug ihn etwas Unsichtbares beiseite und ließ seine Sinne schwinden. Er fiel zu Boden.

»Nein!«, schrie Antilius.

Sein Brustkorb schien heller zu strahlen als jede Sonne in diesem Universum. Er war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Dann bewegte sich der leuchtende Ball in ihm. Er wollte nach draußen. Ein paarmal noch zuckte die strahlende Kugel in seinem Brustkorb hin und her, bis sie aus ihm heraus schwebte, ohne ihn dabei zu verletzen.

Der Schmerz ließ aber nicht nach. Da war noch immer leuchtende Materie in ihm. Eine weitere Kugel verließ seinen Körper und mit einem letzten wimmernden Schmerzschrei stieß noch eine dritte aus seinem Leib.

Drei Feuerbälle schwebten nun vor seinen Augen. Stumm. Als wären sie schon immer da gewesen.

So rasch, wie der Schmerz gekommen war, so rasch verschwand er auch wieder.

Antilius schaute in die drei glühenden Sonnen hinein. Ihre lodernde Glut spiegelte sich in seinen Augen wider.

Die glühenden Massen drehten sich um sich selbst und brannten sich in seinen Verstand. Sie paralysierten ihn. Nach einer Weile verformten sie sich. Sie waren von nun an keine Feuerbälle, keine Sonnen mehr. Sie wurden zu Gesichtern. Drei Gesichter. Alle ein Ebenbild von Antilius. Neugierig sahen sie ihn an.

»Du hast viele Fragen«, sagte das mittlere Gesicht mit einer Stimme, die von weit, weit her zu kommen schien und die der von Antilius in keiner Weise ähnelte.

»Er hat aber große Furcht. Und er hat alles vergessen«, sprach das linke Gesicht.

»Er will endlich Antworten«, betonte das rechte.

»Wer seid ihr?«, fragte Antilius fast automatisch.

»Wir sind du. Wir kommen aus dir«, erklärte wieder das Gesicht in der Mitte.

»Er versteht nicht«, sagte das linke Gesicht.

»Er wird es verstehen«, erwiderte das rechte Gesicht.

»Wir sind du«, wiederholte das mittlere Antilius-Abbild.

»Ihr seid nicht wie ich«, murmelte Antilius furchtsam.

»Wir sind Teile deiner selbst. Verstehst du?«

»Nein.«

»Seine Furcht hindert ihn am Denken«, bemerkte die linke Antilius-Kopie.

Das rechte Gesicht: »Er braucht Zeit.«

Das mittlere Gesicht: »Die Zeit ist aber knapp.«

»Wer seid ihr?«

»Wir haben zwar keinen Namen, doch werden wir versuchen, es dir verständlicher zu machen: Ich, ich bin dein Wissen. Ich repräsentiere deine Fähigkeiten und deine Talente«, sprach das mittlere Gesicht und deutete dann von Antilius aus gesehen nach links. »Das ist Furcht. Er spiegelt deine Ängste und Zweifel wider. Und auf der anderen Seite ist Hoffnung. Er zeigt dir deinen Glauben und deine Zuversicht. Nur so können wir mit dir kommunizieren.«

Antilius fasste sich ein wenig. Die Hände aus Stein hielten ihn nach wie vor an der Felswand gefangen.

Seine bizarr funkelten Ebenbilder schauten ihn zeitlos an.

»Jemand sagte mir, nur ihr seid in der Lage, mir zu helfen«, sagte Antilius.

»Das werden wir. Deine Suche nach deinen Fähigkeiten wird hier noch lange nicht beendet sein. Die Tage aus der Vergangenheit, die für dich im Dunkeln liegen, sind so viele. Du hast alles vergessen, Antilius«, erklärte Wissen.

»Was habe ich vergessen? Sagt es mir, bitte!«

Das mittlere Gesicht zeigte sich enttäuscht. »Das können wir nicht. Das Einzige, was wir dir mit Sicherheit sagen können, ist, dass deine Erinnerungen an die Geschehnisse, an die du dich nicht mehr erinnern kannst, dir entzogen wurden. Sie sind fort. Wir vermögen deine fehlenden Erinnerungen nicht aufzuspüren. Wir glauben, dass sie sich irgendwo auf Thalantia befinden.

Es gibt noch einige Artefakte von Erinnerungen, die noch in dir verborgen sind. Aber sie sind so tief in dir, dass es uns nicht möglich ist, sie hervorzuholen.«

Die Stimme, dachte Antilius. Die Stimme, die ich bei der Blume an dem kleinen Bahnhof im Wald bei dem alten, ständig lachenden Mann gehört habe. ‚Wie konntest du nur?’, hatte sie gesagt. Das war eines dieser Artefakte, das in mir verborgen sind. Ja, da bin ich mir ganz sicher.

»Sei aber nicht enttäuscht, Antilius. Wir haben deinen Weg verfolgt, seit du auf Truchten in der wirklichen Welt aufgetaucht bist. Du besitzt Fähigkeiten, die es dir ermöglicht haben, uns zu finden.«

Antilius nickte. »Ihr meint, dass ich manchmal intuitiv das Richtige getan habe, wie bei dem Wasserrätsel im Dunklen Tunnel.«

»Ja, genau. Oder erinnere dich an die Tür vom Haus der Largonen, die versperrt war. Du konntest sie aufstoßen, allein mit deinen Gedanken. Und die welke Blume, die du wieder hast erblühen lassen.

In dir steckt noch so viel mehr, von dem du keine Ahnung hast. Die Zeit reicht nicht aus, um abzuwarten, ob du dich an noch mehr erinnern kannst oder um weitere Fähigkeiten zu erforschen. Wenn du Koros gegenübertrittst, wirst du dich auf deinen Instinkt verlassen müssen. Den gleichen Instinkt, der dich hierher geführt hat. Du musst den Herrscher besiegen, ansonsten werden alle Welten, sowohl Thalantia als auch Verlorenend sterben. Und ihre Bewohner mit ihnen«, sagte Hoffnung.

»Was ist diese Macht, die Koros an sich reißen will?«

»Es ist die Macht der Transzendenz. Mit ihr wird er zu einem Wesen, für das Grenzen bedeutungslos sein werden. Er wird die Zeit manipulieren können. Er kann Zeit und Raum verbiegen. Er wird diese Welt mit Schrecken überziehen, denn der Transzendente wird ohne Verstand sein.

Doch Koros ist nicht die größte Gefahr, die deiner und unserer Welt droht«, erklärte Wissen.

Antilius Augen wurden groß, und er spürte, wie die Hände, die ihn an der Wand festhielten, kurz ihren Griff lockerten, sodass er glaubte, gleich herunterzufallen. Es war fast so, als hätten diese Hände Angst vor dem, was das Orakel jetzt Antilius offenbaren würde. Aber dann packten sie ihn wieder fester.

»Was sollte denn noch gefährlicher sein?«, fragte er.

»Das, was Koros mit dem Portal aufweckt. Nicht die Macht der Transzendenz. Sie ist nur ein Hilfsmittel.

Etwas sehr Altes wird mit dem Öffnen des Portals erwachen. Vor beinahe tausend Jahren lebte es einst auf deiner Welt. Und es ist viel mächtiger, als der Transzendente es je sein könnte. Es wurde einst der Dunkelträumer genannt. Ein Name, der längst in Vergessenheit geraten ist. Der Dunkelträumer ist sogar älter, als wir es sind.«

»Woher weißt du dann von ihm, Orakel?«, fragte Antilius skeptisch.

»Aus Überlieferungen unseres Vorgängers. Wir sind nicht unsterblich, musst du wissen. Deshalb sind wir hier in Verlorenend. Dem Ort, an dem vor Kurzem noch die Zeit stillstand. Wir sind hier, damit wir länger leben und beobachten können.«

»Verstehe. Erzählt mir mehr über den Dunkelträumer«, sprach Antilius konzentriert.

»Er gehörte nicht in diese Welt, und doch wollte der Dunkelträumer sie für sich beanspruchen. Wir wissen nicht sehr viel über ihn, denn über die Vergangenheit wurde geschwiegen. Er ist auf Rache aus. Rache für einen Verrat. Nach der Überlieferung wurde er deshalb verbannt. Es wurde ihm nicht gestattet, wieder zurückzukehren. Und so lebte er seitdem einsam in seiner Verbannung am entferntesten Ort, den es gibt - am Ende des Universums.«

Antilius sträubten sich die Nackenhaare.

»Doch das Wesen versuchte, wieder nach Thalantia zurückzukehren. Es sehnte sich nach nichts anderem, als an den Ort zurückzukehren, von dem er vertrieben worden war. Nur einmal, vor über sechshundert Jahren, wäre es ihm beinahe gelungen. Nämlich als der erste Transzendente das Licht der Welt erblickte. Jener Transzendente war ein Werk des Dunkelträumers. Und er war das einzige Lebewesen, das dazu fähig war, dem Dunkelträumer eine Tür zurück nach Thalantia zu öffnen. Nur durch den Transzendenten wäre der Dunkelträumer in der Lage gewesen, heimzukehren und sich an jenen zu rächen, die ihn verbannt hatten.

Aber der Plan scheiterte. Der Transzendente, der dem Dunkelträumer ergeben dienen und ihn in seine Heimat zurückholen sollte, verfolgte seine eigenen Ziele. Er zerstörte. Er mordete. Der Dunkelträumer verlor die Kontrolle über den Transzendenten. Die Menschen bauten unter seiner Bedrohung ein Portal, um die Macht des Transzendenten darin gefangen zu nehmen. Dasjenige Portal, das auch Koros wieder errichten will.

Die Macht der Transzendenz konnte nicht vernichtet werden, aber sie sollte auf ewig im Portal eingesperrt werden.

Das Portal wurde in zwei Fragmente aufgeteilt. Diese wurden dann versteckt. Eines später bei den Largonen. Das andere wurde dort vergraben, wo Koros später seinen Palast erwarb und dort schließlich fand.

Nach der Vernichtung des Transzendenten vergingen die Jahrhunderte. Das Wissen um die Bedeutung der beiden Fragmente, des Dunkelträumers und der Macht der Transzendenz verblasste.«

Endlich begannen sich bei Antilius die Nebel zu lichten. »Das heißt, wenn Koros das Portal wieder zusammenbaut und zum Transzendenten wird, dann wird der Dunkelträumer erneut versuchen, in diese Welt einzudringen«, fasste er bewegt zusammen.

»Ja. Aber Koros weiß nichts davon. Er hat nicht die leiseste Ahnung von dem Dunkelträumer. Er, der immer nur über andere herrschen wollte, wird selbst zu einem Sklaven werden, wenn er das Portal öffnet«, sagte Wissen.

»Aber ich habe mit ihm gesprochen. Er ist doch nicht dumm. Ich glaube nicht, dass er sich dessen nicht bewusst ist«, bemerkte Antilius.

»Das Flüsternde Buch«, sagte Furcht.

»Was?«

»Das Buch, das Koros dir gezeigt hat. Das Buch mit den leeren Seiten. Du hast es doch gesehen.«

Antilius hatte es gesehen und in Händen gehalten.

»Das Buch hat seinen Verstand vernebelt. Es flüstert ihm Lügen ins Ohr. Es erzählt ihm von seiner glorreichen Zukunft als allmächtiges Wesen, das über die Welten gebietet. Es hat verhindert, dass er klar denken kann. Sonst wäre er dem Betrug längst auf die Schliche gekommen«, erklärte Furcht schnell.

Das Flüsternde Buch will den Dunkelträumer nach Thalantia zurückholen, das ist sein einziges Ziel. Aber dazu braucht es einen Transzendenten, der mit seinen besonderen Fähigkeiten den Dunkelträumer zurückholt.

Antilius musste daran denken, dass Koros ihm gesagt hatte, im Buch stünde alles über Antilius' Vergangenheit geschrieben. Waren dies auch Lügen gewesen?

»Wer hat das Flüsternde Buch geschrieben?«, fragte er.

»Es heißt, der Dunkelträumer habe es geschrieben, kurz bevor er verbannt worden ist. Aber das ist nicht die Wahrheit. Das Buch tauchte einige Zeit nach seiner Verbannung auf Thalantia auf und sucht nun seit wahrscheinlich mehr als neunhundert Jahren nach einem Weg, dem Dunkelträumer seine Rückkehr zu ermöglichen.

Genauso wie für die Späher ist das einzige Ziel des Flüsternden Buches die Rückkehr des Dunkelträumers.«

»Die Späher. Wer sind die Späher?«, fragte Antilius mit bis zum Zerreißen gespannten Nerven.

»Sie sind seine Verbündeten. Sie waren einst wie er. Es sind arme, vereinsamte Seelen. Helfer des Dunkelträumers. Es gibt sie schon genauso lange, wie es den Dunkelträumer gibt. Sie bereiten seine Heimkehr vor. Sie sind ihm treu ergeben«, sagte das mittlere Gesicht, das sich selbst Wissen nannte.

»Ich bin ihnen begegnet. Sie gaben vor, über die Zeit zu wachen.«

»In gewisser Weise wachen sie über die Zeit. Ihre eigentliche Aufgabe in den letzten Jahrhunderten war es, zu verhindern, dass jemand, der als Transzendenter ungeeignet wäre, den Zeitstrom beeinflusst oder gar das Zeittor benutzt, weil damit dem Dunkelträumer geschadet werden könnte. Anders dagegen die Largonen: Sie wollten verhindern, dass die Macht der Transzendenz jemals wieder entfesselt werden kann.

Der Stein der Zeit, in dem du gewesen bist, ist eine Illusion, mithilfe derer die Späher vor der Störung der Zeit warnen. Seit das Zeittor der Largonen durch Brelius wieder aktiviert worden ist, was auch wir nicht verhindern konnten, ist der Stein der Zeit wieder erschienen, und die Späher sind wieder aktiv«, sagte Wissen.

»Du hattest Glück«, sagte Hoffnung. »Sie hätten dich sofort töten können. Offenbar waren sie dazu nicht in der Lage, oder sie haben verkannt, wer du bist. Zum Glück entschieden sie, dich und die Largonen zusammen einzusperren. Sie dachten, dass dir ein Entkommen unmöglich wäre. Sie haben sich geirrt. Denn wir haben dir und Brelius die Flucht ermöglichen können, indem wir einen Spiegel in das Zeitgefängnis projizierten, der euch nach Verlorenend geführt hat. Obwohl wir nicht die Erfinder jener Spiegel sind, ist es uns gelungen, einen zu beschaffen, der dich letztlich hierher geführt hat.«

»Wieso habt ihr die Largonen, die von den Spähern gefangen genommen wurden, nicht auch befreit?«

»Weil wir nicht auf die Largonen, sondern auf dich, Antilius, gewartet haben. Deinen Freund Gilbert aber haben wir aus seinem Spiegelgefängnis geholt, weil wir überzeugt sind, dass er dir eine Hilfe sein kann«, sagte Hoffnung.

»Und die Späher handeln genau wie das Flüsternde Buch auch hinter Koros' Rücken?«, fragte Antilius.

»Ja. Sie haben dich und die Largonen weggesperrt, damit Koros ungehindert das Zeittor stehlen konnte. Sie haben ihm auf diese Weise geholfen, sodass er möglichst bald das Portal aufbauen konnte. Alles nur für den Dunkelträumer. Sie haben alles pedantisch geplant, denn der erste Transzendente, den sie einst geschaffen hatten, ist ihnen entglitten und fing an zu morden. Diesen Fehler werden sie nicht noch einmal begehen.«

»Deshalb waren die Largonen schon verschwunden, bevor Brelius das Zeittor aktiviert hatte«, sagte Antilius geistesgegenwärtig.

»Richtig. Koros soll das Portal wieder errichten und zum Transzendenten werden, weil Koros den Spähern am geeignetsten für die Aufgabe des Transzendenten erscheint. Nur dann kann der Dunkelträumer erneut versuchen, zurückzukehren«, sagte das linke Antilius-Gesicht und schien sich zu freuen.

»Jetzt verstehe ich.«

»Ich habe dir doch gesagt, er würde es begreifen«, sagte das rechte Antilius-Gesicht zum linken.

Antilius selbst durchdachte das Gesagte. »Orakel, woher nimmst du eigentlich die Gewissheit, dass das verbannte Wesen Rache üben will? Diejenigen, die für seine Verbannung verantwortlich waren, sind schon lange tot. Niemand weiß mehr, was damals geschehen ist. Selbst du, Orakel, kennst den Dunkelträumer nur aus einer Überlieferung. Keiner ist sich der Existenz dieses Wesens überhaupt bewusst. Wieso sollte es demnach die Welt, nach der es sich zurücksehnt, zerstören wollen?«

»Das Wesen ist in der langen Zeit der Isolation wahnsinnig geworden. Es weiß nicht, dass die Welt sich verändert hat und dass die Bewohner, die darauf leben, andere sind. Es ist nur von blinder Rachsucht getrieben. Vergiss nicht, Antilius: Der Dunkelträumer hat fast tausend Jahre in der Einsamkeit verbracht, weit außerhalb allen Lebens«, sagte Furcht und schwebte ein Stück näher an Antilius heran. »Es ist unvorhersehbar, was geschehen wird, wenn dem Dunkelträumer die Rückkehr gelingt und er Ilbétha findet. Seine Macht ist dann so gewaltig, dass er, selbst wenn er es nicht will, mit einem einzigen Gedanken den gesamten Planeten zerstören, vielleicht sogar das ganze Universum vernichten könnte.«

Antilius horchte verwirrt auf. »Moment! Ilbétha? Wer ist das?«

Die drei Antilius-Gesichter, die das Orakel repräsentierten, schauten einen Moment einander an. Sie schienen telepathisch miteinander zu reden. Sie überlegten, ob sie ihr Wissen mit dem echten Antilius teilen wollten.

Schließlich sagte Furcht: »Ilbétha ist der wahre Grund, warum der Dunkelträumer zurückkehren will. Sie ist der Grund, warum der Dunkelträumer zu einem gefährlichen Monstrum werden kann. Ilbétha ist älter als das Universum selbst. Sie ist irgendwo auf Thalantia gefangen und doch weiß niemand mehr, dass es sie gibt, geschweige denn, wo sie sich befindet. Kein sterbliches Wesen hat jemals Ilbéthas wahres Antlitz erblickt. Und so soll es auch bleiben, Antilius. Wir selbst wissen von Ilbétha auch nur aus einer Überlieferung unseres Vorgängers.

Der Dunkelträumer darf Ilbétha nicht finden. Du darfst niemandem erzählen, was wir dir hiermit anvertraut haben. Niemandem! Hast du das verstanden?«

Es fiel Antilius schwer zu begreifen, worum es ging, und er hätte gerne mehr erfahren über Ilbétha und über den Dunkelträumer. Aber er versprach, die spärlichen Informationen für sich zu behalten.

Antilius schloss die Augen und atmete tief durch. »Und warum soll ich der Einzige sein, der Koros aufhalten kann?«

»Du bist der Letzte, der die Augen besitzt. Wir haben es jedenfalls nicht vermocht, jemand anderen aufzuspüren, der die Augen hat.«

»Was ist mit meinen Augen?«

»Die Überlieferung besagt, dass derjenige, der die Augen hat, die Fähigkeit besitzt, den Transzendenten und den Dunkelträumer zurückzuweisen. Die Augen des Auserwählten, die im Mondlicht des Mondes Quathan silbern leuchten. Dieses Wesen bist du, Antilius. Wir spüren es. Der Sandling hat es gespürt. Und auch Koros weiß von deinen Augen«, sagte Wissen.

Antilius schüttelte verwirrt den Kopf. »Tut mir leid, aber meine Augen leuchten nicht im Mondlicht. Das wäre bestimmt mir oder jemand anderem aufgefallen.«

»Weil du noch zu wenig über dich selbst weißt, leuchten sie nicht. Weil du nicht glaubst«, sagte Hoffnung und wechselte dann mit seinen Artgenossen ein paar fragende Blicke.

Hoffnung war selbstverständlich von Antilius’ Fähigkeiten überzeugt. Wissen nahm bezüglich der Erfolgsaussichten keine Stellung.

Furcht tat das, wozu er bestimmt war: »Er wird es nie schaffen. Unmöglich! Er glaubt nicht. Er ist hin- und hergerissen. Seine Zweifel blockieren seine Fähigkeiten. Er wird scheitern. Ganz bestimmt«, hechelte Furcht panisch.

»Sei still! Du entscheidest nicht für ihn. Er weiß ganz genau, worauf er sich einlässt. Er lässt sich nicht von seiner Furcht, nicht von dir leiten«, erwiderte Hoffnung.

Antilius verfolgte den Streit seiner beiden Ebenbilder mit Argwohn. Er hing an einer Felswand und wurde Zeuge eines Konfliktes zweier Motive seiner selbst. Das war mehr als surreal.

»Hört auf!«, fuhr er schließlich dazwischen. »Wenn ich Koros besiegen soll, muss ich ihn verstehen. Warum besitzt er diese Fähigkeiten wie die Telepathie und die Macht, in die Träume anderer einzudringen?«

»Koros hat diese Fähigkeiten geerbt. Sie stammen noch aus jener Zeit, in welcher der Dunkelträumer auf Thalantia gelebt hat. Allerdings schwinden diese Fähigkeiten mit jeder neuen Generation immer mehr. Es gibt heute nur noch sehr wenige, die derartige Fähigkeiten besitzen und viele, die sie in sich tragen, sind sich ihrer gar nicht bewusst. Koros jedoch hat seine Fähigkeit früh erkannt und kultiviert. Deshalb glaubt er, er sei auserwählt, zum Transzendenten zu werden.«

Antilius nickte nachdenklich. »Wie kann ich Koros vernichten? Und bitte: Einen klar verständlichen Vorschlag will ich hören und keine vagen Andeutungen.«

»Niemand wird dir sagen können, wie man ihn besiegen kann. Du bist auf dich allein gestellt. Das Einzige, was wir vorhergesehen haben, ist, dass du eine Entscheidung treffen musst«, sagte Wissen ausdruckslos.

»Was für eine Entscheidung?«

»Das Bild aus der Zukunft war zu vage. Zu ungenau.«

»Na toll! Dann hat es sich ja gelohnt, herzukommen«, sagte Antilius missmutig.

»Siehst du! Ich habe ja gesagt, dass er aufgeben würde«, ereiferte sich Furcht.

»Schweig! Ich werde nicht aufgeben«, fuhr Antilius Furcht an.

»Antilius, du hast deinen Feind kennengelernt. Dreimal hast du mit ihm gesprochen. Nutze seine Schwächen, die du erspürt hast. Überrasche ihn mit dem, was er am wenigsten erwartet«, sagte Wissen eindringlich.

Antilius war zwar ziemlich sauer, weil er wieder einmal im Dunkeln tappte. Doch Wissens Hinweis war für ihn mehr als nur eine vage Formulierung.

Koros mit demjenigen überraschen, das er am wenigsten erwartete? Das ergab einen Sinn. Endlich!

»Wie kann ich zurückkehren?«, fragte er.

»Wenn du bereit bist, dann werden wir dich zurück in deine Welt bringen. Doch zögere nicht mehr allzu lange. Es wird bald soweit sein. Das Portal steht kurz davor, geöffnet zu werden.«

Antilius hing eine ganze Weile schweigend an der Felswand und dachte nach. Seine drei Ebenbilder schauten ihn dabei hoffnungsvoll an. Dann ganz langsam entwickelte sich ein Plan in seinem Kopf.

Ja. Ja, so könnte es gehen.

»Ich habe nicht vor, noch länger zu zögern. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Doch ich muss euch noch um einen Gefallen bitten«, sagte er hellwach.

»Sprich!«, forderte ihn Wissen bereitwillig auf.

»Koros ist nicht allein. Seine Leute werden mich nicht an ihn heranlassen. Aber ich muss an ihn heran.«

»Sie werden dich töten, bevor du auch nur seinen Namen rufen kannst«, jammerte Furcht.

»Da stimme ich Furcht ausnahmsweise zu. Deshalb werde ich Unterstützung brauchen.«

»Was hast du dir vorgestellt?«

»Es gibt da jemanden, der mir helfen könnte.« Antilius erklärte, wie er vorgehen wollte. Furcht wendete ein, dass dieser Plan viel zu gefährlich sei. Nicht nur gefährlich für Antilius, sondern gefährlich für das Orakel. Doch da Furcht in diesem Moment ein Teil von Antilius war, spürte Furcht, dass er seinem Original vertrauen musste. Antilius war sich nicht sicher, ob das Orakel das fertig bringen konnte, was er verlangte. Doch alle Stimmen des Orakels versicherten ihm, dass es möglich wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, auch wenn es dem Orakel sehr viel Lebensenergie entziehen würde. Aber es wäre bereit, es zu tun.

Auch wenn es dabei selbst sterben könnte.

Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe)

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