Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 20
ОглавлениеKapitel 9
Erschrocken fuhr ich hoch und schlug die Hände vors Gesicht. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, mein Atmen ging unruhig und mein Kopf schmerzte. Die Bilder des Traumes kamen zurück in meine Gedanken und hinterließen ein Stechen in meiner Brust. Ich hatte von dem jungen Mann geträumt, der mit mir auf dem Foto abgebildet war. Allerdings war mir noch immer nicht klar, welche Rolle er in meinem Leben gespielt hatte.
Langsam stand ich aus meinem Bett auf und lief zum Fenster. Ich zog die Vorhänge zurück und blickte auf die belebte Einkaufsstraße unter mir. Offenbar hatte ich trotz des Traumes so lange geschlafen, dass die Geschäfte in der Zwischenzeit geöffnet hatten.
Ich seufzte leise und wandte mich ab. Vor meinem Kleiderschrank blieb ich wieder stehen und öffnete die beiden Türen der ersten Schrankhälfte. Mir stockte der Atem, als ich die unzähligen Abend- und Cocktailkleider entdeckte, die darin hingen. Vorsichtig berührte ich den Stoff eines roten Seidenkleides und konnte nicht glauben, dass das wirklich wahr war. Plötzlich fiel mein Blick auf blauen Stoff und ich zog den Kleiderbügel heraus. Das war das Kleid, das ich auf dem Bild getragen hatte, welches im Wohnzimmer stand. Das Bild mit dem Fremden. Meine Finger strichen über das teure Material, aus dem das Kleid gemacht war, und ich traute meinen Augen nicht, als ich das Logo eines bekannten Designers darin entdeckte. Wie um alles in der Welt konnte ich mir so etwas leisten?
»Habe ich doch richtig vermutet, dass du schon wach bist.« Erschrocken fuhr ich herum und sah Blake im Türrahmen stehen. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er die Tür geöffnet hatte. Wie lange stand er schon da?
»Hey«, sagte ich leise und hing das blaue Kleid zurück in den Schrank. Dann schloss ich die Türen und wandte mich ihm zu.
»Und hast du etwas entdeckt?«, fragte er und ich seufzte leise.
»Außer den unzähligen, viel zu teuren Abendkleidern nichts.« Ich ging zur anderen Schrankseite und öffnete diese. »Ich werde duschen gehen und mich dann wieder hinlegen. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren«, erklärte ich, während ich mir saubere Sachen nahm. Diese machten einen bedeutend schlichteren Eindruck und entsprachen dem, was ich gewohnt war zu tragen. Das erleichterte mich.
Nachdem ich die Schranktüren geschlossen hatte, wollte ich mich an Blake vorbeischieben, doch er ließ mich nicht gehen. In diesem Moment waren wir uns so nah, dass ich die Luft kurz anhielt. Unsicher suchte ich seine grünen Augen.
»Denk daran, was du mir versprochen hast«, sagte er leise und der Klang seiner Stimme kroch durch meinen gesamten Körper.
»Ich habe Kopfschmerzen«, erwiderte ich, doch das ließ er offenbar nicht als Ausrede gelten.
»Emilia ...« Es war offensichtlich, dass er mir diese kleine Lüge nicht abkaufte. In Wirklichkeit hatte ich keine Kopfschmerzen, ich wollte nur meine Ruhe haben und über diesen Traum nachdenken. »Ich lasse dich noch einmal davonkommen, wenn du mir versprichst, dass wir heute Abend etwas zusammen unternehmen.« Sein Blick bohrte sich in meinen und hinterließ ein sanftes Kribbeln in meinem Inneren. Ich wusste, dass ich aus dieser Situation nur herauskam, wenn ich zustimmte.
»In Ordnung.« Mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen machte Blake mir endlich den Weg frei, und ich verschwand schnell im Badezimmer.
Ich war mir nicht sicher, ob ich es gut fand, dass er scheinbar genau wusste, welche Knöpfe er bei mir zu drücken hatte. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto klarer wurde mir, wie attraktiv er war und welche Wirkung er auf mich hatte. Doch war es überhaupt richtig, das zu denken?
Als ich das Bild von mir und dem Fremden gesehen hatte, hatte ich sofort das Gefühl, dass ihn und mich etwas verband. Auf irgendeiner unsichtbaren Ebene konnte man erkennen, dass ich etwas für diesen Mann empfand. Nur mal angenommen, ich hätte vor dem Unfall eine Beziehung zu ihm gehabt, wo war er jetzt? Wieso meldete er sich nicht? Oder waren wir vielleicht doch nur gute Freunde gewesen? Möglicherweise hatte ich ihn genauso verärgert wie Amber.
Seufzend stützte ich mich auf das Waschbecken, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, und betrachtete mich im Spiegel. Ich konnte noch immer nicht sagen, wer genau die junge Frau war, die mir entgegenblickte. Sicher hatte ich schon unzählige Male vorher hier in diesem Raum gestanden und in eben diesen Spiegel gesehen. Doch das Gefühl, das mich nicht mein Spiegelbild betrachtet, sondern eine völlig fremde Frau, konnte ich nicht abschütteln.
Weil ich wusste, dass Blake ohnehin nicht lockerlassen würde, kam ich am späten Nachmittag freiwillig aus meinem Zimmer. Es überraschte mich, dass er meinen Wunsch, allein zu sein, akzeptierte.
»Na, bist du von den Toten auferstanden?«, fragte er und ich verdrehte die Augen.
»Ich dachte, bevor du mich holen kommst, stehe ich lieber freiwillig auf.«
»Sehr schlau von dir.« Er stand von der Couch auf und steckte sein Handy in die Hosentasche. »Dann können wir uns ja jetzt auf den Weg machen.«
»Was hast du geplant?«, fragte ich und folgte ihm in den Flur, wo wir uns fertig anzogen.
»Du willst nichts über dich erfahren, aber das interessiert dich?«, fragte er, nachdem wir meine Wohnung verließen. »So funktioniert das nicht, Lia.« Er tauschte einen Blick mit mir und ich atmete theatralisch aus.
Kurz nachdem wir das Wohnhaus verlassen hatten, stiegen wir in Blakes Wagen und er fuhr los. Wenig später hielten wir auf einem Parkplatz am Calton Hill in den Regent Gardens. Wir stiegen aus, er nahm eine Decke aus dem Kofferraum und deutete mir schließlich an, ihm zu folgen. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, gingen wir die schmalen Wege entlang, die den Berg hinaufführten. Ich wusste, dass man von hier aus einen wunderbaren Blick auf Edinburgh hatte, doch wenn ich schon einmal hier gewesen war, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Blake führte mich zu einer Wiese und breitete die Decke aus, während ich meinen Augen nicht traute. Der Blick auf die Stadt war atemberaubend. Die Dächer funkelten in der Sonne, die noch einmal hinter den Wolken hervorgekommen war, bevor sie am Horizont verschwand. Sogar das Meer konnte man von hieraus sehen.
»Das ist unglaublich«, flüsterte ich und wandte mich an Blake. »Warst du schon einmal hier?«
»Nein, aber ich habe mich im Internet schlaugemacht.« Er setzte sich auf die Decke und ich nahm neben ihm Platz. Ich zog meine Beine an die Brust und umklammerte sie. Mein Blick glitt nachdenklich über die Stadt und ich seufzte leise. Ich spürte, dass Blake mich beobachtete, und sah zu ihm.
»Warum siehst du mich so an?«
»Weil ich gehofft hatte, du sagst mir, was dich heute Morgen so aus der Bahn geworfen hat.«
Ich wandte den Blick ab und ließ ihn wieder in die Ferne schweifen. »Es war ein schlechter Traum. Ich habe von dem Bild geträumt ... und von ihm. Es war ... zu viel ...«
»Vielleicht wollte dein Unterbewusstsein dir helfen.«
»Es hat mir aber nicht geholfen, es hat alles nur schlimmer gemacht. Ich weiß nicht, wer der Mann auf dem Bild ist, geschweige denn, in welcher Verbindung ich zu ihm stehe.« Nervös knetete ich meine Finger. »Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt noch wissen will.«
»Tief in deinem Inneren weißt du, dass du es wissen willst. Genauso, wie du deine Wohnung durchsuchen und am liebsten nach Glasgow zu deiner besten Freundin fahren würdest. Ich verstehe nur nicht, warum du dich so dagegen wehrst. Wovor hast du Angst?«
Ich fühlte mich ertappt, denn Blake hatte mit allem recht. Doch die Frage, wovor ich mich eigentlich fürchtete, konnte ich mir nicht einmal selbst beantworten. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, ja, aber wenn ich nichts unternahm, durfte ich auch nicht jammern, weil ich nichts herausfand.
»Ich hasse es, dass du mich offensichtlich besser kennst, als ich mich selbst.« Ein unsicheres Lächeln zeichnete sich auf meinen Lippen ab, als ich ihn ansah.
»Ich kenne dich nicht besser, als du dich selbst. Es ist nur so, dass ich deine wirre Logik irgendwie nachvollziehen kann.«
»Aber ich kann sie ja nicht einmal selbst nachvollziehen. Wie kannst du es dann?« Ich lachte leise. »Ich bin sogar jetzt schon wieder so verwirrt, dass ich gar nicht weiß, worüber wir uns überhaupt gerade unterhalten.« Auch Blake lachte und legte einen Arm um meine Schultern. Er zog mich zu sich und ich ließ mich leicht gegen ihn kippen, während ich den Blick auf das sonnengetränkte Edinburgh weiterhin genoss.
»Habe ich mich eigentlich schon richtig bei dir bedankt?«, wollte ich leise wissen.
»Es gibt keinen Grund dafür.«
»Doch. Du bist für mich da, seit ich aus dem Krankenhaus rausgekommen bin. Auf irgendeine seltsame Weise schaffst du es, immer genau die richtigen Dinge zu sagen und zu tun. Du hilfst mir, Sachen zu hinterfragen, und du versuchst mich zu verstehen, in Momenten, in denen ich mich selbst nicht verstehe. Blake, du machst die ganze Situation für mich leichter.«
Ich richtete mich ganz vorsichtig auf, verringerte aber den Abstand zwischen ihm und mir nicht. Seine moosgrünen Augen ruhten auf mir und ich schluckte schwer. Auf seinen sonst so stark wirkenden Gesichtszügen lag ein sanfter Ausdruck, der mir ein Kribbeln durch den gesamten Körper jagte. Ich hoffte, dass er nicht hörte, wie schnell mein Herz in diesem Moment schlug. Ich erzitterte, als er mir plötzlich eine Hand auf die Wange legte und mich näher zu sich zog. Spürte er etwa auch, dass irgendetwas zwischen uns passiert war?
»Ich werde immer für dich da sein, egal was passiert«, flüsterte er und strich mit seinem Daumen über meine Lippe. »Du bist etwas Besonderes, Lia, auch wenn du das nicht mehr weißt.«
In diesem Moment war mir völlig egal, was er mit dem zweiten Satz meinte, ich wollte ihn einfach nur küssen. Ein letztes Stück kam ich ihm näher und wollte seine Lippen gerade berühren, als die Bilder wie ein Blitz durch meinen Kopf schossen und ich plötzlich die Hände abwehrend und schwer atmend auf Blakes Brust presste.