Читать книгу Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra - Страница 14
Naturgesetze?
ОглавлениеDoch weshalb halten wir so oft die Funktionsweise von Unternehmen für alternativlos? Neben den Fesseln, die der Lebendigkeit durch unpassende Strukturen angelegt werden, gibt es wohl auch Fesseln in unseren Köpfen. Woher kommt bloß die Idee, dass unsere Unternehmen nur so und nicht anders funktionieren könnten? Dass es Pläne, Budgets, Zielvereinbarungen, Abteilungen, Meetings einfach geben muss, damit es läuft? Wenn ich mit der Bahn unterwegs bin – was ziemlich oft der Fall ist – werde ich häufig Zeugin von Gesprächen, die genau von dieser gefühlten Alternativlosigkeit erzählen. So auch gerade wieder letzte Woche, irgendwo zwischen Frankfurt und Hamburg. Da diskutieren zwei Kollegen sehr engagiert über die Planzahlen für das kommende Jahr. Eine Dame im Businesskostüm bespricht am Telefon die Beurteilung eines Mitarbeiters und die daran geknüpfte Bonuszahlung. Keiner von ihnen hinterfragt, welchen Sinn die Zahlen und Beurteilungen erfüllen. Solche Systeme aus Planung, Zielerfüllung, Beurteilung und Bonus sind offenbar selbstverständlich geworden.
Im Zug ging es noch weiter: Eine junge Frau klagt einer Freundin ihr Leid. »Bei uns gibt es nur den Fall, dass du funktionierst.« Sie fühle sich als Produktionsfaktor, fährt sie fort, der eben funktionieren muss. »Wenn ich weg bin, kommt die nächste, ich bin austauschbar.« Das System ist extrem auf Leistung ausgerichtet, gerade viele junge Kollegen arbeiten sehr lange, weit über jede Belastungsgrenze hinaus. Der Druck ist groß, der Chef scheint davon auszugehen, dass nur etwas leistet, wer unter einem gewissen Zwang steht. »Aber«, sagt die junge Frau, »so ist es überall. Das ist eben so, egal, wo du arbeitest.« Puh, ganz schön was los in unserer Wirtschaftswelt, denke ich bei mir, setze mir Kopfhörer auf, mache Musik an und schlage die Zeitung auf. Dort geht es in einem Artikel passenderweise um die Deutsche Bahn und die Tendenz, dass dort – nach Analyse des Autors – der staatliche und politische Einfluss zu- und das betriebswirtschaftliche Denken abnimmt. Dabei, so stellt der Autor fest, legt doch das Grundgesetz fest, dass die Bahn als Wirtschaftsunternehmen zu führen ist. Und dazu gehört ihm zufolge das Prinzip der Gewinnmaximierung. Und wer Gewinne nicht maximiert, denkt nicht betriebswirtschaftlich.
Nachdenklich lege ich die Zeitung weg, schließe die Augen, lasse Gesprächsfetzen und den gerade gelesenen Artikel Revue passieren. Erinnern Sie sich an den jungen Mann, der versuchte, mir seine Software noch am 31. Januar zu verkaufen? Bereits in dem Start-up, das gerade mal zwei Jahre am Markt war, hatten diese Vorgehensweisen Einzug gehalten. Die Menschen im Zug, die Aussagen in dem Artikel über die Bahn und der junge Mann aus dem Start-up – sie sind für mich Zeichen, wie sehr das alles verinnerlicht ist, ja als »professionell« gilt, dass wir die Nebenwirkungen solcher Praxis in Kauf nehmen müssen und daran eben nichts zu ändern ist. Es ist gerade so, als seien es Naturgesetze. Doch das sind sie doch gar nicht, sie sind menschengemacht. Weshalb in Gottes Namen ist es so schwierig, die Strukturen und Prozesse zu verändern? Es liegt sicher daran, dass viele gar nicht merken, wo sie da drinstecken, so sehr sind sie an die Abläufe gewöhnt.
Doch selbst wenn Ihnen bewusst ist, worin Sie stecken und was zu verändern wäre: Einfach ist es auch dann nicht. Weshalb nicht? Zum einen, weil es möglicherweise von Ihnen verlangt, auch Ihre eigenen Denkweisen und Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen, ja sogar Ihre Rolle infrage zu stellen und damit etwas, das auch Ihre Identität mitprägt. Das ist schwer, und ich habe vor jedem und jeder Respekt, der und die dieses Wagnis eingeht. Zum anderen hat jedes System, jede Organisation die Tendenz, so weiterzumachen wie immer. Von Ideen der Menschen, die in ihnen arbeiten, lassen sie sich nur zögerlich irritieren.
Noch dazu fehlt oft eine Vorstellung davon, was alles möglich wäre. Dass es ein Krankenhaus mit fast 200 Mitarbeitern ohne formale Hierarchien geben kann. Dass eine Bank ohne Vertriebsdruck mehr als nur funktioniert. Dass funktionale Teilung selbst in einem Produktionsbetrieb nicht erforderlich ist. Dass Beiträge von Mitarbeitern gewürdigt werden, ohne ihnen Boni zu zahlen. Ohne diese Ideen und Vorstellungen von Alternativen kann aber keine Veränderungsenergie entstehen.
Ohne Ideen und Vorstellungen von Alternativen entsteht keine Veränderungsenergie.
Das war für meine Kollegen und mich eine wesentliche Triebfeder für unsere Initiative AUGENHÖHE und die Filme, die in deren Rahmen in den letzten Jahren entstanden: Wir wollten zeigen, was möglich ist, und das anhand von Unternehmen, die bereits seit Jahren erfolgreich auf ihre Art wirtschafteten. Und es ist ein wesentlicher Grund dafür, dass ich gerade – noch einmal zehn Jahre nach der Begebenheit am Hamburger Hauptbahnhof und fünf Jahre nach unserem ersten Film – in meinem Lieblingscafé sitze und meine Gedanken für Sie aufschreibe. Mich faszinieren lebendige Organisationen – und die Menschen, die dort Impulse setzen und Beiträge leisten für eine andere, lebendige Arbeit und Wirtschaft. Dafür stehe ich jeden Morgen auf: Ich möchte dazu beitragen, dass in unseren Organisationen – Unternehmen wie Schulen – anders gearbeitet wird. Zum Wohle der Menschen und der Organisationen. Oder anders gesagt: Ich möchte meinen Kindern eine andere Arbeitswelt hinterlassen, als ich sie selbst vorfand. Und am besten auch eine andere Schule, denn dort werden die Grundsteine für Überzeugungen bereits gelegt und gefestigt.