Читать книгу Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift - Sabine B. Procher - Страница 12

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Wie ich von ehemaligen Bekannten meiner Eltern erfahren habe, hatten meine Eltern deshalb geheiratet, weil meine Mutter nach Kriegsende sonst ihre Wohnung hätte verlassen müssen. Ihr standen allein keine zwei Zimmer zu. Sie war in der Wohnung der Eltern zurückgeblieben, als diese aus beruflichen Gründen die Stadt verlassen hatten.

Meine Mutter war gerade 19 Jahre alt, als sie meinen Vater kennenlernte. Ein Jahr später heirateten sie. Ob sie Vater damals aufrichtig geliebt hat, konnte mir niemand mit Sicherheit berichten. Sie war schon früh auf sich allein gestellt gewesen und hatte, vielleicht auch durch den vorausgegangenen Krieg, eine für damalige Zeit überlebensnotwendige Härte entwickelt. Die ein Meter sechzig große, wohlgeformte Frau betörte durch ihr hübsches Gesicht, welches von halblangen, dunkelblonden, lockigen Haaren umrahmt war. Ihr Fleiß und Ehrgeiz halfen ihr, diese schlechten Zeiten einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Sie wurde in ihrer Umgebung anerkannt und wusste sich durchzusetzen, allerdings duldete sie keinen Widerspruch. Wenn sich ihr doch jemand widersetzte, konnte sie eine Strenge und Aggressivität an den Tag legen, die man ihr im ersten Moment gar nicht zugetraut hätte. Gerade diese Mischung von Fraulichkeit und Mannweib soll meinen Vater fasziniert haben, wie mir eine Vertraute meines Vaters später erzählte.

Mein Vater soll zu damaliger Zeit ein großer Geschichtenerzähler gewesen sein, der seine Umgebung mit zahlreichen Erlebnisberichten in den Bann ziehen konnte. Meine Mutter meinte, dass er sich vieles nur ausgedacht haben soll. Was an dieser Behauptung wahr ist, kann ich nicht beurteilen. Mein Vater tanzte gern und trieb ausgiebig Sport, wobei er sich besonders beim Boxen und Fußballspielen hervortat. Er wurde Mitglied im Sportverein, wo er Onkel Helmut kennenlernte. Onkel Helmut und seine Frau Anna wurden die besten Freunde meiner Eltern und standen mir später näher als meine richtigen Verwandten.

Papa hielt sich nach dem Krieg nur mit allerlei Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die finanziellen Sorgen werden die Ehe sehr belastet haben. Mutti, die aus einem Angestelltenhaushalt stammte, ließ meinen Vater oft spüren, dass er „nur“ ein Arbeiter war. Vater soll sehr darunter gelitten haben. Sie fing an, ihn bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern, dass sie das Sagen haben wollte. Auch meine Großeltern mütterlicherseits waren anfangs von dieser Verbindung nicht begeistert. Großvater soll oft provoziert haben. Nachdem sich nach zwei Jahren immer noch kein Nachwuchs eingestellt hatte, sagte er ironisch zu meinem Vater, dass er kein richtiger Mann wäre, weil er ja nicht imstande wäre, ein Kind zu zeugen. Vater war in seiner Ehre gekränkt und passte mit Absicht beim nächsten Verkehr nicht auf. Prompt wurde meine Mutter schwanger, worüber sich ihre Begeisterung in Grenzen hielt. Ob sie im Stillen an Abtreibung dachte, was in der damaligen Zeit allerdings bei Strafe verboten war, konnte mir niemand sagen.

Mein Vater und die Großeltern waren jedenfalls aus dem Häuschen vor Glück. Wie ich später hörte, soll mein Vater mich vergöttert haben. In meiner Kleinkindzeit hat er mich überall mit hingeschleppt und stolz vorgezeigt. An diese Zeit habe ich selbst noch keine Erinnerung. Man erzählte mir, dass ich ein richtiges Papa-Kind gewesen sei, was er sichtlich genossen hätte. Vermutlich hat dies eine gewisse Eifersucht bei meiner Mutter geschürt. Sie gönnte vielleicht weder ihm noch mir diese innige Vertrautheit.

Die früheste Erinnerung habe ich erst an die Zeit, als ich drei Jahre alt war. Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung mitten in Berlin. Sie lag in der zweiten Etage eines vierstöckigen Hauses, welches auf einem riesigen Grundstück stand, zu dem vier weitere fünfstöckige Häuser gehörten. Ursprünglich waren es sogar sieben gewesen, aber zwei waren ausgebombt worden. Die beiden Ruinen im vorderen Bereich erinnerten die Erwachsenen mahnend an den zweiten Weltkrieg. Jedenfalls trat immer Ehrfurcht in ihre Gesichter, wenn sie uns Kindern eindringlich verboten, dieses Areal zu betreten.

Die zahlreichen Familien, die nach dem Krieg irgendwie zusammengeschweißt schienen, nannten viele Kinder ihre eigenen. Da war der gleichaltrige Rolf, der Sohn eines Beamten, mit dem ich besonders gern spielte. Er wohnte im dritten Stock des zweiten Vorderhauses. Rolf ging vormittags in den Kindergarten. Da ich mich so gut mit ihm verstand, hoffte meine Mutter, dass ich mich dort auch wohl fühlen würde und meldete mich an. Ich sollte den ganzen Tag dort bleiben und mittags da schlafen. Schon am ersten Tag schrie ich wie am Spieß, besonders als ich merkte, dass Rolf mittags nach Hause durfte. Meiner Mutter wurde ans Herz gelegt, mich lieber wieder bei uns im Hof spielen zu lassen. Da auf dem Grundstück wenig Gefahr bestand, einen Schaden zu erleiden, gab meine Mutter nach. Wir Kinder waren sowieso ständig irgendwie unter Aufsicht. Es waren alle Altersgruppen vertreten, vom Kleinkind bis zum Achtzehnjährigen. Da passte jeder auf jeden auf. Die Zeit verbrachten wir mal mehr, mal weniger harmonisch zusammen. Wir spielten Verstecken, Räuber und Gendarm und veranstalteten diverse Wettkämpfe.

Ein weiterer Gefährte war Rudi. Meine Eltern mochten nicht, dass ich mit ihm die Zeit verbrachte, denn seine Eltern waren nicht beliebt. Es wurde viel darüber gemunkelt, dass sie nicht ganz astrein wären. Was immer das in diesem Fall konkret zu bedeuten hatte, ist mir auch später nie zu Ohren gekommen. Rudi hatte nur Blödsinn im Kopf, was mir aber gerade besonders gut gefiel. Einmal hat er tatsächlich im vierten Stock aus dem Hausflurfenster gepinkelt, als ein alter Herr unten ins Haus wollte. Wir sind schnell in die Wohnung zurückgelaufen, ehe der Mann registrieren konnte, woher der Segen kam.

Rudi war genau wie ich vier Jahre alt, als ein Pärchen ein altes Auto auf dem Grundstück abstellte. Drei Wochen lang ließen sich die Besitzer nicht blicken. Wir Kinder schlichen neugierig um das Gefährt herum, welches versteckt hinter einem alten Schuppen stand. Einer der Älteren ruckelte irgendwann an der Tür und tatsächlich, sie gab nach. Wir waren nicht mehr zu halten, und in den nächsten Tagen waren wir damit beschäftigt, den Wagen von innen zu erkunden. Wir spielten Agent und Flüchtlinge, wobei wir Kleineren meist die Verfolgten waren. Ich liebte es, wenn Rudi mich als seine Räuberbraut auserkor, und wir uns eng umschlungen im schmalen Kofferraum auf der Flucht befanden. Wenn wir unsere kleinen Körper aneinanderpressten, spürte ich ein ungemein angenehmes Gefühl. Leider konnte ich diese Augenblicke nicht lange genießen, denn zu unserem Entsetzten tauchten irgendwann die Besitzer wieder auf und erwischten uns spielend in dem Gefährt.

Mutti beschimpfte mich ganz furchtbar und beschuldigte nicht nur Rudi, sondern sogar seine missratenen Eltern, daran Schuld zu haben, wenn ich eines Tages auf die schiefe Bahn geraten würde. Wieso meine Eltern eigentlich nicht vorher bemerkt hatten, dass wir uns an dem alten Auto zu schaffen machten, ist mir ein Rätsel. Wenn sie uns korrekt beaufsichtigt hätten, hätten sie sich viel Ärger ersparen können, denn wir hatten in dem Wagen ordentlich gewütet. Mir wurde verboten, mit Rudi zu spielen. Ich weinte und wollte den Grund nicht einsehen. Die anderen waren doch auch dabei gewesen.

Bekanntlich ist ja alles, was verboten ist, besonders reizvoll. Deshalb trafen Rudi und ich uns heimlich im Keller. Sämtliche fünf Häuser waren untereinander mit Gängen verbunden, die zum größten Teil nie betreten wurden. Der ältere Bruder von Rudi hatte hinter einem Verschlag einen versteckten Eingang entdeckt, von dem man den unterirdischen Bereich betreten konnte. Rudi stibitzte manchmal von seinem Vater eine kleine Taschenlampe, sodass wir die Gänge erkunden konnten. Später kannten wir jeden Stein auswendig und tappten sogar im Dunkeln voran. Hinter dem ersten Gang war ein größerer Bereich, wo eine alte Matratze lag. Dort richteten wir uns häuslich ein.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir eng aneinandergeschmiegt zusammen lagen und uns Geschichten erzählten. Wenn ich genau überlege, war es das gleiche wohlige Gefühl, welches ich heute empfinde, wenn ich mit meinem Mann Georg abends im Bett liege, wir uns aneinanderkuscheln und Pläne schmieden.

Ich hatte im Alter von vier Jahren dies angenehme Gefühl schon zu verschiedenen Gelegenheiten kennengelernt. Immer wurde mir beigebracht, dass etwas Verbotenes damit verbunden wäre. War womöglich die Programmierung aus damaliger Zeit noch immer aktuell?

Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift

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