Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 9

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Kapitel 1

Wer ist Emilia?

Seit ich die Augen vor etwa einer halben Stunde aufgeschlagen hatte, stellte ich mir diese Frage unermüdlich. Wer war diese Person, die mir in der Spieglung der Fensterscheibe entgegenblickte, die Ähnlichkeiten mit mir hatte, die ich aber unmöglich sein konnte?

Die junge Frau, die ich sah, hatte wirre, schulterlange, brünette Haare. Ihre dunklen Augen wirkten leer und leblos, ihr schmales Gesicht war blass und kränklich. Sie war älter als das letzte Mal, als sie mir im Spiegel entgegengelächelt hatte. Die vollen Lippen, auf denen dieses Lächeln normalerweise lag, waren zu einem Strich verzogen. Ihr schlanker Körper steckte in unscheinbarer Krankenhauskleidung. Was auch immer ihr passiert war, es musste furchtbar gewesen sein.

Geduldig hatte ich mir angehört, was der Arzt mir zu sagen hatte, doch verstanden hatte ich nur das Wenigste davon. Begriffe wie retrograde Amnesie, schwere Verletzungen und Gehirnerschütterung waren mir im Gedächtnis geblieben. Es fiel mir allerdings schwer, einen Zusammenhang mit diesen Worten zu bilden.

»Sag doch etwas«, flehte meine Mutter und ich wandte den Blick von der Fensterspieglung ab. Ausdruckslos sah ich ihr in die Augen und fragte stumm: »Was soll ich deiner Meinung nach sagen?«

Nachdem der Arzt gegangen war, war sie zurück in mein Zimmer gekommen. Seitdem saß sie still neben mir und wartete darauf, dass ich mein Schweigen brach. Doch ich wusste nicht, womit ich das tun sollte. Damit, Fragen zu stellen, was in den letzten Jahren geschehen war? Wie es passieren konnte, dass meine Welt von einem auf den anderen Tag aufhörte, zu existieren, und wie die Dunkelheit die Erinnerungen einer so langen Zeit verschlucken konnte? Jeder andere Mensch hätte das getan ... nur ich hielt meinen Mund.

Ich wandte den Blick von meiner Mutter ab und starrte erneut auf die Spieglung im Fenster.

Wer bist du? Was hast du mit der Neunzehnjährigen gemacht, die ich das letzte Mal gesehen habe?

»Emilia, bitte.« Meine Mutter seufzte leise und ich senkte den Blick auf meine Hände, die ich nervös knetete.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, brach ich endlich mein Schweigen und schluckte schwer, als ich das Brennen in meinen Augen spürte. »Ich wache in einem Krankenhaus in Inverness auf. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist ein Nachmittag mit Amber ... 2008 in Glasgow. Der Arzt erzählt mir, dass ich seit 2010 im Koma gelegen habe ... insgesamt fünfeinhalb Jahre. Ich bin jetzt ... sechsundzwanzig Jahre alt? Welcher Tag ist heute?«

Meine Mutter nickte zaghaft, um mir zuzustimmen, bevor sie meine Frage beantwortete. »Heute ist der 12. Mai 2015.«

Ich schüttelte den Kopf und kniff die Lippen aufeinander. »Weißt du, wie das passiert ist und was ich in den zwei Jahren zuvor gemacht habe?« Meine Stimme war dünn und unsicher, und ich schaffte es nicht, den Blickkontakt zu meiner Mutter zu suchen.

»Der Arzt sagt, du brauchst Ruhe, und dass es nicht richtig wäre, dich sofort mit der Vergangenheit zu konfrontieren«, wich meine Mutter meiner Frage aus. »Er sagte auch, dass du das Krankenhaus eventuell in ein paar Wochen verlassen kannst, wenn die Untersuchungen alle positiv verlaufen. Danach ist genügend Zeit, über alles zu sprechen.«

»Was sind ein paar Wochen schon im Vergleich zu fünfeinhalb Jahren Koma«, erwiderte ich sarkastisch und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Eine Selbstschutzreaktion. »Ich wäre jetzt gern allein.«

Vielleicht war es nicht richtig, meine Mutter so auszuschließen, doch es war in diesem Moment der einzige Weg, meine Gedanken zu ordnen. Ich brauchte ein bisschen Ruhe, um zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte.

»Ich komme morgen wieder.« Mom stand auf und küsste mich auf die Stirn. Starr blieb ich sitzen und nickte nur leicht, nachdem sie sich gelöst hatte.

Kaum hatte sie mein Zimmer verlassen, sank ich zurück in die Kissen und starrte an die weiße, nichtssagende Zimmerdecke. Vielleicht war es der Schock über die Nachricht, der verhinderte, dass ich in diesem Augenblick Gefühle zeigen konnte, vielleicht steckte aber auch etwas anderes dahinter.

Ich drehte mich auf die Seite und schaltete die kleine Lampe über meinem Bett aus. Es wurde sofort dunkel im Raum und ich blickte aus dem Fenster in den Himmel von Inverness, dieser wunderschönen Stadt in den schottischen Highlands, die ich schon immer einmal besuchen wollte. Nun war ich hier, doch wie ich hierhergekommen war, wusste ich nicht. Hatte ich vielleicht Urlaub hier gemacht und hatte dann einen Unfall? Möglicherweise einen Autounfall, oder ich war in den Bergen unterwegs gewesen und es war etwas schiefgegangen? Der Arzt sagte, ich sei im Januar 2010 eingeliefert worden. Vielleicht war der Winter in diesem Jahr besonders streng und schneereich. Sollte das der Grund für mein Unglück gewesen sein? Allein die Möglichkeiten abzuwägen, bereitete mir Kopfschmerzen, dabei gab es noch tausend weitere, die ich bisher nicht bedacht hatte. War ich allein gewesen, oder war jemand bei mir? Hatte ich in den zwei Jahren vor dem Unfall einen Freund gehabt? Wenn ja, wo war er? Und wie ging es meiner besten Freundin Amber? Das Kaffeetrinken mit ihr war die letzte Erinnerung, die ich hatte. Hatte ich nach der Schule ein Studium oder eine Ausbildung begonnen?

Zwei Jahre meines Lebens waren gelöscht worden und ich hatte keine Ahnung, ob ich sie wiederbekommen würde. Ganz zu schweigen von der Zeit, die ich im Krankenhaus verbracht hatte. Was war in den fünfeinhalb Jahren in der Welt geschehen? Was hatte ich alles verpasst, seit mein Leben auf Pause gestellt worden war?

Je länger ich mir diese Fragen stellte, desto mehr erwachte ich aus meiner Schockstarre. Es war, als konnte ich nun erst die Verbindungen zwischen den Worten des Arztes und denen meiner Mutter ziehen.

Ich atmete schwer und mein Herz setzte im gleichen Augenblick eine Sekunde aus, um anschließend mit der doppelten Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Tränen sammelten sich brennend in meinen Augen. Als ich mir eingestehen musste, dass ich keine Ahnung von der Frau hatte, die aus mir geworden war, und dass mir die Chance genommen wurde, die letzten fünf Jahre zu leben, konnte ich nicht länger gegen sie ankämpfen. Ich krallte mich in meine Bettdecke und versteckte das Gesicht im Kissen, während ich meine verlorene Zeit beweinte und mich, wie so oft, in den letzten Stunden fragte, wer ich war. In Gedanken lebte ich das Leben einer Neunzehnjährigen, die noch gestern zusammen mit ihrer besten Freundin Kaffee getrunken und von einer unerreichbaren Modelkarriere geträumt hatte. Doch dieses naive Mädchen war ich nicht mehr. Ich war eine sechsundzwanzigjährige Frau, die nicht wusste, wer sie war und zu welcher Strafe das Leben sie verurteilt hatte.

Ein letzter Augenblick

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