Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 15

Оглавление

Kapitel 5

In den letzten zwei Tagen waren die Spannungen zwischen meiner Mutter und mir nicht vollständig verschwunden. Weil ich Angst vor neuen Konfrontationen hatte, stellte ich ihr keine Fragen mehr. Das machte die Situation für mich aber nicht leichter.

Steven bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte, doch ich wollte auf keinen Fall, dass die beiden wegen mir Streit hatten.

»Für wen hast du dich so schick gemacht?« Steven kam mir im Flur entgegen, als ich das Badezimmer verließ.

»Ich treffe mich mit einem Bekannten«, erwiderte ich lächelnd und strich mir verlegen eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»Hast du noch zwei Minuten? Ich würde gern mit dir sprechen ... wegen deiner Mutter.«

Ich nickte und folgte ihm ins Wohnzimmer. Meine Mutter arbeitete im Blumenladen und auch Steven sah so aus, als würde er sich jeden Moment auf den Weg zur Arbeit machen.

»Ich habe mitbekommen, dass ihr euch aus dem Weg geht. Und irgendwie hatte ich ein bisschen mehr Kampfgeist von dir erwartet.« Er seufzte leise. »Ich kann dir die Antworten, die du suchst, leider nicht geben. Debbie spricht nicht viel über die Zeit vor deinem Unfall. Aber ich verstehe nicht, dass du es einfach so hinnimmst, nichts über dich zu erfahren.«

»Vielleicht um wenigstens das zu behalten, was ich habe ... meine Mutter ist der einzige Mensch, der in den letzten Jahren für mich da gewesen ist. Wenn die ganze Situation hinzunehmen eine Möglichkeit ist, ihr das zu danken, dann ist das erst mal okay.«

»Aber es ist nicht richtig, Emilia«, hielt Steven dagegen. »Du bist doch nicht dieser Mensch ...«

»Möglicherweise schon«, seufzte ich und stand auf. »Ich muss los.« Mit gesenktem Blick verließ ich den Raum und anschließend die Wohnung.

Blake war schon da, als ich aus dem Wohnhaus trat. Er stand mit meiner Mutter vor dem Blumenladen und unterhielt sich mit ihr. Dieses Bild hatte irgendetwas Bizarres. Während der Schulzeit hatte ich es vermieden, dass meine Mutter irgendeinen der Jungen kennenlernte, mit dem ich mich traf. Mir war das immer peinlich gewesen, ganz davon abgesehen, dass die Typen sich auch nie besonders Mühe gegeben hatten.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass Blake diesen Small Talk veranstaltete. Ein letztes Mal atmete ich tief durch und trat schließlich an die beiden heran.

»Hallo«, sagte ich und Blake drehte sich sofort zu mir herum.

»Hallo«, sagte er und eine Gänsehaut jagte über meinen Körper, als er mich erst mit diesem besonderen Blick bedachte und mich zur Begrüßung auf die Wange küsste.

Ich wich einen Schritt von ihm zurück und blickte zu meiner Mutter, die verheißungsvoll die Augenbrauen nach oben zog.

»Bist du so weit?«, fragte er mich und ich nickte.

»Viel Spaß«, rief meine Mutter uns nach, als wir auch schon in seinen Wagen einstiegen.

Blake startete den Motor, dann lenkte er sein Auto aus Inverness heraus.

Ich warf einen verträumten Blick in den Himmel, der heute der Sonne statt den schweren Regenwolken den Vortritt ließ. Das ließ die dreizehn Grad Außentemperatur wie zwanzig erscheinen und zauberte mir dadurch ein Lächeln auf die Lippen. Blake und ich hätten uns keinen besseren Tag für einen Ausflug aussuchen können.

Obwohl ich mit Leib und Seele Schottin war, war ich bisher nie in den Highlands gewesen, zumindest glaubte ich das. Sowohl Glasgow als auch meine offensichtlich neue Heimatstadt Edinburgh lagen in den Lowlands.

»Willst du denn gar nicht wissen, wo wir hinfahren?«, durchbrach Blake die Stille und ich wandte meinen Blick vom Himmel ab.

»Du würdest es mir doch ohnehin nicht verraten«, erwiderte ich lächelnd.

»Dafür, dass ich eigentlich ein Fremder bin, kennst du mich anscheinend gut.«

»Du bist ein offenes Buch für mich, Blake McLaughlin.« Ich sah ihn völlig von mir selbst überzeugt an und er lachte.

»Natürlich bin ich das. Du hingegen bist sogar für dich selbst ein Buch mit sieben Siegeln.«

Ich hielt die Luft an. Auch wenn ich wusste, dass er diesen Satz vermutlich nicht gesagt hatte, um mir wehzutun, hinterließ er doch ein Stechen in meiner Brust. Ich wandte den Blick aus dem Fenster und sah Felder, Bäume und Berge an mir vorbeiziehen. Im Licht der Sonne leuchtete alles in einem herrlichen Grün. Ein sanfter Windzug ließ die Blätter der Bäume wippen, und ich beobachtete einen Vogel, der von einem Ast sprang und durch die Lüfte glitt ... so frei und unbeschwert. All das, was ich nicht war. Ich war in einer Stadt gefangen, die nicht mein Zuhause war, in einem Leben, das nicht meines war, und in Erinnerungen, die bei meinem neunzehnten Lebensjahr endeten, obwohl ich vor einigen Wochen sechsundzwanzig Jahre alt geworden war.

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und schloss die Augen. Noch einmal gingen mir Stevens Worte durch den Kopf. Es war falsch, keine Fragen zu stellen und die Situation einfach hinzunehmen. Natürlich ... aber war es richtig, die Wahrheit herauszufinden und festzustellen, dass einem dieses Leben noch fremder war?

»Hey.« Blake legte eine Hand auf meinen Oberschenkel und schreckte mich auf. »Gar keine bissige Gegenantwort?«

»Nein«, hauchte ich. »Du hast ja recht.« Ich kniff die Lippen aufeinander und kämpfte gegen das Brennen in meinen Augen an. Ich war ein Buch mit sieben Siegeln für mich selbst. Doch würde ich je bereit sein, jedes Einzelne von ihnen zu öffnen?

Wir fuhren etwa eine halbe Stunde, als Blake auf einem Parkplatz hielt und ich schon von Weitem den beeindruckenden See sah.

Wir stiegen aus und er führte mich zu der kleinen Steinmauer, von der aus wir einen wunderschönen Blick hatten. Blake trat von hinten an mich heran und legte seine Hände auf meine Schultern.

»Herzlich willkommen am Loch Ness, mo ghrèin

Ich wandte mich leicht zu ihm um und fragte irritiert: »Du sprichst Gälisch?«

»Nur ein wenig«, erwiderte er lächelnd.

»Was hast du gesagt?« Ich sah ihn forschend an, doch er schenkte mir nur ein geheimnisvolles Lächeln.

»Das bleibt mein Geheimnis. Nun komm schon.«

Blake nahm seine Kamera vom Rücksitz und verriegelte seinen Wagen. Dann führte er mich die schmalen Wege entlang zur Urquhart Castle, deren Anblick mich sprachlos machte. Ich blieb einen Moment stehen und umklammerte das Holzgeländer, während mein Blick die wunderschöne Szenerie einfing. Die Sonne spiegelte sich glitzernd im Wasser von Loch Ness, während die Burgruine wie ein gewaltiges Denkmal davorstand. Ich ließ diesen Moment auf mich wirken, ohne etwas zu sagen. So viele Gefühle und Emotionen strömten auf mich ein: Vergangenheit, Erinnerungen, Geschichte und die Vorstellung eines Lebens, wie es hier einst stattgefunden haben musste. Ich stand an einem Ort voller Sagen und Legenden. Ein Ort, der von seiner Geschichte lebte. Dagegen wirkte ich klein und unwichtig.

Ein leises Klicken riss mich aus meinen Gedanken und ich sah zu Blake. Er hatte mich fotografiert und ließ die Kamera mit einem Lächeln auf den Lippen sinken.

»Will ich wissen, was du gerade gedacht hast?«, fragte er mich und ich kniff die Lippen aufeinander.

»Wenn ich bisher an Loch Ness gedacht habe, dann ist mir diese Schönheit nie so bewusst gewesen«, gestand ich.

Wir liefen langsam weiter. »Dank Nessie hat der See seinen Ruf weg. Viele kommen nur hierher, um das Ungeheuer zu filmen oder zu fotografieren, und sind dann völlig überrascht, wie schön es hier ist.«

Ich richtete den Blick lächelnd in die Ferne und stimmte ihm mit einem Nicken zu.

»Bist du oft hier?«, fragte ich, als wir die Ruine von Urquhart Castle endlich erreichten.

»Ich komme gern her, um meine Gedanken zu ordnen und ein paar Bilder vom See und der Ruine zu schießen. Deswegen bin ich mit dir hier. Am Mittwoch hast du den Eindruck gemacht, du müsstest ebenfalls ein bisschen nachdenken.«

»Wie zuvorkommend von dir«, erwiderte ich mit einem Lächeln auf den Lippen und trat unsicher ins Innere der Ruine. Nur wenige Besucher hatten sich trotz des grandiosen Wetters ebenfalls hierher verwirrt. Doch ich war gewiss nicht böse darüber, dass kaum jemand hier war.

»Die meisten Reisegruppen kommen morgens, deswegen sind wir fast allein«, erklärte Blake, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Es kommt immer aufs Timing an.« Ich drehte mich leicht zu ihm und er zwinkerte mir zu.

»Dabei habt ihr Männer doch immer Probleme mit dem Timing«, erwiderte ich frech und zwinkerte übertrieben zurück, bevor ich eine nachträglich installierte Treppe hinaufging. Mir stockte der Atem, als ich den Ausblick entdeckte, den ich nun über den See hatte. Im ersten Moment bekam ich nicht mit, wie Blake mir folgte und sich dicht hinter mich stellte. Erst als er seine Arme neben mich auf das Sicherheitsgeländer legte und mir meinen Fluchtweg abschnitt, wurde ich mir seiner Anwesenheit bewusst.

»Ich hatte noch nie Probleme mit dem Timing, mo ghrèin«, flüsterte er dicht an meinem Ohr und meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich schluckte schwer und sah weiterhin in die Ferne. Dass Blake mich auf irgendeine Art berührte, konnte ich nicht abstreiten.

»Mit Nähe offenbar auch nicht«, flüsterte ich und drehte mich langsam zu ihm um. Seine grünen Augen nahmen mich gefangen und ich hielt die Luft an. Ein sanftes Kribbeln zog von meinem Bauch durch meinen gesamten Körper ... direkt in mein Herz. Unaufhörlich schlug es und wurde immer schneller. Was auch immer Blake in dieser kurzen Zeit, die wir uns kannten, bei mir auslöste, war überwältigend und verwirrte mich gleichermaßen. Über fünf Jahre lang hatte mein Leben sich eine Auszeit genommen. Die letzten Erinnerungen, die ich an Begegnung mit Männern hatte, waren so unwichtig und klein. Sie hatten alle während der Schulzeit stattgefunden und waren praktisch zum Scheitern verurteilt gewesen. War ich in meinem Leben überhaupt jemals richtig verliebt gewesen? Vielleicht in den zwei Jahren, an die ich mich nicht erinnern konnte ... ich wusste es nicht.

Und war ich überhaupt bereit für so eine Situation und diese Spannung, die Blake heraufbeschwor? Er war ein Mann, und im Gegensatz zu meinen Teenager-Freunden wusste er genau, was er wollte. Aber wusste ich das auch?

Behutsam legte ich meine Hände auf seine Brust und schob ihn so weit von mir, dass ich mich aus dieser Situation befreien konnte. Ich eilte die Treppe nach unten und drehte mich wieder zu Blake um, der sich kaum gerührt hatte. Er funkelte mich verheißungsvoll an und schüttelte den Kopf.

»Das Timing, Blake McLaughlin, das Timing«, rief ich lachend und wandte mich von ihm ab.

Nachdem wir die Burgruine noch etwas erkundet hatten und Blake einige Bilder gemacht hatte, zeigte er mir einen winzigen Kieselstrandabschnitt neben der Burg. Wir setzten uns auf einen kleinen Felsvorsprung an der linken Seite und ich knetete nervös meine Finger.

»Warum bist du nur so angespannt?« Er griff meine Hand und hielt sie in seiner. »Die ganze Zeit springst du herum wie ein Flummi, machst einen Scherz nach dem anderen, aber das bist doch nicht du, hm?« Mit seiner freien Hand drückte Blake die kleinen Knöpfe der Kamera und zeigte mir ein Bild auf dem Display. Ein Bild von mir, wie ich nachdenklich über die ganze Anlage gesehen hatte. »Was ist dir da durch den Kopf gegangen, Lia?«

Mein gesamter Körper verspannte sich und ich senkte den Blick auf die Kieselsteine. »Woher soll ich wissen, wer ich bin, Blake? Ich habe mich vor fünfeinhalb Jahren verloren.«

»Und was spricht dagegen, dich wiederzufinden?«

»Die Angst davor, etwas anderem zu begegnen? Ich weiß es nicht und möchte auch ehrlich gesagt nicht darüber sprechen.«

»Emilia, du hast keinen Grund, Angst zu haben. Ja, vielleicht wirst du etwas herausfinden, was dir nicht gefällt und was dir wehtut, aber du bist nicht allein. Deine Mutter ist da und ich bin es ebenfalls.« Blake drehte sich etwas zu mir, legte eine Hand auf meine Wange und zwang mich, ihn anzusehen. »Gib dir selbst eine Chance, wieder zu dir zu finden.«

Ein letzter Augenblick

Подняться наверх