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1.3.2 Die Diskussion der Geschlechterforschung

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Die Geschlechterforschung hat innovative Lesarten über Rousseaus Ansichten hervorgebracht. Sei es von der Erziehungswissenschaftlerin Pia Schmid (1992) in ihrem Aufspüren der zweiten, nämlich weiblichen Erziehungstheorie im „Emile“ oder sei es von Heide von Felden (1999) in ihrer Analyse der weiblichen Leserschaft im 18. Jahrhundert. Die feministische Kritik zielte in das Zentrum der Rousseauschen Erziehungskonzeption und interpretierte Sophies Aufwachsen im Vergleich zur aufwendigen Erziehung des Jungen als defizitär. Mit einem sozialkonstruktivistischen und machttheoretischen Zugriff konnte diese Rousseaukritik systematisch zeigen, wie die Ableitung der Geschlechterunterschiede aus der Natur auch der Legitimierung und Etablierung männlicher Macht diente.

Vor allem die angloamerikanische Geschlechterforschung legte den Zusammenhang der pädagogischen und politischen Dimensionen Rousseaus offen. So schlussfolgerte Elizabeth Wingrove über das fünfte Buch „Emiles“, dass man die zweite Geburt Emiles und Sophies nicht nur als Bewusstwerden ihrer Geschlechtlichkeit und Sexualität betrachten dürfe, sondern in der Annäherung, Trennung und abschließenden Zusammenführung der jungen Liebenden vor allem die Hinführung zum politischen Denken und im Falle Emiles die Rückführung in die soziale Gemeinschaft sehen müsste:

„The conclusion must be that in Rousseau’s tale, sexual awareness does not precede social awareness, but rather, the two are coincident: the recognition of sexual identity is a recognition of political forms.“ (WINGROVE 2000, S. 84)

Erziehung als Kontrolle

Ein Beispiel dafür, wie stark Rousseau davon überzeugt war, dass die Gedankenwelt des Zöglings möglichst umfassend geprägt und kontrolliert werden müsse, zeigt seine Haltung gegenüber Lesepflichten. In Rousseaus Erziehungsmodell für die Jugendphase spielt die Lektüre des Jugendlichen eine entscheidende Rolle für einen gelungenen Prozess des Aufwachsens. Während heute allenthalben die Bedeutung des Lesens für Kinder und Jugendliche betont und eine Leseerziehung gefordert wird, sollte Emile in seiner Jugend nur ein einziges Buch lesen, den „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe, ein Bestseller der damaligen Zeit. Es handelt sich um die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der es schafft, sich in einer unwirtlichen Umgebung, inmitten der Einsamkeit, seine erlernte soziale und symbolische Ordnung aufzubauen. Dadurch sollte dem jungen männlichen Leser eine moralische Botschaft in Gestalt eines Abenteuerromans vermittelt werden.

Sophies Lektüre

Auch über die weibliche Lektüre hatte Rousseau sich Gedanken gemacht. Sophie war von den „Abenteuern des Telemachos“ aus der Feder Fénelons beeindruckt. Suite du quatrième Livre de L`Odyssées D’Homère, ou les Avantures de Télémaques, Fils D’Ulysse erschien 1699 in Brüssel und Den Haag, nachdem der Druck der Originalausgabe auf Befehl des absolutistischen französischen Königs Ludwig XIV., der darin eine Kritik an seiner eigenen Herrschaft sah, verboten worden war. Es handelt sich um einen Bildungsroman in achtzehn Büchern nach dem Vorbild spätantiker Abenteuerromane. Im Wesentlichen ging es um die Suche des Sohnes nach Vater, Vaterland und nach den wahren Tugenden. In Sorge um Odysseus macht sich sein Sohn Telemachos auf die Suche und wird von Athene in der Gestalt eines Mentors begleitet. Jede Episode des Romans sollte nach Intention des Autors Anlass zu einem pädagogischen Gespräch geben.

Während die Robinsonlektüre positiv auf Emile zu wirken schien, sind die Lesefrüchte bei Sophie widersprüchlicher. Rousseau entwirft ein überraschendes und amüsantes Szenario: Sophie hatte nach der Lektüre des „Telemachos“ ein männliches Ideal vor Augen und verglich Emile mit dem antiken Helden Telemachos. Sie hatte sich in jugendlicher Schwärmerei und Leidenschaftlichkeit in eine literarische Gestalt verliebt und der konnte der konkrete junge Mann nicht genügen. Neben diesem Helden, das führt Rousseau vor Augen, musste sein tugendhafter Emile fade und wenig begehrenswert erscheinen. Sophies Eltern hatten ihrer Tochter versprochen, dass sie alle Freiheiten in der Wahl des Ehemannes habe. Freiheit, so Rousseau, müsse aber angemessen genutzt werden und durch das Verwischen der Grenzen zwischen Lektüre und Leben lief Sophie Gefahr, an der gewährten Freiheit zu scheitern. Sie missachtete Emile und verzehrte sich nach der Idealgestalt. So hätte es enden können, doch Rousseau greift den alten Erzählstrang wieder auf und lässt die Episode als Drohung stehen. Er warnt insbesondere vor den zerstörerischen Kräften der Phantasie und bekräftig sein Gebot, in der Erziehung Erfahrung höher zu bewerten, als Lektion und Lektüre.

Darüber hinaus skizziert er unterschiedliche Verläufe der Jugendzeit und zeigt, dass die Fähigkeit zum intensiven Erleben Jugendliche gefährden kann.

„Nein, ich verzichte auf diese traurigen Gegenstände … Wir wollen unserem Emile seine Sophie geben. Wir wollen dieses liebenswürdige Mädchen wieder beleben, um ihm eine nicht so lebhafte Einbildungskraft und ein glücklicheres Schicksal zu geben.“ (ROUSSEAU 1762 / 1989, S. 535)

Vor allem durch seine Übernahme der Ansichten Fénelons war es Rousseau möglich, verschiedene weibliche Jugendverläufe zu entwerfen, und in zentralen Passagen gehen die verschiedenen Entwürfe ineinander über. In der Person Sophies ist das erst später im Fragment „Emile und Sophie oder die Einsamen“ geschilderte Lebensdrama der beiden bereits angedeutet. Die Liebe und das Glück von Emile und Sophie, das beide aneinander zu finden hofften, erweist sich als Zukunftsprojekt, das letztlich wenig Chancen hat, im feudalen Frankreich realisiert werden zu können. Ihr Glück scheint von vornherein auf tönernem Grund gebaut, so dass Sophie Jahre später, unglücklich durch die Schicksalsschläge wie den Tod der Tochter und der Eltern, ihre Tugendhaftigkeit verliert und ihrem Mann untreu wird.

Sowohl Fénelon als auch Rousseau sahen in der Jugendphase die erste große Gefahr für die Entwicklung des Menschen und für die kontinuierliche Entfaltung der Tugenden in der Persönlichkeit. Beide verlangten deshalb eine intensive und sensibel steuernde Erziehung und eine möglichst umfassende Kontrolle. Somit sind Jugendbild und Jugendtheorie mit der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugenden eng verknüpft. Die Gefährdung von Tugend, Vaterland und Familie ging besonders vom weiblichen Geschlecht aus. Sophie stand trotz ihrer guten Erziehung unter dem starken Einfluss ihrer Phantasie, so dass mit der weiblichen Jugend stets Verführung und Sexualität einhergingen. Somit wird deutlich, dass für Rousseau die Mädchenjugend durch das Spannungsfeld von Leidenschaften und Tugenden geprägt war und dass das Mädchen andere Jugendkrisen durchlief als der Junge.

Unabhängig von den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen von Emile und Sophie betont Rousseau für beide Geschlechter die Bedeutung einer durchdachten und gestalteten Erziehung im Jugendalter. Insofern bot Rousseau seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen Ausgangspunkt für spezielle Fragen der Jugenderziehung.

Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 1 gelesen haben:

 Sie sollten wissen, warum Jugend als „Denkfigur“ bezeichnet wird und was darunter zu verstehen ist.

 Sie sollten wissen, wer Jugend als „zweite Geburt“ bezeichnet hat und was bis in die Gegenwart hinein darunter verstanden wird.

 Sie sollten erklären können, was in der Jugendforschung mit „Normalitätskonstruktionen“ gemeint ist.

 Sie sollten Funktionen und Kriterien der historischen Jugendforschung kennen.

 Sie sollten erklären können, was man unter Jugend als „sozialem Konstrukt“ versteht.

 Sie sollten wissen, worum es im „Emile“ geht und warum das Buch für die Jugendforschung wichtig war.

Weiterführende Literatur zu Kapitel 1:

KRAFT, VOLKER (31997): Rousseaus „Emile“: Lehr- und Studienbuch. Bad Heilbrunn. Dieses Buch trägt die Bezeichnung „Lehr- und Studienbuch“ zu Recht: Kraft führt konzentriert und aufschlussreich in die Lektüre des „Emile“ ein. Er bietet eine überzeugende und gut nachvollziehbare Darstellung und Interpretation der bei Rousseau angelegten pädagogischen Konzeption. Darüber hinaus werden in einer klaren Sprache Beziehungen zu sozialwissenschaftlichen Theorien hergestellt.

WINGROVE, ELIZABETH ROSE (2000): Rousseau’s Republican Romance. Princeton University Press. Princeton, New Jersey. Die Studie aus den USA bietet in einem klar verständlichen Englisch einen Eindruck in das innovative Potenzial der Geschlechterforschung. Wingrove präsentiert eine sehr originelle und trotzdem nachvollziehbare Interpretation Rousseaus und konzentriert sich dabei auf den politischen Kontext. Wer sich für die Auseinandersetzung mit Rousseau aus der geschlechtertheoretischen und interdisziplinären Perspektive interessiert, erhält durch die Lektüre interessante Einblicke.

LANDGREBE, CHRISTIANE (2004): „Ich bin nicht käuflich“. Das Leben des Jean-Jacques Rousseau. Weinheim/Basel. Die 2004 erschienene Biographie der Romanistin Landgrebe über Rousseau erschließt den Menschen über seinen biographischen und intellektuellen Hintergrund. Das Buch basiert auf französischen Quellen und bezieht insbesondere die „Confessions“ von Rousseau sensibel und differenziert mit ein. Man erhält einen Überblick über den Lebensweg, über wiederkehrende Probleme und Konflikte, über bekannte Zeitgenossen und über die Entstehung der Schriften und die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Autor und Werk. Die Autorin stellt in einem Glossar die wichtigsten Zeitgenossen Rousseaus vor, so dass man auch ohne ein umfangreiches Hintergrundwissen beim Lesen den Überblick behält.

Einführung in die Jugendforschung

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