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BOYS KEEP SWINGING

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Inzest stellt im Rock zugleich eine ultimative Metapher der Transgression und eine klaustrophobische, kastrierende, versklavende Unterordnung unter die erstickende Häuslichkeit der Mutterliebe dar. Brian Jones von den Rolling Stones war ein Musterbeispiel für diesen Konflikt: Er schwankte zwischen effeminierter Passivität und bösartiger Brutalität gegenüber Frauen. Als Jones 1967 Berufung gegen ein strenges Urteil wegen Drogendelikten einlegte, bescheinigte ihm der Gerichtspsychologe eine Persönlichkeit, die zwischen »phallischer und sadistischer Sexualität« und einem »offenkundigen Bedürfnis nach passiver Abhängigkeit« pendele. Weiter führte er aus, dieser Zustand käme von »ödipalen Fixierungen […]. Teil seiner Verwirrung scheint die stark ausgeprägte Ablehnung zu sein, die er gegenüber seiner dominanten und kontrollierenden Mutter verspürt.« Daher also der Jones-Mix aus Weichei und unausstehlichem Teenager, der die Ketten seiner Mutter abstreift.

Mehr noch als der Rest der Band war Brian Jones der Inbegriff der den Rolling Stones immanenten Mischung aus verweichlichtem Dandy und brutalem Machismo. Seiner »femininen Seite« gab er sich durch eine Camp-Persona und Unisex-Klamotten hin, und manchmal trieb er dieses Spiel sogar auf die Spitze, indem er eine Frau verkörperte. Anita Pallenberg berichtete, während eines LSD-Trips mit Jones die Geschlechterrollen getauscht zu haben – sie verkleidete ihn als die französische Sängerin Françoise Hardy. Doch die Frauen in seinem Leben waren Jones’ gewaltsamen Wutanfällen ausgesetzt, dazu ließ er sie mit seinem unehelichen Nachwuchs allein. Auch Mick Jaggers Image vermischte spitzbübische Rebellion und Weiblichkeit. »Was die Leute wirklich aufregt«, sinnierte der Sänger, »ist, dass ich ein Mann bin und keine Frau. Ich tue nicht viel mehr als viele Tänzerinnen, aber weil Männer das Sagen haben, ist es bei ihnen akzeptiert.« Die Stones bemächtigten sich der weiblichen »Privilegien«, auffälligen Schmuck tragen zu können und sich narzisstisch zu verhalten, während sie Frauen aufgrund solcher Oberflächlichkeiten geringschätzten.

Manchmal diente das Crossdressing der Stones der spöttischen Parodie, beispielsweise auf dem Cover der Single »Have You Seen Your Mother, Baby, Standing in the Shadow«: Keith Richards als Stewardess, Jones als aufreizende Hilfskraft der Royal Air Force, Mick Jagger und Bill Wyman als runzelige alte Frauen und Charlie Watts als reiche alte Dame im Pelzmantel. Ihr Transvestismus blieb den Stones bis zu ihrem Album Some Girls (1978) erhalten, auf dessen Cover die Gesichter der Band von Frauenperücken umrahmt sind. Auf dem Backcover finden sich sarkastische Fakebiografien: Wymans alter Jungfer »fehlt nur eine Eigenschaft, um die perfekte Ehefrau zu sein – sie mag einfach keine Männer«, Jaggers Karrierefrau opfert ihr Liebesleben ihrem Beruf und so weiter. Jede dieser erfundenen Frauen steht ohne Mann da. Für die Stones offensichtlich die ultimative Schmach.

In den 1960ern war Androgynität lediglich eine weitere Waffe im Arsenal der Band für den Kampf gegen gesellschaftliche Normen. Was bei Frauen akzeptiert war, wurde subversiv, wenn es sich Männer aneigneten. Die Stones sind ein Paradebeispiel der dionysischen Tradition im Rock ’n’ Roll, daher ist es kein Zufall, dass sie sich zur Femininität hingezogen fühlten. In Androgyny schreibt June Singer über den originalen altgriechischen Gott Dionysos: »Er wird behandelt und geschult wie ein Mädchen und wächst als effeminierter Mann auf. Er ist nicht in der Lage, das Feminine vom Maskulinen in sich zu trennen, weiß kaum, wer er ist. Wie ein ewiger Jugendlicher wandert er durch die Welt, ändert seine Form, wird verrückt, trinkt sich selbst in die Gefühllosigkeit, lebt in der Verlassenheit der Natur und erlebt – wie die Natur selbst – den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt.«

Die Fusion der Stones von prahlerischem Machismo und selbstherrlicher Androgynität zu einer Art allumfassendem Narzissmus hat sich als Klammer in der Geschichte rebellischer Rockmusik erwiesen: vom 1960er-Freakbeat (Gruppen wie John’s Children) über Lou Reed, David Bowie und die New York Dolls zu Prince, Hanoi Rocks, den Manic Street Preachers und Suede. Punk stand zu sehr auf Hässlichkeit, um mit Androgynie zu spielen, und doch hat der Begriff selbst eine effeminierte Konnotation. Im 16. Jahrhundert stand »punk« für eine weibliche Prostituierte oder Dirne, später entwickelte sich die Bedeutung hin zur jungen männlichen »Ehefrau« eines Sodomiten. In der Terminologie der Landstreicher sowie im Gefängnis-Slang war ein »punk« ein junger, hübscher, passiver Junge, der von anderen Insassen gefickt wird. Schließlich wandelte rebellische Rockmusik dieses Wort für ein entmanntes, verachtenswertes Stück menschlichen Abfalls einmal mehr in einen positiven Begriff des Ungehorsams.

In ihrem Essay »Baudelaire, or Infinity, Perfume and Punk« sieht Julia Kristeva das Dandytum als Identifikation mit der verhassten Position der Mutter in der patriarchalen Ordnung. Die Besessenheit des Dandys von der »trivialen« Sache des Styles ist eine Revolte gegen das ordnungsgemäße Männlichkeitsideal, das der Vater verkörpert – Style ist also der Versuch, die Mutter nachzuahmen. Punk erwähnt Kristeva in einem zweideutigen Kontext: Die bewusste, gezielte Selbstbesudelung im Punk-Style statt der Verschönerung ist eine Umkehrung des Dandytums. Sowohl Dandys als auch Punks besetzen ihre Minderwertigkeit und Marginalisierung dabei positiv, transformieren Entmannung zu Style.

Das Dandytum der Stones jedoch entsprach weniger der Umarmung einer Position als Underdogs als vielmehr einer Sehnsucht, selbst in der Hierarchie aufzusteigen – eine dekadente Verweigerung der respektablen, ehrlichen, entsexualisierten Maskulinität, die in den 1950ern propagiert wurde, zugunsten der aristokratischen Hemmungslosigkeit des Playboys. Dieses ambivalente, aber virile Image teilten sie sich mit Jimi Hendrix und später mit dessen Erben Prince, die als potente »Wilde« in majestätischer Pracht wahrgenommen wurden. Im Laufe seiner Geschichte bewegte sich Rock zwischen weichem Narzissmus und rauer Kraft. Doch keiner dieser Archetypen – weder der Kavalier noch der Roundhead,5 weder der Mod noch der Rocker – hat Frauen viel zu bieten. Das große Paradox des Rock ist, dass er gegen etablierte Vorstellungen von Männlichkeit rebellierte und dabei selbst misogyn blieb.

David Bowies Hymne »Boys Keep Swinging« vom 1979er-Album Lodger macht sich über das Phänomen der männlichen Verbrüderung lustig. Im dazugehörigen Video sabotiert Bowie die Kameraderie der Lyrics, indem er verschiedene weibliche Rollen einnimmt. Die Idee: Unter all ihrem Männlichkeitswahn sind die lads selbst latent homosexuell. Doch die subversive Schlagfertigkeit des Songs wurde von einer noch tieferen Ironie übertroffen: Mit weiblichem Glamour zu experimentieren und, wie Suzanne Moore es ausdrückte, »ausgewählte weibliche Subjektivitäten« zu übernehmen, ist ein männliches Privileg. Weibliches Crossdressing kommt nicht als Übermut oder Transgression rüber. Jungs mit Eyeliner sorgen für Erregung, aber Mädchen, die den Kajalstift boykottieren, gelten höchstens als unelegant.

1Die berühmteste »Errungenschaft« des PMRC sind die »Parental Advisory«-Aufkleber auf diversen Albumcovern. Anm. d. Ü.

2Im echten Leben starb Osbornes geliebter Vater, als er zehn Jahre alt war, und überließ ihn so seiner gehassten, dominanten Mutter.

3Rebel Without a Cause, also »Rebell ohne Grund«, ist der Originaltitel des vorher erwähnten Filmes … denn sie wissen nicht, was sie tun. Anm. d. Ü.

4Der Begriff »Satori« steht im Buddhismus für spirituelle Erleuchtung. Anm. d. Ü.

5Im Englischen Bürgerkrieg nannte man die Anhänger von König Karl I. Kavaliere. Ihnen gegenüber standen die Anhänger des Parlaments: die Roundheads. Anm. d. Ü.

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