Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 16

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Kapitel 6

Der Nachmittag mit Blake hatte mir die Augen geöffnet. Je länger ich schwieg und akzeptierte, dass meine Mutter mir keine Antworten gab, desto mehr würde ich mich selbst verlieren. Ich musste meine Angst endlich hinten anstellen und, so wie Blake es sagte, zu mir selbst finden.

Am nächsten Tag half ich wieder im Blumenladen aus. Die Arbeit lenkte mich davon ab, viel nachzudenken, allerdings wollte ich die Chance auch nutzen und meine Mutter nach meiner besten Freundin Amber fragen. Seit ich aus dem Koma aufgewacht war, hatte ich nichts von ihr gehört. Es war nicht nur so, dass es mich immer nervöser machte, sie fehlte mir schrecklich.

Amber und ich kannten uns seit unserer Geburt. Unsere Mütter waren befreundet gewesen, weswegen wir schon gemeinsam im Sandkasten gespielt hatten, als wir noch nicht einmal laufen konnten. Wir kamen zusammen in den Kindergarten und in der Schule in die gleiche Klasse. Je älter wir wurden, desto mehr teilten wir miteinander und umso enger wurde unsere Freundschaft. Amber war mein Zwilling, meine bessere Hälfte, wenn man es so wollte. Wenn bei mir etwas schiefging, war sie die Erste, die davon erfuhr, andersherum genauso. Wir waren unzertrennlich gewesen, auch ein Grund, warum ich nicht verstehen konnte, weshalb sie sich bisher nicht gemeldet hatte. Ich vermisste sie gerade in dieser Situation, in der ich nicht nur dringend über meine Gedanken, sondern auch über Blake sprechen musste. Ohne Amber fühlte ich mich verloren.

Unweigerlich drängte sich die Frage in meinen Kopf, ob sie der Teil war, den ich neben meinen Erinnerungen glaubte, verloren zu haben. War Amber bei mir gewesen, als ich diesen Unfall hatte? War auch sie verletzt worden oder gar Schlimmeres?

Ich starrte auf die bunten Gerbaras vor mir, aus denen ich einen Strauß binden sollte. Eine einzelne Träne tropfte auf eines der Blütenblätter und ich schluckte schwer. Ich ließ den Strauß auf die Arbeitsplatte fallen und drehte mich abrupt zu meiner Mutter um, die eine Kundin abkassiert hatte.

»Mom?« Sie sah mich an und ein besorgter Ausdruck glitt über ihre Gesichtszüge, als sie meine tränennassen Augen bemerkte.

»Liebling, was ist los?«

»Amber ... sie ... es geht ihr doch gut, oder?« Ich schluckte schwer. »Warum hat sie sich bisher nicht bei mir gemeldet? Waren wir bei diesen Unfall zusammen und ...« Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »... ist sie to...«

»Nein, Liebling«, schnitt meine Mutter mir sofort das Wort ab. »Nein, es geht ihr sicher gut. Es ist nur so, dass ...« Meine Mutter atmete tief durch, sichtlich hin- und hergerissen, ob sie mir diese Information geben sollte oder nicht. »Ihr habt euch etwas voneinander entfernt. Lass es gut sein, Kind.«

Offenbar war meine Mutter nicht bereit, mir weitere Fragen zu beantworten, denn sie ließ mich stehen. Fassungslos sah ich ihr nach und glaubte kaum, was sie gesagt hatte. Welchen Grund hätte es geben können, dass Amber und ich uns voneinander entfernt hatten? In all der Zeit, die wir uns kannten, hatten wir keinen handfesten Streit gehabt. Kleine Meinungsverschiedenheiten ja, aber Streit nie. Ich verstand es nicht.

Irritiert zog ich mich in den kleinen Pausenraum zurück und setzte mich an den Tisch. Verzweifelt stützte ich mein Gesicht in die Hände und rieb meine Schläfen. Warum verweigerte meine Mutter jedes Gespräch?

Ich ließ die Hände sinken und plötzlich fiel mein Blick auf ihr Handy, das neben einigen Floristik-Zeitschriften auf dem Tisch lag. Was mit meinem eigenen Handy passiert war, wusste ich nicht, und ich hatte mir bisher auch kein neues besorgt. Ob meine Mutter Ambers Nummer in ihrem Telefon gespeichert hatte? Und wenn ja, ob diese noch aktuell war?

Ich sah mich um, ob Mom beschäftigt war, und griff nach ihrem Telefon. Schnell suchte ich die Kontakte durch und fand die Nummer meiner besten Freundin tatsächlich. Ohne zu zögern, wählte ich sie, während mein Herz mir vor Aufregung fast aus der Brust sprang. Als der Freizeichenton erklang, wurde ich noch nervöser. War es möglich, dass diese Nummer tatsächlich aktuell war, oder war sie neu vergeben worden?

»Hallo?«, meldete sich eine junge Frau, die verdammt nach meiner besten Freundin klang.

»Amber?«, fragte ich unsicher.

»Ja? Wer ist da?« Ich konnte es kaum glauben, dass sie am anderen Ende der Leitung war ... nach so vielen Jahren.

»Hey ... ich bin es ... Lia.« Ich wusste nicht, was ich erwartete, dass jedoch zunächst überhaupt keine Reaktion kam, nicht. »Amber?«

»Was willst du?« Ihre Stimme klang gleichgültig und wütend.

»Ich ... ich dachte, wir könnten vielleicht reden?«

Am anderen Ende hörte ich ein verächtliches Schnauben. »Reden? Ist das dein verdammter Ernst, Emilia?«

»Amber, ich ...«

»Nein, sei still. Ich weiß genau, was du vorhast. Als es in deinem Leben ganz grandios lief, war ich dir egal. Jetzt merkst du plötzlich, dass dein ach so tolles Leben gar nicht mehr so super ist, und mit einem Mal bin ich wieder gut genug. Aber nicht mit mir, meine Liebe.«

»Ich ...«, wollte ich ansetzen, doch da hatte sie bereits aufgelegt. Völlig überfordert mit der Situation ließ ich das Handy zurück auf den Tisch sinken und starrte ins Leere. Sollte meine Mutter die Wahrheit gesagt haben? Waren Amber und ich keine Freundinnen mehr?

Ich kämpfte gegen den Drang an, zu weinen, und stand auf. Schnell eilte ich aus dem Laden, an meiner Mutter vorbei, zum Hauseingang nebenan. Ich schloss die Tür auf, rannte die Stufen nach oben und verschwand in der Wohnung. Durch das laute Zuschlagen der Tür kam Steven, der dieses Wochenende frei hatte, aus dem Wohnzimmer.

»Lia, ist alles in Ordnung?« Ich schüttelte nur den Kopf und schlüpfte aus den Schuhen. So sehr ich auch gegen meine Tränen kämpfte, es gelang mir nicht. »Hey.« Steven kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. »Sag mir, was passiert ist.«

Ich hatte nie einen richtigen Vater in meinem Leben gehabt, doch Steven ließ mich zum ersten Mal so etwas wie väterliche Liebe spüren. Obwohl er mich noch nicht lange kannte, sorgte er sich um mich und schien mir sofort anzumerken, wenn etwas nicht stimmte.

»Ich habe in Moms Handy die Nummer meiner besten Freundin gefunden und sie sofort angerufen«, erklärte ich schluchzend. »Sie hat kaum drei Worte mit mir gesprochen. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Das Letzte, an das ich mich erinnere, war ein Nachmittag, den ich gemeinsam mit ihr verbracht habe.«

Steven löste sich von mir und sah mir in die Augen. »Wo wohnt deine Freundin?«

»In Glasgow. Es ist nicht so, als könnte ich von hier aus einfach mal zu ihr fahren.« Ich seufzte leise. »Ich ... ich denke, ich will jetzt allein sein.«

Steven nickte verständnisvoll. »Im Gästezimmer ist übrigens ein Paket für dich, das wurde vorhin abgegeben. Und wenn du etwas brauchst, sag mir Bescheid.«

»Danke, Steven.«

»Nicht dafür.«

Als ich das Gästezimmer betrat, lag da tatsächlich ein kleines Paket. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf das Bett, während ich die Verpackung öffnete. Zum Vorschein kamen eine kleine Notiz und ein nagelneues Smartphone. Ich konnte es nicht glauben. Wer schickte mir so etwas?

Ich faltete den kleinen Zettel auseinander und las ihn mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ich dachte, das könntest du brauchen, wenn du mal wieder reden willst.

Blake

PS. Ich habe es dir schon fertig eingerichtet ;-)

Ich legte den Zettel zur Seite und schaltete das Handy ein. Sofort leuchtete eine neue Nachricht auf.

Wie es aussieht, hast du mein Geschenk gefunden. Wie war dein Tag?

Ich war mir nicht sicher, ob ich dieses Geschenk annehmen konnte, aber Blake würde in dem Punkt keinen Widerspruch dulden. Seufzend antwortete ich ihm.

Du hättest mir kein Smartphone schenken müssen.

Mein Tag war nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.

Ich räumte den Handykarton zur Seite und legte mich auf mein Bett. Nachdenklich blickte ich einen Moment aus dem Fenster. Der Tag heute war nur halb so schön wie der gestrige. Schwere Wolken zogen über den Himmel, aber wenigstens regnete es nicht. Im Grunde liebte ich das Wetter in Schottland. Ich hatte weder mit Regen noch mit Wind ein Problem, nur heute störte mich das Einheitsgrau.

Die leise Vibration des Handys kündigte eine weitere Nachricht von Blake an.

Du könntest auch einfach Danke sagen. ;-)

Möchtest du darüber reden, was heute bei dir schiefgegangen ist?

Ich seufzte leise. Nein, das wollte ich nicht, aber Blake hatte nie den Eindruck gemacht, als würde er schnell aufgeben. Also wählte ich seine Nummer und wartete darauf, dass er meinen Anruf entgegennahm.

»Hey«, meldete er sich schon kurze Zeit später.

»Danke«, erwiderte ich und ich hörte sein leises Lächeln am anderen Ende. »Und meine beste Freundin hasst mich, während ich keine Ahnung habe, was ich falsch gemacht habe.«

»Wenn du noch ein bisschen ins Detail gehst, könnte ich dir folgen.«

Ich atmete tief durch. »In Zukunft befolge ich nie wieder deinen Rat. Ich habe meine Mutter heute gefragt, warum meine beste Freundin sich noch nicht bei mir gemeldet hat, woraufhin sie mich wieder kurz abgefertigt hat. Also habe ich mir ihr Telefon genommen und nachgeschaut, ob sie Ambers Nummer durch Zufall eingespeichert hat und ob diese vielleicht aktuell ist. Das war sie, aber ich konnte kaum fünf Worte sagen, dann hatte meine beste Freundin schon wieder aufgelegt.« Ich verdeckte meine Augen mit einer Hand und seufzte theatralisch. »Kannst du mir sagen, warum ich in diesem verdammten Inverness festsitze, obwohl ich offenbar überall sonst sein sollte, außer hier?«

»Hast du schon mal daran gedacht, dass du aus einem bestimmten Grund hier gelandet bist?«, fragte mich Blake und klang dabei geheimnisvoll.

»Ich kann keinen erkennen und habe keine Zeit für irgendwelche Mythen und Geheimnisse! Blake, ich bin irgendwo im Nirgendwo, weit weg von meiner Wohnung und noch weiter weg von meiner besten Freundin ... und wen auch immer ich noch irgendwann mal gekannt habe. Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn man nicht weiß, wer man ist?«

»Natürlich nicht«, seufzte er. »Und trotzdem ist die Situation, in der du jetzt bist, genau das, was du vor deinem Unfall gebraucht hättest.«

»Das werde ich vermutlich in den nächsten Wochen nicht wissen ... vielleicht sogar nie.« Ich sog die Luft tief ein und richtete mich auf. »Aber meine Probleme sind nicht deine ... also ... also werde ich auflegen.«

»Du weißt, dass du jederzeit mit mir sprechen kannst?«

»Ja. Bye, Blake.«

»Bye, mo ghrèin.«

»Wirst du mir jemals sagen, was das bedeutet?«, wollte ich leise wissen.

»Nur wenn du endlich aufhörst, dich selbst so unter Druck zu setzen. Nichts geschieht ohne Grund ... du bist hier, weil du hier sein sollst.«

»Ich hoffe, du hast recht«, erwiderte ich und beendete den Anruf.

Ein letzter Augenblick

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