Читать книгу Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift - Sabine B. Procher - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеManch einer wird bei dem Ausdruck „sanfter Missbrauch“ irritiert sein. Kann ein Missbrauch überhaupt zart und sanft sein? Verharmlost beziehungsweise verniedlicht das Wort nicht alles sofort wieder? Verlangen die Menschen nicht förmlich nach diesen reißerischen Darstellungen von Brutalität, oder weshalb gehen die Illustrierten mit diesen Berichten in solch hohen Auflagen über den Tresen? Wieso klicken unzählige Personen – nicht nur angeblich Perverse – die Internetseiten dieser Portale an? Was versteht die Mehrheit eigentlich unter Kindesmissbrauch? Ist es nur dann ein Missbrauch, wenn eine Vergewaltigung oder eine Quälerei stattfindet, oder fängt er schon viel früher an?
Haben Sie gewusst, dass die Kleinen bei den sexuellen Handlungen, wenn sie schmerzfrei sind, oft angenehme Gefühle empfinden, die sie allerdings noch nicht einordnen können? Täter haben dadurch oftmals ein leichtes Spiel, denn wie soll das Kind erkennen, dass etwas Schlechtes mit ihm passiert, wenn womöglich ein guter Bekannter oder Verwandter mit im Spiel ist? Oft ist es die Scham, der Respekt vor dem Erwachsenen, die Angst vor Verachtung oder vielleicht sogar die Liebe zum Täter, die ihnen in diesen Fällen den Mund verschließt. Diese Biographie soll den Betroffenen Mut machen, über alles zu reden und ihnen die Scheu vor einer Verurteilung durch die Gesellschaft nehmen.
Ich war schon 56 Jahre alt, als mir erstmalig bewusst wurde, dass meine Wut und die Aggression, die ich in mir spürte, ihren Ursprung in meiner Kindheit hatten. Jahrzehntelang hatte ich verdrängt, was ich damals erlebt hatte und, woran ich mir allein die Schuld gab. Erst als ich die seelischen und körperlichen Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, setzte ich mich damit auseinander. Es sollten noch weitere zwei Jahre vergehen, bis ich wagte, mich meinem Mann und einer Freundin anzuvertrauen. Da ich merkte, dass die Reaktion der beiden völlig anders ausfiel, als von mir erwartet, sprach ich mit einer Therapeutin darüber, die mir riet, alles aufzuschreiben, was mir auf der Seele brannte. Dadurch ist dieses Buch entstanden.
Ich habe inzwischen erkannt, dass nicht ich Schuld habe, sondern die Erwachsenen, die damals meine kindliche Neugierde ausnutzten und mit mir Dinge taten, die meinem Alter nicht angemessen waren. Als ich dieses Buch schrieb, wurde mir bewusst, dass ich im Vorschulalter unmöglich wissen konnte, dass ich missbraucht wurde. Trotzdem schäme ich mich ab und zu sogar heute noch dafür, wenn ich daran denke. Allerdings bin ich jetzt in der Lage, zu erkennen, dass ich mich für die Täter schäme. Ich bin froh, dass ich die Scheu verloren habe, darüber zu reden. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich von niemandem verurteilt werde.
Ich hoffe, dass ich durch meinen Bericht anderen Betroffenen Mut machen kann, nicht länger über die Vergangenheit zu schweigen. Sie sollen erkennen, dass ihre körperlichen und seelischen Leiden womöglich mit ihren Kindheitserlebnissen in Zusammenhang stehen.
Viele wissen nicht, dass der wohlige Schauer, der den Säuglingen durch den Körper rinnt, wenn sie an der Brust der Mutter saugen oder sie zärtlich gestreichelt werden, schon einen Hauch Sexualität in sich birgt. Schon im Vorschulalter gehört das Erkunden des anderen Geschlechts zu einer normalen Entwicklung des Menschen dazu. Heutzutage weiß die Gesellschaft mehr darüber und man beginnt schon im Kindergarten mit der Prävention, um den Nachwuchs an diese Dinge heranzuführen.
Meine Generation wurde sehr prüde und verklemmt erzogen. Der Sex wurde den Frauen als notwendiges Übel zur Fortpflanzung geschildert, was letztlich zur Folge hatte, dass in den Schlafzimmern der Ehepaare nur wenig Leidenschaft anzutreffen war. Das war sicher auch einer der Gründe, weshalb die Männer ihr Sexualleben nach draußen verlagerten und sich eine jüngere Geliebte anschafften.
Durch die Aufklärungskampagnen des Oswalt Kolle stand die nächste Generation der Liebe viel aufgeschlossener gegenüber. Natürlich ist inzwischen alles viel freier, und auch die Generation 50 Plus hat Lust am Sex. Trotzdem sind die Prägungen aus der Kindheit in den Köpfen eingebrannt und verhindern unbewusst, das Leben tatsächlich zu genießen. Sie kennen ja seit jeher nichts anderes und wissen nicht, wie gut man sich tatsächlich fühlen kann. Den meisten wird nicht klar sein, dass ihre körperlichen Beschwerden oft einen Zusammenhang mit dem haben, was ihnen die Eltern in der Kindheit eingebläut haben.
Auf den folgenden Seiten berichte ich, wie mir bewusst wurde, dass ich von etwas gesteuert wurde, was ich scheinbar nicht beeinflussen konnte. Ich erzähle von meinen frühkindlichen sexuellen Erfahrungen, erkläre, welche Auswirkungen sie auf mein späteres Leben hatten und zeige Ihnen, was meine Erziehung damit zu tun hatte. Sie werden erkennen, dass ich in einem annähernd normalen Elternhaus aufgewachsen bin. Meine Eltern konnten zwar kaum Gefühle zeigen, aber deshalb waren sie noch lange keine Rabeneltern. Ich wurde einfach zu früh in die Erwachsenenwelt hineingestoßen. Die Älteren erkannten damals nicht, was sie mir damit zumuteten.
Da in der heutigen Zeit viele Kinder durch die Berufstätigkeit beider Elternteile in eine ähnliche Situation geraten könnten, zielt mein Bericht auch darauf ab, die Erziehungsberechtigten hellhörig zu machen. Sie sollen wissen, dass ein Missbrauch auch andere Formen haben kann und nicht erst bei einer Vergewaltigung anfängt. Es ist in dieser hektischen Zeit oft nicht leicht, zur richtigen Zeit die Antenne auszufahren. Vor allem denken Sie immer daran, Ihr Kind mag noch so robust erscheinen, die Seele im Innern ist dagegen ein zartes Gebilde. Jedes falsche Wort macht eventuell das künftige Leben zur Qual.
Denken Sie immer daran, Ihr Kind liebt und bewundert Sie. Was Sie ihm sagen oder vorleben, ist Gesetz. Es will Ihnen gefallen, auch wenn Sie manchmal das Gefühl haben, Sie beide stehen mit ihren Ansichten meilenweit auseinander. Hören Sie zu, wenn ein Hilfeschrei in Ihr Unterbewusstsein dringt und vor allem, sagen Sie niemals zu Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn: „Das hast du dir doch alles nur ausgedacht.“