Читать книгу Ein letzter Augenblick - Sabrina Heilmann - Страница 12

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Kapitel 3

Obwohl ich am Abend schnell eingeschlafen war, hatte ich dennoch eine unruhige Nacht hinter mir. Immer wieder war ich wach geworden und hatte in die Dunkelheit gestarrt. Ich fragte mich, ob mein Körper nach so vielen Jahren genug davon hatte, sich auszuruhen.

Deswegen begann ich den neuen Tag mit Kopfschmerzen. Als ich mich endlich aus dem Bett bewegte, war es zehn Uhr morgens. Sicher war meine Mutter bereits im Blumenladen. Steven, der gestern Nachtschicht hatte und vermutlich immer noch schlief, hatte ich bisher nicht kennengelernt.

Leise gähnend verschwand ich im Badezimmer, wo ich mich auszog und unter die Dusche stieg. Ich drehte das Wasser fast kochend heiß auf, so wie ich es mochte, und stellte mich darunter. Ich hielt den Kopf unter die prasselnden Tropfen, schloss für einen Moment meine Augen und genoss die Ruhe, die ich dadurch empfand. Wasser hatte auf mich schon immer eine beruhigende Wirkung gehabt.

Nachdem ich meinen Körper und meine Haare gewaschen hatte, stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Glücklicherweise hatte mir meine Mutter neue Kleidung besorgt, sodass ich wenigstens etwas anziehen konnte, das mir ein Stück Normalität zurückgab.

Ich verließ das Badezimmer und ging auf direktem Weg in den Blumenladen. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, umströmte mich der blumige Duft, den ich schon immer geliebt hatte. Ich atmete tief durch und schenkte meiner Mutter ein Lächeln, die gerade einen Strauß aus Rosen für einen jungen Mann band.

Bis Mom fertig war, hielt ich mich im Hintergrund auf und sah mich ein bisschen in dem Laden um. Er war nicht groß, dafür aber wunderschön. Der weiße Kassentresen stand in der Mitte des hinteren Teils, dahinter befand sich nur noch ein Arbeitsplatz, an dem meine Mutter die Sträuße band und Gestecke vorbereitete. In jeder Ecke standen unterschiedliche Blumen. Schnittblumen, Topfpflanzen, Pflanzen für drinnen oder für den Garten. Auch einige Dekoartikel, Dünger und andere Kleinigkeiten fanden ihren Platz.

»Hey.« Ich drehte mich zu meiner Mutter um und umarmte sie kurz. »Was machst du denn hier?«

»Ich dachte, ich schau mir deinen Laden mal an ... und irgendwie hoffe ich, du hast Kaffee.« Ich lächelte unsicher.

»Natürlich habe ich Kaffee.« Ich folgte meiner Mutter in einen kleinen Nebenraum, den sie als Pausenraum eingerichtet hatte. Mom nahm zwei Tassen aus dem Schrank und füllte sie mit Kaffee aus der Thermoskanne. Sie gab etwas Milch und Zucker hinzu, so wie wir es beide liebten, und reichte mir meine Tasse.

»Danke.«

»Steven schläft noch?«

»Ich denke schon, zumindest habe ich ihn bisher nicht kennengelernt.«

Meine Mutter nickte lächelnd und ich richtete meinen Blick auf den Kaffee. Eigentlich wollte ich mit ihr über so vieles sprechen, doch aus irgendeinem Grund verließ mich der Mut. In meinem Kopf wandelten tausend Fragen umher, doch ich traute mich nicht, auch nur eine davon zu stellen. Ich fürchtete mich davor, etwas zu erfahren, das mich verletzen konnte.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich stattdessen und meine Mutter nickte zustimmend. Mir war klar, dass ich ihr im Laufe des Tages alle Fragen stellen musste, die mir auf der Seele brannten - sicher erwartete sie das auch von mir - doch in diesem Moment wollte ich nur ein bisschen Ruhe.

Steven kam am frühen Nachmittag in den Blumenladen und ich freute mich, ihn endlich kennenzulernen.

»Liebling, du hast mir nicht gesagt, wie hübsch deine Tochter ist. Hallo, ich bin Steven.« Er schenkte meiner Mutter ein verliebtes Lächeln und umarmte mich.

»Hallo«, erwiderte ich und löste mich von ihm. Steven war ein freundlicher Mann, Anfang fünfzig mit dunklen Haaren und fast schwarzen Augen, den ich auf den ersten Blick wohl für einen griesgrämigen Highlander gehalten hätte. Er hatte diese raue Ausstrahlung, die mich einschüchterte, aber mir wurde sofort klar, dass dieser Eindruck täuschte. Ganz offensichtlich war er ein offener und freundlicher Mensch, der immer einen witzigen Spruch auf den Lippen hatte.

Als ich die Blicke bemerkte, die er mit meiner Mutter tauschte, seufzte ich leise. Ihre Liebe zueinander ließ sich nicht leugnen und ich war glücklich, dass meine Mutter einen Mann wie Steven gefunden hatte. Ich sah ihm an, dass er für sie durchs Feuer gehen und sie beschützen würde.

Ich hatte Mom vermutlich noch nie so glücklich gesehen. Die Trennung von meinem Vater hatte ihr zu schaffen gemacht, doch sie versuchte, ihre wahren Gefühle zu überspielen. Es war immer offensichtlich gewesen, dass meine Mutter mich dadurch schützen wollte. Je älter ich geworden war, desto klarer wurde mir das. Wenn ich darüber nachdachte, hatte ich mich schuldig deswegen gefühlt. Mom hatte für mich auf die Liebe verzichtet, solange ich klein gewesen war. Dass sie ihr Glück endlich gefunden hatte, weil sie wegen mir hierherziehen musste, entschädigte die Jahre der Einsamkeit wohl ein bisschen.

»Gewöhnst du dich langsam wieder ein, Emilia?«, fragte mich Steven, als Mom sich gerade um eine Kundin kümmerte. Ich zuckte mit den Schultern.

»Es ist schwer, sich an etwas zu gewöhnen, von dem man nicht weiß, ob es zum Alltag gehört.« Steven und ich waren in den kleinen Pausenraum gegangen, wo auch er sich erst einmal eine Tasse Kaffee nahm.

»Ja, das glaube ich dir. Ich arbeite hier in der Gegend als Notarzt, weswegen ich in etwa weiß, wie es dir gehen muss.«

»Das weiß niemand«, erwiderte ich leise.

»Ja, das stimmt leider.« Steven lachte. »Entschuldige, aber bei den meisten Leuten funktioniert das.«

»Diese einfühlsame Art ist so eine Masche von euch Ärzten, oder?« Auch wenn mir nicht nach Lachen zu Mute war, schaffte Steven es dennoch, mir ein Schmunzeln zu entlocken.

»Irgendwie schon. Was ich damit sagen will: Scheue dich nicht davor, Fragen zu stellen. Ich kann mir vorstellen, was mein Kollege im Krankenhaus dir gesagt hat. Es ist Schwachsinn, dass du es nicht überstürzen sollst. Wenn du dich nicht damit auseinandersetzt und dich fragst, was du in den beiden Jahren vor deinem Unfall gemacht hast, werden die Erinnerungen nie zurückkommen.« Der Mann meiner Mutter seufzte leise. »Ich weiß von Debbie, dass du bisher jede Frage gemieden hast, die dir helfen könnte, dich zu erinnern. Und ich weiß auch, dass ihr das sogar recht ist. Deine Mutter will dich schützen, aber das sollte dich nicht davon abhalten, deine Erinnerungen zu finden.«

»Ich glaube, ich habe Angst davor, etwas zu erfahren, was mir wehtun könnte.«

»Und deswegen lebst du lieber in Ungewissheit? Das funktioniert ein paar Wochen, Emilia, aber nicht auf Dauer.«

»Ich weiß«, seufzte ich und richtete meinen Blick starr auf den Fußboden.

Nachdem Steven gegangen war, hing ich meinen Gedanken nach. Ich wusste, dass er mit seinen Worten recht hatte, doch es fiel mir schwer, den alles entscheidenden Schritt zu machen. Tatsächlich hätte ich lieber einige Zeit in dieser kleinen Seifenblase verbracht, fernab von den Fragen und Gedanken, die durch meinen Kopf geisterten. Der Entschluss, nach Edinburgh zu fahren und mich in meiner Wohnung umzusehen, war so schnell verblasst, wie er gestern gekommen war.

Mit langsamen Schritten ging ich zu den Orchideen und betrachtete eine mit wunderschöner blauer Färbung. Sanft strich ich mit den Fingern über die zierlichen Blütenblätter und lächelte. Ich hatte mich nie für Blumen und Pflanzen interessiert, doch diese zog mich magisch an.

»Gefällt sie dir?«, riss meine Mutter mich aus den Gedanken und ich fuhr zu ihr herum.

»Ja, sie ist wunderschön.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm Mom den Topf und reichte ihn mir. »Nimm sie dir später mit nach oben.«

»Danke.« Für einen kurzen Moment sah ich nachdenklich auf die Blume, bevor ich erneut den Blickkontakt zu meiner Mutter suchte. »Ich habe vorhin ein bisschen mit Steven gesprochen.«

»Was denkst du über ihn, Liebling?«

»Ich mag ihn. Aber das ist nicht das, was mir Kopfzerbrechen bereitet.« Ich atmete tief durch. »Er hat etwas sehr Wichtiges zu mir gesagt. Er meinte, ich dürfte keine Angst davor haben, Fragen zu stellen, wenn ich mich erinnern will.«

Sofort froren die Gesichtszüge meiner Mutter ein und sie wandte sich leicht von mir ab. »Ich habe ihm gesagt, dass ich dein Tempo akzeptiere und dich nicht unter Druck setzen werde.«

»Das weiß ich zu schätzen, Mom, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich versuche, mich zu erinnern. Ich würde gern nach Edinburgh fahren und mich in meiner Wohnung umsehen.«

»Lia, das halte ich für keine gute Idee.«

»Warum nicht?«

»Weil ich dich ganz sicher nicht allein fahren lasse!«, erhob meine Mutter die Stimme.

»Das ist kein Grund.« Ich sah kurz zu Boden und funkelte sie wütend an. »Okay, dann beantworte mir ein paar Fragen. Habe ich allein in der Wohnung gelebt? Was habe ich beruflich gemacht, oder habe ich studiert? Hatte ich einen Freund, vielleicht sogar mehr? Wo ist Amber? Noch in Glasgow? Warum hat sie sich nicht gemeldet, seit ich aufgewacht bin? Haben wir uns in den letzten Jahren regelmäßig gesehen?« Ich holte Luft und stellte weiter Fragen, weil es nicht den Anschein machte, als wollte meine Mutter mir die Antworten geben, nach denen ich suchte. »Wie ist es zu dem Unfall gekommen? Welche Art von Unfall war es überhaupt? War ich allein, oder war jemand bei mir? Hätte ich sterben können? Warum bin ich in Inverness?«

»Emilia, hör auf!«, schrie Mom und stellte sich hinter ihren Tresen.

»Nein, warum? Das geht mir durch den Kopf, seit ich aufgewacht bin. Ich habe mich bisher nur nicht getraut, all diese Dinge auszusprechen.« Tränen stiegen in meinen Augen auf. »Es tut mir leid, Mom, aber im Moment bist du offensichtlich die Einzige, die mir helfen kann.«

»Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt, verstehst du das nicht?« Meine Mutter stützte sich auf dem Tresen ab und ließ den Kopf hängen.

»Aber wann ist der?«, fragte ich und das Klingeln des kleinen Türglöckchens legte sich über meine Frage. Ich drehte mich um und mein verschwommener Blick traf auf Blake McLaughlin. Ich schluckte schwer und sah zurück zu meiner Mutter, die nur den Kopf schüttelte. Als mir klar wurde, dass ich keine Antworten erhalten würde, drehte ich mich um, schob mich an dem jungen Mann vorbei und verschwand mit meiner blauen Orchidee aus dem Laden.

Ein letzter Augenblick

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