Читать книгу Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra - Страница 9

Was soll das?

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Da war es, das erste Puzzlestück, das mir erklärte, weshalb ich mich an jenem 30. April zehn Jahre zuvor nicht so richtig hatte freuen können. Viele weitere sollten folgen und nach und nach ein Bild ergeben. Davon wird in diesem Buch an einigen Stellen noch die Rede sein.

Doch der Reihe nach: Obwohl ich nach meiner Zeit in der Pharmaindustrie längst in einem kleinen Beratungsunternehmen arbeitete und bei dem, was ich dort tat, meine Augen viel häufiger leuchteten, blieb ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte nicht. Ich fühlte mich in meiner Lebendigkeit eingeschränkt, als sei ich von unsichtbaren Seilen gefesselt, die ich bis dahin nur schwer identifizieren konnte. Und ich dachte lange, ich sei es, mit der etwas nicht stimmt. Alle anderen schienen ganz normal zu finden, was um sie herum in den Unternehmen passierte. Sie handelten Budgets aus, schrieben Berichte, bereiteten Zahlen für das Controlling auf, vereinbarten Ziele und strichen Boni ein – und mein Bauch funkte SOS. Also musste doch mit mir etwas nicht stimmen, ich passte wohl einfach nicht in diese Welt.

Das zufällig am Bahnhof erworbene Buch bot mir einen anderen Blick an: Es könnte auch sein, dass mit der Arbeit und dem, wie wir sie erledigen, etwas falsch ist. Wir messen zum Beispiel mit Arbeit verbrachte Zeit und interessieren uns weniger dafür, was bei der Arbeit rauskommt. Wie oft hatte ich schiefe Blicke meiner Kollegen geerntet, wenn ich gegen 9 Uhr ins Büro kam. Die meisten waren schon seit 7 Uhr da, in einem produzierenden Betrieb nicht unüblich, aber so gar nicht mein Rhythmus. Ich kam eher abends in Fahrt und wurde – wenn ich, was ab und zu vorkam, nach 19 Uhr noch im Büro war – entweder von wohlmeinenden Führungskräften oder einem Betriebsrat freundlich gebeten, doch nun Feierabend zu machen. Die Zeiterfassung wurde übrigens auch zu diesem Zeitpunkt abgestellt. Ich wollte aber lieber meinen Gedanken zu Ende bringen und die Vorbereitung für einen Workshop mit einem internationalen Team abschließen.

An diese Episoden fühlte ich mich sehr erinnert, als vor ein paar Jahren die Entscheidung eines DAX-Unternehmens durch die Presse ging, täglich um 19 Uhr die Mailserver abzustellen, um die Mitarbeiter davor zu schützen, abends noch zu arbeiten. Ein Vorgehen, das inzwischen einige Nachahmer gefunden hat. Doch das ist Fremdbestimmung pur – und die ist sicher ein Knoten in den Fesseln der Lebendigkeit.

Doch nicht nur bei der Frage, wann gearbeitet wird, auch beim Wo gibt es in unseren Unternehmen unglaublich viel Fremdbestimmung. »Homeoffice gibt es bei mir nicht, da sitzen die Mitarbeiter ja nur rum und ich muss es bezahlen«, sagte einmal nach einem Vortrag ein Unternehmer zu mir. Ich war erst mal baff und schaute den hanseatischen Kaufmann fragend an. Spinnt der? Galt nicht gerade unter den Hanseaten der Handschlag als Ausdruck des Vertrauens, das man Geschäftspartnern entgegenbrachte? Weshalb nicht den Mitarbeitern? Warum unterstellte der Unternehmer den Menschen, die er selbst als seine Mitarbeiter ausgewählt hatte, sie würden nicht arbeiten, wenn er sie nicht kontrolliert? Was sollte das? Ein Gespräch kam an dem Abend nicht mehr zustande, zu weit waren unsere Positionen auseinander.

Fremdbestimmung ist ein Knoten in den Fesseln der Lebendigkeit.

Auf dem Heimweg dachte ich über diese Begegnung noch einmal nach. War mir nicht gerade etwas wiederbegegnet, was mir in den letzten zehn Jahren immer klarer geworden war und mich bis heute beschäftigt: Wir haben uns in unseren Organisationen einen Haufen Prozesse und Praktiken eingehandelt, die unsere Arbeit eher behindern als unterstützen. Arbeitszeit- und Anwesenheitskontrolle gehören definitiv dazu. Ich stelle die gute Absicht hinter diesen Praktiken keinesfalls infrage und möchte nicht in die Zeit zurück, in der Arbeiter weitgehend rechtelos sechzehn Stunden am Tag geschuftet haben – und es heute leider immer noch tun, in anderen Teilen der Welt und auch direkt vor unserer Haustür.

Und doch: Der Schutz der Mitarbeiter ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist Kontrolle, und zwar in einem Ausmaß, das an manchen Stellen nicht mehr feierlich ist. Da schreiben Rechtsanwälte Kolumnen in Tageszeitungen, in denen es darum geht, ob Mitarbeiter ausstempeln müssen, um zur Toilette zu gehen, oder ob ein privates Telefonat »während der Arbeitszeit« geführt werden darf. Sich in einem Unternehmen über solche Dinge auch nur Gedanken machen zu müssen, zieht die Knoten der Fesseln der Lebendigkeit gleich ein ganzes Stück fester.

Ich habe in unterschiedlichen Rollen eine ganze Reihe von Unternehmen erlebt und dabei wurde immer wieder deutlich: Nahm »der Arbeitgeber« es sehr genau mit Vorschriften zur Arbeitszeit und ihrer Erfassung, hörte ich von den Mitarbeitern eher Forderungen und sie beriefen sich auf Rechte und Ansprüche. Außerdem war ständig Thema, wie Arbeitszeit erfasst wird, wer dabei wie schummeln könnte und wer wem noch was schuldet. Ich habe noch klar vor Augen, wie während meiner Ausbildung in einer norddeutschen Sparkasse mancher Kollege neben der Zeituhr stand, um noch das nächste »Klick« abzuwarten – damit die Uhr auch wirklich alle Anwesenheitsminuten zählt. Auch der Betriebsrat, der in einem Workshop vehement forderte, die »abhängig Beschäftigten« zu schützen, ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Fehlendes Vertrauen und enge Kontrollen – noch zwei Knoten in den Fesseln. Forderungen und Ansprüche – weitere zwei Knoten, und nicht selten ist auch noch so gut gemeinter Schutz letztlich ein Knoten in den Fesseln der Lebendigkeit.

Lebendigkeit entfesseln

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