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Fesseln in Schulen

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30 erwachsene Menschen sitzen auf viel zu kleinen Stühlen an deutlich zu niedrigen Tischen. Wo sind wir? Richtig, in einer Grundschule, und es ist Elternabend. An einen denke ich besonders zurück: Meine Tochter war gerade eingeschult worden, es begann das zweite Halbjahr der ersten Klasse. Ihr Klassenlehrer erläuterte uns Eltern, weshalb er keine Arbeitsblätter einsetzt, auf denen die Kinder Lückentexte ergänzen und Aufgaben abarbeiten sollten. Er erklärte dies, indem er aus dem Hamburgischen Schulgesetz zitierte. In §2 (2) heißt es dort: »Unterricht und Erziehung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Sie sind so zu gestalten, dass sie die Selbstständigkeit, Urteilsfähigkeit, Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie die Fähigkeit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen, stärken.«

Ich weiß noch, wie ich damals dachte: »Wow, so was steht im Gesetz?« Das war ja eine glasklare Vision für das »Wofür«, das »Was« und das »Wie« des Lernens, in der für Gegenwart und Zukunft sehr zentrale Kompetenzen vorkamen. Das sah der Klassenlehrer auch so und lehnte daher »Arbeitsblattpädagogik«, wie er es nannte, ab. Damit würden Aufgabenerfüller sozialisiert, davon stünde aber weder etwas im Gesetz noch würde er seine Aufgabe als Lehrer so verstehen, noch denken, dass diese Kompetenz in unserer heutigen Welt von zentraler Bedeutung wäre. Er wollte, dass die Kinder am und vom echten Leben lernen. Potenzialentfaltung und Individualität sollten im Vordergrund stehen und weniger die Erfüllung von Zielen, die andere gesetzt, und die Abarbeitung von Aufgaben, die andere vorgegeben hatten.

Klingt gut? Das fanden offenbar nicht alle anwesenden Eltern. Nachdem der Lehrer seine Ausführungen beendet hatte, flogen gleich mehrere Hände hoch. Zuerst meldete sich ein Vater zu Wort. »Wir hatten auch Arbeitsblätter und haben Aufgaben erledigt. Und überhaupt: Was soll daran schlecht sein, wenn Kinder tun, was man ihnen sagt?« »Richtig«, ergänzte eine Mutter, »das hat uns offenbar auch nicht geschadet. Schauen wir uns doch hier um, aus den meisten ist dem Anschein nach etwas geworden – mit Arbeitsblättern.«

Das stimmt, die meisten von uns haben ihren Weg gemacht, und doch bin ich mir nicht so sicher, ob es wirklich nicht geschadet hat. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass nicht wenige heute erwachsene Menschen Blessuren aus ihrer Schulzeit davongetragen haben, meistens unbewusst. Nehmen Sie nur den weit verbreiteten Glaubenssatz, nur etwas wert zu sein, wenn man etwas leistet, oder die Erfahrungen von Scham, wenn man an die Tafel musste und es nicht draufhatte, die bis heute bei Präsentationen vor Gruppen nachwirken. Auch der »Funktioniermodus«, in dem viele von uns in ihren Organisationen – und leider auch sehr oft außerhalb – leben, ist in der Schule bereits gespurt worden.

Schon in der Grundschule arbeiten die Kinder Listen ab, füllen Arbeitsblätter aus und lernen nach vorgegebenen Plänen, häufig im Gleichschritt. Wer schnell begreift, ist gelangweilt, wer länger braucht, hoffnungslos überfordert. Individueller Blick auf Anstrengung und Fortschritt? Oft Fehlanzeige. Es kommt darauf an, der Beste oder die Beste zu sein. Schwache bleiben draußen, Fehler werden rot angestrichen und Fünfen verteilt. Die unausgesprochene Botschaft: »Tu, was dir aufgetragen wurde – und das möglichst perfekt.«

Lebendigkeit entfesseln

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