Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 11
ОглавлениеKapitel 2
Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der es mochte, wenn andere ihre Versprechen hielten. Deswegen fand ich den Arzt besonders sympathisch, als er mir nach einigen Wochen Physiotherapie und Rundumbetreuung tatsächlich sagte, dass ich das Krankenhaus verlassen durfte. Die Untersuchungen waren alle gut verlaufen. Auch wenn ich noch ein paar Sitzungen Muskelaufbautraining brauchte, war mein Körper doch so weit wieder hergestellt, dass ich nach Hause konnte.
Der Arzt selbst verlor kein Wort über meinen Unfall, sicher, weil er annahm, irgendjemand hätte mich in der Zwischenzeit aufgeklärt. Die Wahrheit war, dass ich meine Mutter nicht wieder gefragt hatte. Der Grund dafür war schlicht und ergreifend Angst und auch ein bisschen Stolz.
Ich war nie ein Mensch gewesen, der sich blind auf andere verlassen hatte. Schon seit ich denken konnte, wollte ich immer alles allein schaffen. Mich zu erinnern gehörte in diesem Moment dazu. Ich wollte mir keine Geschichten anhören, was mir geschehen war, ich wollte jede einzelne meiner Erinnerungen zurückbekommen und mir selbst ein Bild machen. Dazu sagte der Arzt nur, dass ich mir Zeit geben sollte. Die Erinnerungen würden dann kommen, wenn ich sie brauchte und nicht, wenn ich sie erzwang. Diese Antwort musste ich hinnehmen, auch wenn sie mich nicht glücklich machte. Aus dem Mund des Arztes klang das so leicht, doch er selbst hatte vermutlich nie in meiner Situation gesteckt.
Seit ich aufgewacht war, fühlte ich mich schrecklich unvollständig und ich konnte keine Erklärung dafür finden. Es war, als würde mein Herz wissen, dass mir etwas fehlte, und mich jeden Schmerz dieses Verlustes spüren lassen ... lediglich mein Kopf verweigerte seinen Beitrag dazu.
»Liebling, hast du alles?«, fragte mich meine Mutter und ich drehte mich zu ihr um.
»Ja«, antwortete ich und zog den Reißverschluss meiner Reisetasche zu. Ich nahm sie vom Bett und sah mich ein letztes Mal in dem Zimmer um, dann tauschte ich einen Blick mit meiner Mutter. »Ich glaube, ich werde das nicht vermissen.« Mom schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln und hielt mir die Tür auf.
In den letzten Wochen hatten wir viel miteinander geredet. Auch wenn ich nicht wollte, dass sie mit mir über meine Erinnerungen sprach, so wollte ich doch wissen, wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen war. Nachdem sie von meinem Unfall erfahren hatte, pendelte sie in regelmäßigen Abständen zwischen Glasgow und Inverness. Meine Mutter und mein Vater hatten sich schon getrennt, da war ich noch klein gewesen. Nach der Trennung hatte sie einen Blumenladen eröffnet, ein Job, in dem meine Mutter völlig aufging. Sie erzählte mir, dass sie, je länger ich im Koma lag, überlegte, nach Inverness zu ziehen. Blumen würde man überall kaufen. Bereits ein Jahr nach diesem Gedanken hatte meine Mutter ihn in die Tat umgesetzt. So konnte sie jederzeit bei mir sein, sollte ich aufwachen. Ich war gerührt, dass sie dieses Opfer für mich brachte und an einem völlig fremden Ort ein neues Leben begann. Auch privat hatte sich bei ihr einiges getan. Schon kurze Zeit, nachdem sie in die Highlands gekommen war, lernte sie Steven kennen und heiratete ihn im letzten Sommer. Ich freute mich für Mom, war aber traurig darüber, dass ich bei all diesen Momenten nicht bei ihr sein konnte.
»Emilia, hörst du mir überhaupt zu?« Meine Mutter griff nach meinem Arm und zwang mich zum Stehenbleiben. Irritiert sah ich sie an.
»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Erst jetzt bemerkte ich, dass wir bereits im Erdgeschoss standen.
»Hör mal, da draußen steht alles voller Paparazzi.« Sie deutete um die Ecke, wo sich der Eingang befand. Ich warf einen vorsichtigen Blick in diese Richtung, und tatsächlich. Mindestens dreißig Männer und Frauen hatten sich vor dem Eingang des Krankenhauses versammelt.
»Was machen die da?«, wollte ich wissen und bemerkte, wie meine Mutter tief durchatmete.
»Im Krankenhaus muss irgendeine Promidame untergebracht worden sein. Lass dich von den Leuten nicht irritieren. Es kann sein, dass sie wahllos losfotografieren, sobald jemand das Krankenhaus verlässt ... das sagte zumindest der Arzt vorhin. Mein Auto steht auf dem Parkplatz dahinter. Wir gehen schnell raus und verschwinden, okay?«
»Ja.« Ich spürte, dass meine Mutter auf eine seltsame Art und Weise nervös und angespannt war und diese Gefühle auf mich übertrug. Dabei gab es doch überhaupt keinen Grund aufgeregt zu sein. Ich war weder berühmt noch eines dieser Bilder wert. Selbst wenn die Leute jeden wahllos fotografierten, der das Gebäude verließ, sobald sie bemerkten, dass wir nicht ihr eigentliches Motiv waren, würden sie aufhören.
Selbstbewusst trat ich auf den Gang und lief zur Tür. Mit jedem Schritt, den ich machte, verlor ich ein Stück Mut, denn sobald der erste Paparazzo den Auslöser gedrückt hatte, brach ein wahres Blitzlichtgewitter aus. Mom und ich traten durch die Tür, lautes Geschrei prasselte auf uns ein und ein Foto nach dem anderen wurde geschossen. Das grelle Blitzlicht blendete mich und ich taumelte die Stufen nach unten, während ich eine Hand schützend vor mein Gesicht legte.
Ich verstand nicht, was die Leute schrien. Die Stimmen vermischten sich mit dem Klicken der Kameras, und ich trat die letzte Stufe nach unten.
»Entschuldigung, lassen Sie mich durch«, versuchte ich, laut zu sagen, doch niemand ging aus dem Weg. Den Blick gesenkt, entdeckte ich eine kleine Lücke und schob mich an zwei Männern vorbei. Ich wusste nicht, ob meine Mutter mir noch folgte. Völlig überfordert sah ich mich um und stand plötzlich zwischen lauter Fremden, die wild auf mich einredeten und mich mit ihren Kameras blendeten.
Panisch drehte ich mich im Kreis und versuchte, meine Mutter zu finden, als plötzlich jemand an meinen Sachen zog und ich das Gleichgewicht verlor. Taumelnd fiel ich zu Boden und verstand nicht, was hier passierte. Warum traten die Leute nicht zur Seite und ließen mich durch? Wortfetzen drangen an meine Ohren, doch ich war nicht in der Lage, ihre Bedeutung zu verstehen. Schwer atmend blickte ich auf den Boden, Tränen brannten in meinen Augen und mir wurde schlecht.
»Treten Sie von meiner Tochter zurück, verdammt!«, nahm ich die Stimme meiner Mutter wahr. Ich wollte nach ihr sehen, doch die ganze Situation überwältigte mich. Auf meinem Herzen breitete sich ein unglaublicher Druck aus und es fühlte sich an, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Ich kniff die Augen fest zusammen und betete, dass es gleich vorbei sein würde, bevor ich die Besinnung verlor.
Plötzlich packte mich jemand und hob mich mit Leichtigkeit in die Luft. Ich klammerte mich blind an denjenigen, und ein angenehmer Duft umspielte meine Nase - eine Mischung aus süß-herbem Männerparfüm und einer ganz eigenen Nuance, die mich an einen Tag im Wald erinnerte.
»Es ist alles in Ordnung.« Die dunkle Stimme des Fremden zog durch meinen ganzen Körper und hinterließ ein Prickeln. Ich öffnete vorsichtig die Augen. Im Blitzlicht schimmerten seine braunen, gestylten Haare leicht bernsteinfarben. Seine moosgrünen Augen ruhten besorgt auf mir, während seine kantigen Gesichtszüge angespannt waren. Er verstärkte den Druck und presste mich fester an seinen großen, trainierten Körper. Ich schätzte den Fremden nur wenige Jahre älter als mich selbst, doch was spielte das Alter in dieser Situation für eine Rolle? Die Art, wie er mich ansah und mich aus der Menschenansammlung heraustrug, sorgte dafür, dass ich mich so sicher und beschützt fühlte wie nie zuvor in meinem Leben. Er war ruhig und gelassen und strahlte trotzdem eine Stärke aus, die einen Schauer und empfindliche Stromstöße durch meinen Körper schickte. Ich blickte ihm direkt in die Augen und verlor mich. Mit so wenigen, einfachen Dingen nahm er von mir und meinem Körper Besitz und verzauberte mich. Das war albern und doch ein Moment, den ich bis zu diesem Tag nicht vergessen hatte.
»Danke«, flüsterte ich, als er mich auf dem Parkplatz auf die Füße setzte und mich an einen schwarzen Wagen lehnte. Ich löste unseren Blickkontakt nicht, als er nur sanft nickte.
»Alles in Ordnung, Kleines?« Meine Mutter kam panisch zu mir gelaufen und strich mir die Haare aus dem Gesicht.
»Ja, ich ... ich will hier nur weg.«
»Ja, natürlich.« Sie wandte sich an den Fremden, der mir geholfen hatte. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr ...«
»McLaughlin, Blake McLaughlin.«
»Vielen Dank, Mr McLaughlin.« Mom wollte mich am Arm packen und zu ihrem Auto schleifen.
»Ich kann Sie nach Hause bringen, wenn Sie möchten. Sie sind viel zu aufgeregt, um jetzt selbst zu fahren.«
Tatsächlich zitterte meine Mutter ebenso wie ich am ganzen Körper. Die Situation hatte uns kalt erwischt und ich verstand nicht, warum die Paparazzi so aggressiv reagiert hatten. Ich war kein Mensch, den man ablichten musste, warum waren sie alle so aufdringlich geworden?
»Ich will Ihnen keine weiteren Umstände machen, Mr McLaughlin.«
Er schüttelte den Kopf. »Das machen Sie nicht.« Er öffnete die Zentralverriegelung des Wagens, an den er mich gelehnt hatte. »Steigen Sie ein.«
»Vielen Dank«, sagte meine Mutter erleichtert.
Zehn Minuten später hielten wir vor dem kleinen Blumenladen meiner Mutter, der sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Wohnhauses befand. Ich stieg aus und atmete zum ersten Mal an diesem Tag tief durch, dann blickte ich mich um. Das Haus stand in einer kleinen Einkaufsstraße, in der einige Menschen ihre Besorgungen erledigten. Die Fassade des Blumenladens war weiß und wirkte einladend, das Schaufenster war bunt und frühlingshaft dekoriert. Moms Laden erinnerte kaum noch an das kleine Geschäft, das sie in Glasgow geführt hatte. In diesem hier steckte mehr Liebe zum Detail und sicher auch viel mehr Zeit.
»Danke, Mr McLaughlin. Sollten Sie irgendwann Blumen brauchen, revanchiere ich mich bei Ihnen.« Meine Mutter deutete lachend auf ihren Laden, doch er machte nur eine abwinkende Handbewegung.
»Es gibt nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«
Ich drehte mich zu Blake McLaughlin um und suchte ein letztes Mal seine wunderschönen Augen. Vielleicht benahm ich mich wie ein schmachtender Teenager, aber das kümmerte mich nicht.
»Danke«, flüsterte ich und lächelte sanft. Er erwiderte es nicht, das musste er gar nicht. In seinen Augen lag ein Schmunzeln, das sein Lächeln ohnehin ausgestochen hätte.
Ich wandte mich ab und folgte meiner Mutter zur Tür des Wohnhauses, die sich neben dem Eingang des Blumenladens befand.
»Ein netter junger Mann«, sagte meine Mutter und schloss auf. Wir liefen die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo sie die Wohnungstür aufschloss. Als ich ins Innere trat, staunte ich nicht schlecht. Die Wohnung war groß und im Landhausstil eingerichtet. Alles bestach durch helle Farben und die bunten Akzente, welche die frischen Blumen brachten. Ich schloss die Augen und sog ihren Duft ein. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geglaubt, ich befände mich in einem Cottage auf dem Land.
»Die Wohnung ist traumhaft schön«, flüsterte ich.
»Danke, Schatz. Wir haben ein Gästezimmer. Du musst nicht auf der Couch schlafen.« Meine Mutter öffnete eine Tür und ich trat in ein liebevoll eingerichtetes Schlafzimmer. Zarte Flieder- und helle Cremetöne fanden sich an den Wänden und in der Einrichtung wieder. Auf dem Nachtschrank stand ein Strauß frischer Schnittblumen. »Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen sah ich mich um. Obwohl ich das Zimmer traumhaft fand und tatsächlich mit dem Gedanken spielte, länger zu bleiben, ging mir eine Sache dennoch nicht aus dem Kopf. Wo hatte ich vor meinem Unfall gelebt? Hatte ich eine eigene Wohnung gehabt, oder war ich vielleicht sogar mit meinem Freund zusammengezogen?
Ich drehte mich zu meiner Mutter um. »Mom, nur eine Frage: Wo habe ich vor dem Unfall gewohnt?«
»Du hattest eine eigene Wohnung in Edinburgh, Liebes.« Meine Mutter atmete tief durch. »Ich hatte mich nach deinem Unfall mit dem Vermieter in Verbindung gesetzt. Das Geld kam regelmäßig von einem britischen Konto. Genaueres konnte er mir nicht sagen.«
»Das heißt, jemand hat die Miete über all die Jahre bezahlt?«
»Ja, ich denke schon. Ich hatte deinem Vermieter gesagt, er solle mich anrufen, wenn es zu Schwierigkeiten kommt. Da er das bisher nicht getan hat, vermute ich, dass du deine Wohnung noch so vorfinden wirst, wie du sie verlassen hast. Das ist aber kein Thema, das wir jetzt besprechen sollten. Ruh dich aus.«
Ich beließ es dabei, weil ich mich erschöpft fühlte. Aber ich dachte immer wieder daran, dass ich eine Wohnung hatte, die mir die Antworten geben konnte, nach denen ich suchte. Ich musste dringend nach Edinburgh.