Читать книгу Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift - Sabine B. Procher - Страница 11

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Bei der üblicherweise vom Arzt gestellten Frage, wie lange ich die Beschwerden schon hätte, musste ich nie lange überlegen. Ich kann mich noch mit Schrecken daran erinnern, wie sich mein Darm zum ersten Mal unangenehm bemerkbar machte, als ich elf Jahre alt war.

Irgendetwas, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, hatte mich bewogen zu behaupten, dass ich fürchterliche Bauchschmerzen hätte, obwohl ich in Wirklichkeit gar nichts spürte. Da unser Hausarzt nichts anderes feststellen konnte, diagnostizierte er eine Blinddarmentzündung. Selbst die bevorstehende Operation hinderte mich nicht daran, bei meiner Schwindelei zu bleiben. Ich genoss es, umsorgt zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.

Wenn ich zurückdenke, hatte ich schon einige Jahre früher auf Bauchschmerzen zurückgegriffen, so zum Beispiel, wenn ich einer neuen Schulklasse vorgestellt wurde, was Gott sei Dank nur viermal der Fall war. Nach der Operation hatte ich plötzlich Schwierigkeiten mit dem Stuhlgang, was auf das Narkosemittel zurückgeführt wurde. Nachdem ich mich fast fünf Tage nicht entleeren konnte, und die Mittelchen der Ärzte nicht anschlugen, half mir eine Krankenschwester, die im Nebenhaus wohnte, indem sie mir nach alter Tradition einen Einlauf mit Seifenwasser machte. Unter wahnsinnigen Krämpfen, wahrscheinlich einer Geburt ähnlich, brachte ich schließlich die angesammelten Verdauungsreste ans Tageslicht. Ich war völlig fertig und schwor mir, so etwas nie wieder mitzumachen. Wie ich das verhindern wollte, wusste ich in diesem Moment allerdings selbst nicht genau.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in der Kindheit irgendwelche Nahrungsmittel nicht vertrug oder Allergien hatte. Im Alter von 14 Jahren war ich plötzlich im Sommer dauernd erkältet. Da ich viel Zeit im Schwimmbad verbrachte, schob ich dies auf das Chlorwasser und darauf, dass ich oft den nassen Badeanzug anbehielt.

In diesem Frühjahr hatte ich begonnen, die Jungs mit anderen Augen zu betrachten. Es dauerte nicht lange, bis ich während eines neckischen Gerangels meinen ersten Kuss bekam. Ich lag mit mehreren aus unserer Clique auf der Wiese des Schwimmbades. Plötzlich warf ein Neuankömmling von hinten eine Decke über uns, was einer der Jungs ausnutzte und mir einen Schmatzer aufdrückte. Ich war über den Effekt enttäuscht, denn irgendwie klapperten mehr unsere Zähne gegeneinander, als dass sich unsere Lippen fanden. Völlig überrumpelt suchte ich nach einem Grund, mich schnellstens zu verabschieden. In den nächsten Tagen ging ich dem jungen Mann lieber aus dem Weg. Irgendwie schämte ich mich, weil der Kuss so missglückt war.

Einige Wochen später hatte ich ein weiteres Erlebnis, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Der sechzehnjährige Sohn des Bademeisters lockte mich in die Wohnung seiner Eltern, wo er mich verführen wollte. Ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut und flüchtete, so schnell es ging, nach draußen auf die Badewiese. Einige Wochen später bemerkte ich, dass ich dauernd gerötete Augen bekam und verschnupft war. Erst sehr viel später beobachtete ich, dass es immer besonders schlimm wurde, wenn ich im Schwimmbad im Gras lag. Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich allergisch war. Ein spezieller Test im Alter von 22 Jahren deckte schließlich Allergien gegen Gräser und Getreide auf. Heute frage ich mich, ob nicht die ersten Kontakte zum anderen Geschlecht irgendwelche Ängste in mir ausgelöst haben, die sich auf diese Weise äußerten.

Auch die Getreideallergie könnte mit dem erwachten Sexualempfinden in Zusammenhang stehen. Als Teenager bauten wir uns oft auf den umliegenden Feldern Hütten aus Strohballen, rückten dort eng zusammen und erzählten uns Geschichten. Könnte es sein, dass ich das angenehme Empfinden, welches ich beim Körperkontakt mit den Freunden hatte, als etwas Verbotenes einordnete? Meine Mutter warnte mich dauernd, mich nicht mit Jungs einzulassen. Hatte ich deshalb im Unterbewusstsein ein schlechtes Gewissen? Entstand dadurch womöglich die Allergie gegen Getreide?

In der Kindheit hatte ich nie Probleme beim Verzehr von Äpfeln. Als ich älter wurde, bekam ich plötzlich bei deren Genuss Blähungen. Wir Jugendlichen fuhren oft mit den Fahrrädern in die so genannte „Kornmarsch“. Dort wuchsen jede Menge Apfelbäume. Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, als wir Kinder in mehreren Etappen unzählige Äpfel nach Hause schleppten. Zu Hause hatte ich die halbe Badewanne mit den Früchten gefüllt. Als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, war sie nicht begeistert. Im Gegenteil, sie beschimpfte mich, dass ich unnötige Arbeit verursacht hätte. Grollend verarbeitete sie einen großen Teil zu Apfelmus und backte Kuchen, den Rest verschenkte sie. Ich war enttäuscht, dass sie über den Vorrat nicht genauso begeistert war wie ich. Könnte dieses Erlebnis meine Unverträglichkeitsreaktion auf Äpfel ausgelöst haben?

Je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr erschien es mir, dass meine Beschwerden mit Liebe, Anerkennung und Sexualität in Zusammenhang stehen mussten. Was passierte in meinem Körper? Wo sollte ich suchen? Auf Anraten meiner Therapeutin beschloss ich, bis zu den Anfängen meiner Erinnerung zurückzugehen.

Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift

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