Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 18
ОглавлениеKapitel 8
Als ich am nächsten Morgen aufstand und mein Zimmer verließ, wartete meine Mutter in der Küche auf mich. Nachdenklich saß sie am Küchentisch und blickte auf einen kleinen Zettel und einen Schlüsselbund.
»Guten Morgen«, sagte ich und lehnte mich an die Küchenzeile.
»Hallo Liebes«, erwiderte sie leise und stand auf. »Es tut mir leid, wie ich mich in den letzten Tagen benommen habe.«
»Es wäre leichter für mich, wenn ich verstehen würde, warum du mir nichts sagen willst«, seufzte ich.
»Ich habe Angst, dass sich danach alles zwischen uns verändert. Du hattest nicht nur mit Amber in den zwei Jahren wenig bis gar keinen Kontakt, auch wir hatten ihn nicht.«
»Aber warum nicht?«, wollte ich fassungslos und auch verzweifelt wissen.
»Weil für dich andere Dinge zu diesem Zeitpunkt wichtiger waren. Das ist okay, meine Kleine, ich mache dir deswegen keinen Vorwurf, das habe ich nie. Aber du musst verstehen, dass ich jetzt alles dafür tun möchte, dass es nicht wieder so wird.« Meine Mutter kam einen Schritt auf mich zu und schloss mich in die Arme. Ich hatte Tränen in den Augen, aber ich wollte nicht, dass sie diese bemerkte.
»Wenn du mir nicht sagst, was dich damals verletzt hat, weiß ich nicht, ob ich es in Zukunft ändern kann. Was ist, wenn ich die gleichen Fehler wieder mache und dir erneut wehtue?«
»Glaub mir, das wirst du nicht.« Mom löste sich von mir und gab mir den Zettel und den Schlüsselbund vom Küchentisch. »Das sind die Adresse deiner Wohnung und die Schlüssel dazu.«
»Danke, Mom«, hauchte ich und küsste sie auf die Wange.
Blake holte mich kurz nach zwölf Uhr am Blumenladen ab. Ich hatte keine Sachen gepackt, denn in meiner Wohnung würde ich hoffentlich alles finden, was ich suchte.
»Fahrt vorsichtig«, sagte meine Mutter und umarmte erst Blake und anschließend mich. »Wenn etwas ist, melde dich und komm bald wieder.« Sie küsste mich auf die Wange und ließ mich frei.
»Versprochen, Mom.« Bevor ich einstieg, schenkte ich ihr ein letztes Lächeln. Aus irgendeinem Grund hatte ich endlich das Gefühl, mir selbst wieder ein Stück näherzukommen. Das war genau das, worauf ich in den letzten Tagen gewartet hatte.
Nach knapp vier Stunden Fahrt und zwei kleineren Pausen kamen wir in Edinburgh an. Meine Wohnung lag im Stadtteil New Town in einem großen Mehrfamilienhaus. Die Gegend wirkte jung und modern. Überall waren kleine Geschäfte, Cafés und Bars. Es gefiel mir auf Anhieb, ein vertrautes Gefühl blieb jedoch aus.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich Blake, als ich eine Weile zögerte, bevor ich die Tür des Wohnhauses aufschloss. Ich nickte schnell und öffnete sie. Zuvor warf ich einen Blick auf das Klingelschild, um in etwa abschätzen zu können, auf welcher Etage meine Wohnung lag.
Als ich im dritten Stock plötzlich vor meiner Wohnungstür stand, atmete ich ein letztes Mal tief durch. Was würde mich dort erwarten? Wie hatte ich gelebt, bevor ich diesen Unfall hatte, und würde meine Wohnung irgendeine meiner Erinnerungen zurückbringen?
»Den Schlüssel benutzt man, um eine Tür zu öffnen und nicht, um sie anzustarren«, scherzte Blake und lehnte sich lässig gegen die Wand neben der Tür.
»Tatsächlich? Manchmal vergesse ich das«, erwiderte ich ironisch und verdrehte die Augen, bevor ich endlich aufschloss.
Ich fragte mich noch heute manchmal, was ich erwartet hatte. Vielleicht wollte ich durch die Tür gehen und meine Erinnerungen in einem Sturm zurückbekommen. Aber das geschah nicht. In Wirklichkeit geschah rein gar nichts.
Als ich die nüchtern eingerichtete Wohnung betrat, fühlte ich mich, als würde ich in das Leben einer Fremden einbrechen. Unsicher lief ich durch den Flur und trat in das Wohnzimmer. Blake folgte mir, doch er hielt sich im Hintergrund.
Ich sah mich um und betrachtete die schlichte, moderne Einrichtung, die kaum ein Dekoelement aufwies. Alles wirkte kühl und unbewohnt, was mich irritierte. Eigentlich liebte ich Dekorationen, frische Blumen und kleine Dinge, die zur jeweiligen Jahreszeit passten. Ich mochte Bilddrucke von Landschaften oder dem Meer, ich war ein Farbenmensch. Doch diese Wohnung spiegelte das überhaupt nicht wider.
Etwas enttäuscht drehte ich mich zu Blake um und musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
»Was ist los, Lia?«, fragte er besorgt und kam einen Schritt auf mich zu.
»Ich ... ich kann mir nicht vorstellen, dass ich hier gewohnt haben soll«, flüsterte ich. »Diese Wohnung ... das bin nicht ich.«
»Vielleicht warst du das aber vor ein paar Jahren?«
»Aber warum? Ich meine, wer will schon in so einer Wohnung leben?« Seufzend wandte ich mich wieder von Blake ab und ging auf eine weiße Kommode zu, auf der einige Bilder standen. Ich sprach mir selbst Mut zu, bevor ich meinen Blick über die Fotografien schweifen ließ. Einige zeigten mich allein, andere mit Menschen, die ich nicht kannte. Doch eines der Bilder stach mir besonders ins Auge. Ich nahm es in die Hand und fixierte den jungen Mann darauf, der mich verliebt lächelnd im Arm hielt. Er war auf dem Bild nur wenige Jahre älter, als ich selbst es gewesen war. Seine dunkelblonden, länglichen Haare waren ordentlich nach hinten gestrichen, seine wunderschönen hellblauen Augen strahlten. Er hatte kantige Gesichtszüge, eine kleine Nase und volle Lippen. Wir trugen Abendkleidung, er einen schicken dunkelblauen Anzug, ich ein farblich passendes Abendkleid. Ich betrachtete mich einige Sekunden und kam nicht umhin, zu bemerken, wie perfekt ich aussah. Meine brünetten Haare lagen in geschwungenen Locken über meiner Schulter, mein Teint und das Make-up waren makellos. Das Kleid wirkte viel zu teuer, die Kette um meinen Hals und das dünne Armband an meinem Handgelenk ebenfalls.
Dieses Foto war anders als die anderen. Es spiegelte eine Vertrautheit, wenn nicht sogar Liebe wider, dass mir das Blut in den Adern gefror. Aber es reichte ebenfalls nicht aus, um den Schalter in meinem Kopf umzulegen, der die Blockade löste und meine Erinnerungen zurückbrachte. Ich wusste nicht, wer der attraktive Mann neben mir war und wie er zu mir stand. Genauso wenig wie ich sagen konnte, wann und wo das Foto aufgenommen worden war oder was ich in diesem Moment gedacht und gefühlt hatte.
Seufzend drehte ich mich zu Blake um und schluckte schwer, doch gegen die Tränen kam ich nicht an. Er sah mich fragend an und ich reichte ihm stumm den Bilderrahmen.
»Wer ist das?«, wollte er wissen, doch ich hob nur die Schultern leicht an.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich leise. »Ich weiß überhaupt nichts. Das auf dem Bild bin doch nicht ich! Sieh dir das Kleid und den Schmuck an, wie hätte ich mir das leisten können? Meine Haare und das Make-up wurden von Leuten gemacht, die das professionell machen. Ich bin dort auf irgendeiner Veranstaltung. Glaub mir, die junge Frau, die mit ihrer besten Freundin Kaffee getrunken hat, hätte es nie so weit gebracht. Dieses Mädchen hätte in einer WG gewohnt, mit drei anderen verrückten Mädels, sie hätte vielleicht studiert oder sich einen coolen, kreativen Job gesucht. Sie hätte das Leben genossen, sich einen süßen Typen geangelt und aus ihrem Leben ein Abenteuer gemacht.« Ich ging einen Schritt auf Blake zu und nahm ihm das Bild wieder aus der Hand. »Wie konnte aus diesem Mädchen diese Frau hier werden?« Ich deutete auf meine Abbildung. »Und wie konnte aus dieser Frau das hier werden?« Nun deutete ich auf mich selbst. Offenbar hatte ich mich von einem lebenslustigen Teenager in eine erfolgreiche Frau verwandelt, und von eben dieser in eine von Selbstzweifeln, Angst und Unsicherheit geplagte Sechsundzwanzigjährige. Ich war momentan weder das eine noch das andere, denn ich wusste rein gar nichts über mich.
Ich stellte den Bilderrahmen zurück auf seinen Platz und sah mich kurz um, um die Küche ausfindig zu machen. Als ich den Raum entdeckte, steuerte ich direkt darauf zu und begann, jede Schranktür zu öffnen. Blake war mir gefolgt und hatte sich lässig in den Türrahmen gelehnt.
»Willst du mir sagen, was du suchst?«, fragte er.
»Als ob du dir das nicht denken kannst.« Zwei Sekunden später fand ich das Objekt meiner Begierde. Ich schnappte mir die volle Flasche Rotwein, entkorkte sie mit Leichtigkeit, nachdem ich den Korkenzieher gefunden hatte, und lief zurück ins Wohnzimmer. Dort öffnete ich die Balkontür, trug mir einen Stuhl aus dem Essbereich heraus und ließ mich seufzend darauf sinken. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mir ein Glas zu holen, und setzte die Flasche direkt an. Das war immerhin kein Grund anzustoßen, sondern einer, um sich unkontrolliert volllaufen zu lassen. Ja, Alkohol war keine Lösung, doch er vernebelte manchmal die Sicht auf die Wirklichkeit. Das war ein Zustand, den ich in diesem Moment wirklich hätte gebrauchen können.
Auch Blake kam auf den Balkon, allerdings nicht, um mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen. Er nahm mir die Flasche aus der Hand und stellte sie in den leeren Blumenkasten, der an der Brüstung hing.
»Und das war es jetzt?«, fragte er und sah dabei sauer aus. »Du gehst einmal durch dein Wohnzimmer, findest ein Bild, das dir keine Erinnerungen bringt, und dann gibst du auf? Ist das dein Ernst, Emilia?«
»Ja. Gib mir den Wein wieder.«
»Nein.«
Blake kam auf mich zu und hockte sich vor mich. Er stützte sich auf meinen Beinen ab und sah mich durchdringend an. »Deine ganze Wohnung ist möglicherweise voller Hinweise auf deine fehlenden Erinnerungen, du musst sie nur suchen. Willst du einfach so aufgeben, ohne zu wissen, wer der Typ auf deinem Bild ist? Oder interessiert es dich nicht, wie du dir all das leisten konntest? Es gibt überhaupt keinen Grund, dich auf den Balkon zu setzen, in die Luft zu starren und dich sinnlos zu betrinken.«
»Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle«, giftete ich ihn an. Obwohl ich nicht wollte, dass meine Worte so hart klangen, konnte ich es dennoch nicht verhindern. Niemand schien mich zu verstehen, und mit den vielen schlauen Ratschlägen konnte ich nichts anfangen. In meinem Kopf herrschte eine unendliche Leere, als würde eine Mauer alles abschirmen. Ich wollte sie so gern durchbrechen, doch es gelang mir nicht. Natürlich entmutigte mich das und nahm mir die Hoffnung, weitere Hinweise zu suchen, völlig. Ganz davon abgesehen, dass ich das, was ich bisher gefunden hatte, nicht mochte. Offenbar war aus mir eine Schickimicki-Tussi mit Geld geworden oder vielleicht war der junge Mann auch irgendein reicher Geschäftsmann, den ich mir geangelt hatte. So eine Frau hatte ich nie werden wollen, weswegen ich mir nicht sicher war, ob ich die ganze Wahrheit über mich herausfinden wollte.
»Können wir die Wohnung morgen nach Hinweisen durchsuchen, Blake, bitte?«, fragte ich schwach, weil ich wusste, dass er nicht nachgeben würde. Im Moment war er mein Antrieb, der Grund, überhaupt nach Antworten zu suchen. Allerdings war mir genau das zu viel.
»Okay, aber morgen gibt es keine Widerrede. Wir sind hierhergekommen, um Antworten zu bekommen, und wir werden erst zurück nach Inverness fahren, wenn wir diese haben.«
Ich nickte und seufzte leise. »Bekomme ich jetzt bitte den Wein zurück? Den habe ich offenbar auch gekauft, also kann ich ihn jetzt auch trinken.«
»Du bist unmöglich, Emilia Murray.« Ich schenkte Blake ein vielsagendes Lächeln, als er sich wieder aufrichtete.
»Ich teile auch mit dir«, bot ich ihm schmunzelnd an, doch er verdrehte die Augen.
Sein Verständnis beeindruckte mich. Dafür, dass wir uns noch immer kaum kannten, tat er alles dafür, um mir zu helfen. Er war ein guter Mensch. Einer der Sorte, die man nicht so häufig im Leben traf. Die Hilfsbereitschaft eines anderen Menschen war schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr, ebenso wie Uneigennützigkeit. Blake half mir nicht, weil er etwas davon hatte, er tat es offenbar, weil er mich mochte.
Als er bemerkte, wie ich ihn stumm betrachtete, erwiderte er meinen Blick fragend. »Warum siehst du mich so an?«, erkundigte er sich, doch ich schüttelte nur lächelnd den Kopf und senkte den Blick. Diese Antwort würde ich ihm schuldig bleiben.