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1.3.1 Zwischen Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit

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Suche nach Übereinstimmungen und Unterschieden

„Sophie soll eine Frau sein, so wie Emil ein Mann ist, das heißt, sie soll alles haben, was der Beschaffenheit ihrer Art und ihres Geschlechtes zukommt, um ihren Platz in der physischen und sittlichen Ordnung auszufüllen. Wir wollen also mit der Untersuchung der Übereinstimmungen und der Unterschiede ihres und unseres Geschlechts anfangen.“ (ROUSSEAU 1762 / 1989, S. 466)

Das Zitat entstammt den ersten Zeilen des fünften Buches des „Emile“ und macht Rousseaus Einstellung zur Geschlechterdifferenz deutlich. Es geht hier um die Mädchenerziehung, der Rousseau zunächst einen ebenso großen Stellenwert einräumt wie der Jungenerziehung. Beide Geschlechter sollen die besten Möglichkeiten zur Ausbildung ihrer Kräfte erhalten, damit sie sich gleichwertig, aber nicht gleichartig gegenüberstehen können. Diese Ansicht war keineswegs selbstverständlich.

Ferner zielte Rousseau besonders auf die Stärkung der Tugenden, denn Sophie sollte ihren Platz in der physischen, aber vor allem auch in der sittlichen Ordnung erhalten. Aus diesem Grund korrespondieren seine Überlegungen zur weiblichen Jugend und ihrer allgemeinen Erziehung mit Vorstellungen über die Lehrbarkeit der richtigen Tugenden. Rousseau konzipierte am Beispiel der gewählten zukünftigen Partnerin Emiles, Sophie, eine spezifische Mädchenerziehung und machte zudem deutlich, worin sich die Mädchenjugend von der männlichen Jugend zu unterscheiden hatte. Im fünften Buch erfahren wir somit etwas über die Erziehung Sophies, über ihre Biographie, ihr Umfeld, ihre Gedanken und Gefühle.

Sophie als „Kunstprodukt“

Mit neuen Erkenntnissen ausgestattet, erreicht nun Emile den letzten Akt seiner Jugend, der in der Suche nach einer komplementären Vollendung durch die erotische Partnerschaft vollendet werden soll. Sophie müsse schließlich eine Frau sein, wie Emile ein Mann ist, und ihn ergänzen. Das obige Zitat könnte einen zunächst glauben machen, Sophie sei das normative Leitbild für Emile, die aufwendige Bedingung des „homme naturel“ und zugleich das nicht mit ihm zu vereinbarende Gegenteil. Rousseau lässt seine Leserinnen und Leser nicht im Zweifel darüber, dass es sich bei Sophie mehr noch als bei Emile um seine literarische Schöpfung oder sein Kunstprodukt handelt. Er begründet dies damit, dass man Sophie, die ideale Partnerin, bereits kennen müsse, um sie überhaupt finden zu können. Die Vollendung der Erziehung liegt auf Seiten des Erziehers demnach in der Zusammenführung des richtigen Mannes mit der richtigen Frau. Das Arrangement der Liebe liegt demnach in den Händen des Pädagogen und Beziehung und Ehe werden durch das soziale Umfeld gestaltet. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der zu Lebzeiten Rousseaus nicht ungewöhnlich war und erst durch das Ideal der romantischen Liebe in Frage gestellt wurde.

Vorstellungen zur Mädchenerziehung

Seine Kenntnisse über die Erziehung und das Wesen Sophies bezieht Rousseau maßgeblich aus den Schriften François de Salignac de la Mothe Fénelons (1651 – 1715), einem Theologen, insbesondere aus dessen Abhandlung über die Erziehung von Mädchen aus dem Jahre 1687, „Traité de l’éducation des filles“, die er nahezu kopiert. Der Autor Fénelon sammelte zahlreiche pädagogische Erfahrungen: Nach seinem Vikariat wurde er um 1675 Betreuer der so genannten „nouvelles catholiques“. Das waren junge Hugenottinnen, die zum katholischen Glauben konvertiert waren. 1686 wurde er als Prinzenerzieher an den Hof des Herzogs von Burgund geholt. Bei Madame de Maintenon, der einflussreichen Maitresse von Ludwig XIV., wirkte er als Berater für eine Einrichtung in Saint-Cyr zur Erziehung verarmter adliger Damen. Die „Traité de l’éducation des filles“ (1687), wurden 1689 von dem Pädagogen August Herrmann Francke ins Deutsche übersetzt. Fénelon schrieb ferner den „Dialoge des morts“, den er wie „Les aventures de Télémaque“ (1699) für seinen pädagogischen Zögling, den Herzog von Burgund, verfasste. Einzug halten die pädagogischen Ideen Fénelons in pädagogische Diskurse weit über seine Zeit hinaus, und zwar durch A. H. Francke, aber v. a. auch durch Rousseau, der zentrale Ideen Fénelons übernahm.

Fénelon beginnt seine Schrift mit der Klage darüber, dass nichts so sehr vernachlässigt worden sei wie die Erziehung der Mädchen, über die allein die Laune der Mutter entscheiden würde. Er legt dar, von welchen anthropologischen Annahmen über die Beschaffenheit der Frauen auszugehen ist, und welche angeborenen Schwächen durch Erziehung in Stärken umgewandelt werden müssten. Eine solche Erziehung läge auch im Interesse des politischen Gemeinwesens:

„Die Gesellschaft ist kein leerer Begriff. Sie ist zusammengesetzt aus der Gesamtheit aller Familien. Wer aber versteht es, diesen das Gepräge der Sittlichkeit und der Gesetzmäßigkeit besser zu geben als die Frauen, welche außer ihrer natürlichen Würde und ihrem häuslichen Wirken noch den Vorzug haben, daß sie von Natur sorgfältig, achtsam auch auf das Kleine, anstellig, gewinnend und mit der Gabe der Überredung ausgestattet sind? Welche Annehmlichkeiten können aber die Männer für sich vom Leben erhoffen, wenn die engste Verbindung, die sie eingehen, die Ehe, sich in Bitterkeit verwandelt? Und erst die Kinder! Was soll aus ihnen, die das Menschengeschlecht der Zukunft bilden, werden, wenn die Mütter sie von der Wiege ab verderben?“ (Fénelon 1687 / 1956, S. 4)

Zunächst widmet sich Fénelon deshalb auch Fragen der Kindererziehung und -pflege, die unabhängig vom Geschlecht des Kindes vorgestellt werden. Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zum ersten und zweiten Buch des „Emile“. Fénelon, ebenso wie Rousseau, betonen die Entwicklung des Kindes, die Bedeutung der Gesundheitspflege für Kleinkinder, die Lernfähigkeit des Säuglings vor der Ausbildung der Sprache und die Fähigkeit des Kleinkindes zur Wahrnehmung. Während Fénelon von der Unwissenheit der Kinder schreibt, deren Weichheit des Gehirns sie dazu verleitet, alles nachzuahmen, weshalb man ihnen nur gute Beispiele zu geben habe, verurteilt Rousseau zwar die nur nachgeahmte Tugend, hält aber grundsätzlich die Nachahmung auch für den Weg des Kindes zur Tugend. Fénelon schreibt zwar nicht direkt über die „negative Erziehung“, gleichwohl propagiert er sie. Ihm geht es darum, dass man in der Erziehung die gebotenen Unterweisungen in einer eher indirekten Form erteilt, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf den gewünschten Gegenstand zu lenken.

Schwächen und Eitelkeiten der Mädchen

Fénelons und Rousseaus Auffassungen über die Typologie eines Mädchens ebenso wie über den natürlichen Charakter des weiblichen Geschlechts stehen hier für die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert dominante Auffassung über jugendliche Mädchen. Dabei wechselten sich anthropologische und erziehungspraktische Argumente stets ab. Der Erziehung kommt demnach die Aufgabe zu, die positiven Seiten des weiblichen Geschlechts zu stärken und negative Formen von Weiblichkeit zu unterdrücken. Zentrale Themen bei Fénelon und Rousseau sind deshalb auch die besonderen Fehler der Mädchen. Diese bezeichnen sie als natürliche Schwächen und verstehen darunter Weichheit, Zimperlichkeit und Hinterlist. Der Hauptfehler der Mädchen aber sei ihre Eitelkeit, die ihnen von frühester Kindheit an eigen wäre. Dabei sprechen sich weder Fénelon noch Rousseau gegen eine anmutige Erscheinung aus, aber sie polemisieren entschieden gegen putzsüchtige Moden.

„Die kleinen Mädchen lieben fast von Geburt an den Putz. Sie sind nicht zufrieden damit, dass sie hübsch sind, sie wollen auch, daß man sie so findet.“ (ROUSSEAU 1762 / 1989, S. 479)

Rousseaus Sophie kleidet sich ganz nach den Vorstellungen Fénelons: Sie liebt schöne Kleider und versteht sich darauf, sich angemessen und der Natur des weiblichen Körpers gemäß zu präsentieren. Sie sei ihrer Mutter die beste Kammerzofe, habe viel Geschmack, hasse reichen Putz und bevorzuge Kleidung von Einfachheit und Eleganz.

Erziehung gemäß der Pflichten

Da sich die weibliche ebenso wie die männliche Erziehung nach den Pflichten richtet, die Mann und Frau später zu erfüllen haben, gibt es für beide Geschlechter eine klare Vorgabe, wie sie geschlechtsgemäß zu erziehen seien. In den Händen der Frau liegen die Erziehung der Kinder, die richtige Einschätzung der Personen, die den Nachwuchs umgeben, die Führung des Haushaltes und der Umgang mit Dienstboten. Vor allem bei der richtigen Haushaltsführung komme es darauf an, so Fénelon, dass man alle notwendigen Dinge im Prinzip auch selbst erledigen könne. Auch diese Fähigkeiten besitzt Rousseaus Sophie, ist sie doch mit allen häuslichen Tätigkeiten vertraut und besonders kunstfertig in Handarbeiten. Den Mädchen müsse man stets etwas zu tun geben:

„Müßiggang und Eigensinn sind die beiden gefährlichsten Fehler für sie, von denen man sie am wenigsten kurieren kann, wenn sie sie einmal angenommen haben. Die Mädchen müssen wachsam und arbeitsam sein; dies ist nicht alles: sie müssen beizeiten an Zwang gewöhnt werden.“ (Ebd., S. 483)

Insbesondere der Zwang zur Schicklichkeit sei zentral für jugendliche Mädchen. Nicht nur in der Entwicklung Emiles, sondern auch in der Entwicklung Sophies zeigt Rousseau, dass die Veränderungen im Jugendalter nach einem intensiven pädagogischen Handeln verlangen, weil es um die Befähigung zu sozialen Beziehungen sowie um die politische Integration geht.

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