Читать книгу Sanfter Missbrauch. Das schleichende Seelengift - Sabine B. Procher - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеDie meisten Schriftstücke, die ich bisher zum Thema Missbrauch gelesen habe, schildern in dramatischer Weise grausame Quälereien und Vergewaltigungen, die an Kindern begangen wurden. Sexueller Missbrauch von Kindern kann aber auch auf ganz andere Art und Weise stattfinden.
Gerade der so genannte „sanfte Missbrauch“ vergiftet die Seele, da er völlig unbemerkt stattfindet. Die Betroffenen trauen sich oft nicht, das Schweigen zu brechen. Die Zahl in der Statistik wird um ein erschreckend Vielfaches höher sein, wenn diese sich endlich auch zu Wort melden.
Dieses Buch habe ich all denen gewidmet, die als Kind missbraucht worden sind, egal ob dabei Gewalt im Spiel war oder nicht. Aber gerade, wenn die sexuellen Übergriffe schmerzfrei stattfinden, erkennen Kinder oft nicht, wenn die Erwachsenen sich an ihnen vergehen. Wenn ihnen irgendwann, wenn sie älter und verständiger geworden sind, zu Bewusstsein kommt, was passiert ist, schämen sie sich und entwickeln Schuldgefühle, die ihnen das Leben zur Qual machen. Ihre oft gravierenden körperlichen und seelischen Leiden im Erwachsenenalter werden meist nicht mit den frühen Erlebnissen aus der Kindheit in Zusammenhang gebracht. Wenn sie sich überhaupt offenbaren, vergehen oft Jahrzehnte, bis sie sich verschämt einem Therapeuten öffnen. Die wenigsten trauen sich, in aller Öffentlichkeit darüber zu reden.
An dieser Stelle möchte ich die Mitmenschen aufrütteln, genau zu überlegen, was sie demjenigen antworten, der ihnen so etwas Ungeheuerliches mitteilt. Mir ist doch tatsächlich vor zwanzig Jahren passiert, als ich einem damaligen Freund von meinem Kindheitstrauma berichtete, dass er mir antwortete: „Na, so schlimm ist das doch auch nicht. Es wird dir schon gefallen haben.“
Ich war entsetzt und enttäuscht zugleich. Meine Schuldgefühle wurden dadurch verstärkt und ich schwor mir, nie wieder ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.
Doch so einfach ging das nicht. Mein Körper und meine verletzte Seele ließen sich nicht vorschreiben, was ich zu tun hatte. Es sollten aber noch über sechzehn Jahre des Leidens vergehen, bis ich mich näher mit meinem Schicksal auseinandersetzte. Und jetzt erst, nachdem ich mich endgültig entschlossen habe, alles, wirklich alles nach außen zu tragen, spüre ich, dass eine Last von mir abfällt. Natürlich stecke ich noch voller Ängste, ob ich es schaffen werde, mit eventuellen Anfeindungen fertig zu werden. Inzwischen habe ich aber etliche Menschen kennengelernt, die mich darin bestärken, dass die Zeit reif dafür ist.
Vielleicht erreiche ich ja mit meinem Buch, dass viele Betroffene endlich den Mut fassen, ihr Schweigen zu brechen. Ein Schweigen, das ihr Leben zur Qual werden lässt und die Täter schützt. Freunde, Bekannte und Verwandte sollen wachgerüttelt werden, damit nicht aus einem „falsch verstandenen Familiensinn“ alles verschwiegen beziehungsweise nicht anerkannt wird.
„Es ist doch alles so lange her. Was bringt es dir jetzt noch, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?“
Bedenken Sie, dass Ihr Schweigen einen Täter schützt, der eigentlich ins Gefängnis gehört, denn seine Tat gleicht einem Mord. Er hat die Seele eines Menschen zerstört, was keine Therapie wieder in Ordnung bringen kann, und das ist kein Kavaliersdelikt. Damit künftig die Täter nicht unerkannt bleiben und die Umwelt noch mehr aufgerüttelt wird, sollten Sie den Opfern das Gefühl geben, auf ihrer Seite zu stehen, wenn Sie irgendwelche Anzeichen für einen Missbrauch bemerken. Bedenken Sie, dass Sie sich mitschuldig machen, wenn Sie die Täter schützen.
Dieses Buch habe ich auch für die Partner, Freunde und Familienangehörigen geschrieben, denn diese wissen oft gar nicht, was mit der Liebsten oder dem Liebsten los ist, wenn sie oder er aus heiterem Himmel einen Wutanfall bekommt oder völlig unvermittelt und scheinbar ohne Grund in Tränen ausbricht. Haben Sie Verständnis und suchen Sie in Ihrer Verzweiflung nicht die Schuld bei sich, auch wenn diejenige oder derjenige Sie angreift und Sie für sein Leid verantwortlich machen will. Sie sind nur der Blitzableiter für etwas, das an die Oberfläche drängt. Unterstützen Sie Ihr Gegenüber und versuchen Sie, die Hintergründe zu erfahren. Sie werden vielleicht entsetzt sein, welche Geister Sie plötzlich zum Leben erwecken. Aber gemeinsam können Sie es schaffen, den Betroffenen aus dem Dilemma herauszuholen, auch wenn dies sicher zusätzlich professioneller Unterstützung bedarf.
An dieser Stelle möchte ich meinem Ehemann, den ich erst vor wenigen Jahren kennengelernt habe, danken, dass er mich während der Aufarbeitung meines Missbrauchs so unsagbar liebevoll unterstützt hat und trotz seiner anfänglichen Verzweiflung über meine unerklärlichen Ausbrüche so treu zu mir gehalten hat. Ich habe das Gefühl, unsere Liebe ist trotz allem immer mehr gewachsen, und gerade diese schwierige Zeit hat uns erst richtig zusammengeschweißt.
Die folgenden Kapitel sollen den Leidtragenden Mut machen, dass man die Chance hat, aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Auch wenn es denjenigen heute noch unmöglich erscheint, jemals darüber sprechen zu können, so sollten sie bedenken, dass auch ich einmal an diesem Punkt stand und es geschafft habe.