Читать книгу Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift - Sabine B. Procher - Страница 14

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Die zehn Jahre ältere Gisela, die mit ihrer Mutter und einer älteren Schwester über uns wohnte, passte meist nachmittags auf mich auf. Ich bewunderte sie wegen ihrer Schönheit. Durch ihre langen schwarzen Haare und dem dunklen Teint wirkte sie wie eine Südländerin. Sogar deren rassiges Temperament und die Kunst, gut zu schauspielern, konnte man bei ihr entdecken. Sie war mitten in der Geschlechtsreife und verdrehte so manchem jungen Mann den Kopf. Ich liebte es, wenn sie mir mit ihrer dunklen Stimme Szenen aus grusligen Märchen vortrug und mich an ihrem Leben teilnehmen ließ, indem sie mir ihre intimsten Erlebnisse erzählte. Sie schleppte mich sogar mit zu ihren Verabredungen, was ich ungemein interessant fand. Ich war auch dabei, als Gisela ihren ersten Kuss bekam.

Eines Tages ging sie mit mir auf einen kleinen Rummelplatz. Am Tag zuvor hatte sie den Sohn des Besitzers einer Achterbahn kennengelernt. Natürlich durfte sie umsonst mit der Bahn fahren. Da sie mich nicht allein lassen durfte, hatte ich an diesem Tag etwa zehnmal das zweifelhafte Vergnügen, auszukosten, wie mir vor Angst das Herz in die Hose rutschte, wenn der Wagen in Schwindel erregender Höhe um die Kurven raste. Als ich schließlich ganz blass vor Angst war, begriff Gisela endlich, was sie mir damit antat und beschränkte sich auf eine Unterhaltung mit dem jungen Mann am Boden. Als Gisela sich von ihrem Verehrer verabschiedete, nahm dieser sie in den Arm und küsste sie. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Papa hatte Mutti mal zum Abschied geküsst, als ich mit ihr weggefahren war, aber das hatte anders ausgesehen.

„Ich glaube, ich bin verliebt“, verkündete Gisela mir auf dem Heimweg. „Du darfst zuhause keinem erzählen, wo wir heute waren, sonst bekomme ich Ärger.“

„Was ist verliebt?“

„Wenn man jemanden ganz doll leiden kann.“

„Ich kann dich auch ganz doll leiden. Bin ich in dich verliebt?“

„Nein, das ist was anderes. Wenn ein Mann eine Frau liebt oder umgekehrt, dann geht das.“

„Was geht dann? Woher weißt du, dass du verliebt bist?“

„Das spürt man eben. Das ist so ein komisches Gefühl im Bauch. Ich kann das gar nicht beschreiben.“

Ich überlegte, ob Gisela vielleicht von dem Gefühl sprach, welches ich vor kurzem in Meckis Armen gespürt hatte. Ich nickte.

„Das ist also ‚verliebt sein‘. Aber das ist verboten“, kam es mir schlagartig in den Sinn. Ich fühlte förmlich noch einmal die Ohrfeige meiner Mutter.

„Natürlich verrate ich nichts“, erwiderte ich der großen Freundin.

In den nächsten Wochen ließ ich mir immer wieder von Gisela „das Gefühl“ beschreiben, welches diese aber jedes Mal anders darstellte. Gisela begriff nicht, warum ich das alles wissen wollte, denn ich würde es ja noch gar nicht verstehen. Da sie aber sonst mit keinem über ihre Liebe reden durfte, war sie vermutlich froh, dass ihr überhaupt jemand zuhörte. Gisela war für mich wie eine große Schwester, der ich nacheiferte. Durch ihre Erzählungen weckte sie manche Neugierde in mir, Neugierde auf Dinge, die meinem Alter überhaupt noch nicht angemessen waren.

Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift

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