Читать книгу Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra - Страница 11

Dynamik und Menschenwürde

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Weshalb nehmen wir heute die gefesselte Lebendigkeit stärker wahr als noch vor ein, zwei Jahrzehnten? Ich denke, das hat damit zu tun, dass unsere Unternehmen und Institutionen der immer weiter zunehmenden Dynamik nicht mehr gewachsen sind. Doch weshalb nehmen Dynamik und Komplexität immer weiter zu? Darüber reden wir zwar dauernd, der Begriff VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) legt gerade eine steile Karriere hin, aber was steckt eigentlich dahinter? Von den vielen Einflussfaktoren scheinen mir drei besonders wesentlich.

Erstens: die heutige Situation auf globalen Märkten. Lassen Sie uns, um zu verstehen, was da passiert ist, einen kurzen Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte machen. Bis ungefähr 1900 dominierten industrielle Manufakturen das Bild. Die waren zwar schon größer als die traditionellen Handwerksbetriebe, konnten ihre Waren im Wesentlichen aber nur im lokalen Umfeld absetzen, weil die Transportkosten einfach zu hoch waren. Vor allem durch technische Innovationen reduzierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Transport- und Tauschkosten, und plötzlich hatten die Unternehmen riesige Märkte, die sie erobern konnten. Konkurrenten störten dabei ebenso wenig wie Kundenwünsche.

Von Henry Ford ist der schöne Satz: »Die Kunden können bei mir jedes Auto kaufen, solange es schwarz ist.« Ford war es auch, der die Idee des Scientific Management von Frederik Taylor als Erster adaptierte. Dieses Konzept sollte eine ganze Epoche prägen. Unternehmen fokussierten sich auf ihre internen Praktiken, optimierten Kosten und entwarfen immer effizientere Prozesse. Budgets und die Verhandlungen derselben, Controlling, Abteilungen, Stellenbeschreibungen, Karriereplanung, Management by Objectives mit den dazugehörigen Zielvereinbarungen, Beurteilungen und Bonussystemen sind einige Kinder dieses wissenschaftlichen Managements.

Der Taylorismus hat Ideen, Flexibilität und Kreativität stillgelegt.

Dieses Vorgehen war in der Zeit übrigens enorm erfolgreich, zumindest nach ökonomischen Maßstäben: Die industrielle Produktion stieg innerhalb von nur zwei Generationen um das Hundertfache. Der daraus resultierende materielle Wohlstand hat ohne Frage Gutes bewirkt, wie eine deutlich verbesserte Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln und bessere medizinische Leistungen, die mit steigender Lebenserwartung und geringerer Kindersterblichkeit einhergehen.

Wohlhabende Gesellschaften sind meistens auch demokratische Gesellschaften, wobei immer wieder leidenschaftlich darüber diskutiert wird, was hier Henne und was Ei ist. Ermöglicht die Demokratie wirtschaftliche Prosperität oder sorgt der Wohlstand dafür, dass sich demokratische Staatsformen ausprägen und stabilisieren? Auch wenn wir diese Frage hier nicht abschließend klären können und Krisenerscheinungen westlicher Demokratien wie in den USA unter Donald Trump oder in Großbritannien Zweifel aufkommen lassen, so dürfte unstrittig sein, dass Wohlstand die Wahrscheinlichkeit auf das Entstehen und Fortbestehen einer demokratischen Verfassung erhöht.

Vermutlich auch wegen ihres großen Erfolgs gelten die tayloristischen Prinzipien bis heute als modern. Dass Systeme aus Planung und Zielerfüllung auch in kleinen Unternehmen wie dem erwähnten Startup, das gerade mal zwei Jahre am Markt war, bereits Einzug gehalten haben, ist für mich ein Zeichen dafür, wie sehr solche Vorgehensweisen zur Normalität gehören.

Doch seit Erfindung dieser Art des Managements hat sich Entscheidendes geändert: Die Märkte sind in nahezu allen Branchen an ihre Grenzen gestoßen. Es ist jetzt auf ihnen wieder ganz schön eng, auch wenn sie den gesamten Globus umfassen. Jeder Konkurrent, der eine gute Idee hat und Kundenwünsche besser erfüllt, nervt die anderen. Unmittelbar und schnell. Marktanteile verschieben sich in Windeseile, Nokia und Schlecker sind nur zwei von vielen Beispielen. Beide hatten mit Apple bzw. dm in ihrer jeweiligen Branche Konkurrenten mit verdammt guten Ideen. Der Ausgang der Geschichten ist bekannt.

In globalen, engen Märkten brauchen Sie Ideen, Flexibilität und Kreativität. Blöderweise hat der Taylorismus aber diese menschlichen Fähigkeiten quasi stillgelegt. Das war in den trägen Märkten eine intelligente Vorgehensweise, weil es in erster Linie um Effizienz ging. In den dynamischen Märkten von heute ist das aber nun mal anders.

Übersehen wird beim Taylorismus auch, dass die materiellen Wohlstandsgewinne keineswegs als einziger Maßstab für ein gutes Leben gelten können und ein steigendes Bruttoinlandsprodukt nicht zwangsläufig zu einer höheren Lebensqualität führt. Zu sehr sind inzwischen die Nebenwirkungen dieser Art des auf Wachstum gerichteten Wirtschaftens deutlich, allen voran Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung.

Neben dieser wirtschaftlichen Dynamik trägt zweitens auch die seit den 1990er-Jahren veränderte politische Weltordnung zur Steigerung der Komplexität bei. Diesen zweiten Grund höre ich in Diskussionen rund um die veränderten Umweltbedingungen in unseren Organisationen aber viel seltener. Wenn zum Beispiel über mögliche Folgen des EU-Austritts Großbritanniens gesprochen wird, dann geht es eher um konkrete Auswirkungen wie drohendes Datenchaos, lange Staus angesichts wieder notwendiger Zollabfertigungen oder verringerte Exportchancen für die deutschen Unternehmen. Dass durch Ereignisse wie den Brexit Unsicherheit und Komplexität insgesamt weiter steigen, taucht eher in Nebensätzen auf.

Wussten Sie, dass das heute vor allem in der Wirtschaft genutzte Akronym VUCA ursprünglich von der U.S. Army stammt? Dort beschrieb man damit, wie sich die Bedingungen in der multilateralen Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert hatten – wie volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig die Welt geworden war. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es viel mehr unvorhersehbare Ereignisse und unvorstellbar viele Einflüsse, sodass alte Spielregeln militärischer Auseinandersetzungen nicht mehr galten. Das führte in der Army zu einem radikalen Umdenken – und zum Umbau in eine agile Organisation.

Interessant ist, dass eine der hierarchischsten und stark von »command and control« geprägten Organisationen zu einer der Vorreiterinnen in Sachen Agilität wurde. Doch nicht nur die Regeln auf dem politischen und militärischen Spielfeld haben sich durch die Umwälzungen in der Weltordnung der letzten gut 30 Jahre massiv verändert, sondern diese hatten natürlich auch Folgen für wirtschaftliches Handeln rund um den Globus – allein schon dadurch, dass es kaum noch einen Gegenentwurf zum kapitalistisch organisierten System gibt und so auf die soziale Marktwirtschaft immer weniger Druck ausgeübt wird, auf ihr Adjektiv wirklich zu achten.

Der dritte Aspekt ist nicht minder wichtig: Menschen wollen heute kein Produktionsfaktor mehr sein, der Anweisungen ausführt. In Zeiten des Taylorismus scheint es ein gesellschaftlicher Konsens gewesen zu sein, dass die Mitarbeiter x Stunden am Tag darauf verzichten, ihre Fantasie, ihre Ideen, ihre Kreativität zu nutzen, und stattdessen Ansagen ausführen. Das »x« wurde dabei immer wieder neu ausgehandelt und bessere Arbeitsbedingungen wurden erstritten. Im Wesentlichen blieb es aber dabei: Arbeitskraft und Aufgabenerfüllung gegen Gehalt. Heute wollen Menschen aber ihre Menschenwürde nicht mehr nur in ihrer Freizeit ausleben, sondern auch an ihrem Arbeitsplatz.

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