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VORWORT
ОглавлениеDieses Buch begann mit einem Witz.
Einem abartigen Witz, um genau zu sein. An jenem Abend im Jahr 1991 waren wir mit einem Freund im New Yorker East Village essen. Dieser Freund brachte einen Kumpel mit, einen Musiker, der gerade zu Besuch war. Während des Essens riss dieser Typ – dessen musikalischer Lebenslauf verschiedene Noise-Rock-Bands in den späten 1980ern umfasst – einen Witz:
Frage: Was ist das Schlimmste an der Vergewaltigung eines Kindes?
Antwort: Das Mädchen danach töten zu müssen.
Dieser Witz war ein Test. Ein Test, der ermitteln sollte, wie cool man ist. Wer lachte, hatte bestanden.
Wir sind durchgefallen.
Als wir später nach Hause liefen, spekulierten wir darüber, warum es – damals – so viele Underground-Rockbands gab, die Songs über das Töten von Frauen im Repertoire hatten.
Nach drei Stunden hitziger Diskussion hatten wir den Plan zu einem Buch.
Ursprünglich konzipierten wir Sex Revolts als Studie über Misogynie und über gestörte und verstörende Maskulinität im Rock und verwandten Pop-Genres. Doch schon bald erweiterte sich unser Blick auf andere Gender-Aspekte, wie sie sich in Pop- und Nicht-Popmusik ausdrückten. Zusätzlich zu der Negativität und Feindseligkeit gegenüber Frauen gab es noch eine ganz andere Tradition männlicher Rockmusik, die Frauen und »das Feminine« mystisch überhöhte. Und dann gab es noch das unübersichtliche und vielfältige, reiche und verworrene Gebiet der weiblichen Repräsentation der eigenen geschlechtsspezifischen Lebenserfahrung.
Als Sex Revolts 1995 erstmals auf Englisch erschien – bei dem britischen Independent-Verlag Serpent’s Tail und in den USA bei Harvard University Press –, war das ein gutes Timing. Das Buch ritt auf einer Welle starker musikalischer Statements von Künstlerinnen wie Courtney Love, PJ Harvey und Liz Phair sowie denen der Riot-Grrrl-Bewegung. Sex Revolts zog viel Aufmerksamkeit auf sich, meistens positive (wobei es ein paar, aus irgendeinem Grund oft weibliche Kritiker gab, die sich sorgten, ob unsere Kritik an frauenfeindlichen Tendenzen in der Rockgeschichte übertrieben war oder sogar »unfair« gegenüber den Männern).
Im weiteren Verlauf der 1990er machte die Populärkultur einige weitere Veränderungen durch und Genderfragen – die so ein heißes Thema gewesen waren – rückten wieder etwas in den Hintergrund. Andere Aspekte, die etwa mit Ethnie, Klasse oder Technologie im Zusammenhang standen, gerieten in den Fokus. Wenn wir heute auf Sex Revolts zurückblicken, gibt es sicherlich Schwerpunkte, die an ihre Zeit gebunden zu sein scheinen: Theorien und Themen, die sehr in den frühen 1990ern verhaftet sind, Bands sowie Interpretinnen und Interpreten, die sich nicht mehr als Referenzen eignen. Aber wo das Buch durch ein paar Aspekte die Eigenarten seiner Zeit offenbart, sorgen andere dafür, dass es in der Gegenwart eine auffällige Aktualität entwickelt. Auf die Gefahr hin, uns für unsere Voraussicht zu sehr selbst zu loben: Man kann sagen, dass Sex Revolts seiner Zeit in mancher Hinsicht voraus war.
Der erste Teil des Buches, der sich mit der, wie wir es nannten, »Misogynie der Rebellen« beschäftigt, findet heute weniger in der Musikszene Widerhall (auch wenn es hier immer noch viel Misogynie gibt, vor allem in der Welt des Trap Rap) als vielmehr in der Weltpolitik. Hier bilden ein wiederauflebender Kult alpha-männlicher Macht und der damit einhergehende, aggressive Antifeminismus die Grundpfeiler des Versuchs, weltweit traditionelle Werte, darunter auch Gender-Hierarchien und Geschlechterrollen, wiederherzustellen. Wie Angela Nagle in ihrer 2017 erschienenen Polemik Die digitale Gegenrevolution: Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump1 darlegt, beruht der Aufstieg der Alt-Right unter anderem darauf, dass provokative, auf Empörung abzielende Strategien, die vormals dem Lager der toleranten Kulturlinken zugerechnet wurden, an den finstersten und reaktionärsten Rändern von Protofaschismus und Anarcholibertarismus eine neue Heimat fanden. Eine in den 1950ern und 1960ern entstandene, mit Figuren wie den Beat-Poeten, Lenny Bruce und den Yippies2 verknüpfte Macho-Version von Freiheit – schonungslose Darstellungen der Wahrheit, Verweigerung von Selbstzensur, Profanität und Beleidigungen (vorgeblich um deren Macht zu entschärfen) – ist von genau denen vereinnahmt worden, die damals die Gegenspieler der Gegenkultur gewesen wären.
War es einst die prüde, verängstigte Bourgeoisie, die von der Gegenkultur ins Visier genommen wurde, sind es nun Progressive, die mit absichtlich beleidigenden Aussagen attackiert werden – und manchmal auch körperlich. Es gibt neue Normen, die es zu verletzen, und neue »Spießer«, die es zu provozieren gilt – und so trampeln die Alt-Right-Krieger gegen soziale Ungerechtigkeit schadenfroh auf allem herum, was Liberalen und Progressiven wichtig ist. Die libidinöse Ökonomie3 hinter dieser neurechten Gegenkultur ist ihrer Vorgängerin aus den 1950ern/60ern gefährlich nahe. Eine der berüchtigtsten und bekanntesten Figuren, die die Alt-Right hervorbrachte, wetterte gegen eine dominante Kultur der »Kindermädchen und Sprachpolizisten«. Der Begriff »Kindermädchen« – eine mütterliche, weibliche Autoritätsfigur, die unartige Jungs herumkommandiert und sie in Schach hält – erinnert sehr an die Figur der Oberschwester Ratched aus Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, die die Virilität von Männern aus der Vorstadt unterdrückt, die in ihrer Psychiatrieabteilung gelandet sind. Die paranoide Ungeduld der Alt-Right gegenüber politischer Korrektheit, sicheren Rückzugsorten, Warnhinweisen auf mögliche Auslösereize etc. entstammt der tief sitzenden Überzeugung, dass diese mit untragbaren Beschränkungen des männlichen Rechts auf Gehässigkeit einhergehen würden.
Sensibilität – sei es die eigene oder diejenige gegenüber der Verletzbarkeit anderer – wird heute gemeinhin als Zeichen von Schwäche und übertriebener Empfindsamkeit (daher auch der Begriff snowflake – Schneeflocke) gedeutet, dem durch eine Verhärtung der charakterlichen Panzerung entgegengewirkt werden müsse. Auf ähnliche Weise werden Männer, die sich als Feministen sehen oder weniger aggressiv und dominierend durchs Leben gehen, als unmännlich und gezähmt angesehen (als cucks, ein Kürzel für cuckolded – ein Mann, dessen Frau ihm Hörner aufsetzt, indem sie ihn betrügt). Der Begriff cuck stammt aus der Online-Porno-Kultur, snowflake hingegen wurde ursprünglich von Chuck Palahniuk in dessen Roman Fight Club geprägt, der ein Jahr nach Sex Revolts erschien. In Fight Club wenden sich verwirrte, wütende junge Männer gegen die softness des »neuen Mannes« und die metrosexuelle Konsumgesellschaft, die aus ihrer Sicht für eine verführerische, hinterhältige Dekadenz steht, die Männer von innen schwächt. Ihre Lösungen verweisen auf Nietzsche: »Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.« Es ist nicht so, dass es heute eine Krise der Maskulinität4 gäbe. Die Maskulinität selbst ist die Krise: ein Nährboden für Widersprüche und Konflikte, für gespaltene Impulse und Sehnsüchte, die niemals in ein Gleichgewicht gebracht werden können, sodass sie sich entweder in einer Explosion Ausdruck verschaffen oder mit Beruhigungsmitteln unterdrückt werden müssen.
Der Weg von Palahniuks düsterer Satire zum gegenwärtigen Protofaschismus führt über ein Revival des Momism, eines kulturellen Phänomens im Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg, das in Sex Revolts als Vorstufe zum Aufkommen von Gegenkultur und Rockrebellion gedeutet wird. Das Wachstum von Konsumgesellschaft, Massenmedien und Vorstädten wurde von manchen amerikanischen Kritikern mit einem Matriarchat gleichgesetzt, das Entmannung und Domestizierung vorangetrieben und den auf rauer, martialischer Männlichkeit basierenden Pioniergeist nahezu ausgerottet habe, auf dessen Prinzipien die Nation gegründet worden sei. Das Überleben dieser Reflexe kann man in Amerika etwa am paranoiden Waffenbesitzfetisch erkennen. Ein fanatischer Jäger wie der Hardrocker und Trump-Unterstützer Ted Nugent – der es trotz seines phallischen Gitarrenspiels und seines Images als »wilder Mann« nicht in Sex Revolts geschafft hat – zeigt, wie Rebellion zu streitsüchtiger Reaktion werden kann. Von Ted Nugents Sicht auf Mutter Natur als Selbstbedienungsladen für Jäger ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Rohstoffindustrie und ihren Bemühungen, Maßnahmen zum Umweltschutz zurückzudrängen, um die Rohstoffe der Erde besser plündern und missbrauchen zu können. Das englische Wort fracking klingt nach einem gewalttätigen sexuellen Akt, der es gewissermaßen auch ist.
Einer der wichtigsten Einflüsse für Sex Revolts war das 1977 erschienene Buch Männerphantasien von Klaus Theweleit, eine Studie der protofaschistischen Psyche, die zum Großteil auf Aufzeichnungen der Freikorps direkt nach dem Ersten Weltkrieg basiert. Es war besorgniserregend zu sehen, wie die bildlichen Ausdrücke, die sich durch Theweleits Analyse ziehen – der Sumpf der Korruption, verseuchende Flutwellen an Immigranten, die Krankheiten und Kriminalität mitbringen, die dringende Notwendigkeit, Verteidigungsmauern zu errichten, um diese Bedrohung abzuwehren –, in der gesamten westlichen Welt in Wahlkampagnen wieder auftauchen. Zwar können auch Frauen den Reiz faschistischer Sehnsucht spüren, doch gibt es keinen Zweifel, dass Männer besonders anfällig für die Ängste sind, die aktuell geschürt werden: Auch wenn reale politische Themen oder Probleme dahinterstehen, sind sie doch ebenfalls trügerische Platzhalter und Requisiten, Verdrängungen und Kompensationen in den inneren psychischen Konflikten eines erodierenden und immer irrelevanter werdenden Männlichkeitsideals.
Man muss gar nicht allzu weit blicken, um zu erkennen, dass sich Maskulinismus, Militarismus und die hyperindustrielle Ausbeutung von Mutter Natur auf der einen Seite befinden und Feminismus, Pazifismus und Umweltschutz logischerweise auf der anderen. In Sex Revolts verfolgen wir, wie sich diese Gegensätze in der Rockgeschichte spiegeln. Der Rockrebellion als einer dynamischen und dominierenden Abenteuerlust, die sich von den Zwängen des domestizierten Lebens löst und ihre Wildheit auf die Welt überträgt, setzen wir eine »soft-männliche« Passivität und eine von jeglichem Ego befreite Haltung entgegen, die ihren ersten Ausdruck in der Psychedelic und ihren Höhepunkt im Ambient findet (quasi eine Rebellion gegen die Rebellion).
Ein so deutlich umrissenes Schema läuft immer Gefahr zu übertreiben oder zu generalisieren: Blickt man einzig auf die größeren Wahrheiten dahinter, verpasst man die subtilen Ausnahmen. Andererseits will Sex Revolts aber auch gar nicht die komplette Rockgeschichte erzählen, weder des gleichnamigen Genres noch der dazugehörigen Kultur. Rock beinhaltet mehr als nur die Psychodynamik von Genderfragen: Da gibt es die elektrische Gitarre, die Tänze, das Konzept von Adoleszenz, die Kollision regionaler amerikanischer Musiktraditionen mit den Massenmedien, Drogen, Aufnahmetechnik und und und …
Aus diesem Grund berücksichtigt unsere Analyse der besprochenen Künstlerinnen und Künstler nicht alles, was an ihrem Werk oder ihrer Person interessant, wertvoll oder einzigartig ist. Wir versuchen uns an keinen definitiven Statements über das Werk und die Karrieren von, sagen wir, Nick Cave, Van Morrison oder Joni Mitchell. Das Werk wirklich origineller Künstlerpersönlichkeiten funktioniert über eine Interaktion unterschiedlicher Faktoren; ihre Kunst ist ein Schauplatz, an dem verschiedene historische Kräfte aufeinanderprallen und sich vermischen. In diesem Buch betrachten wir diese Interpretinnen und Interpreten aus einer spezifischen Perspektive – durch die Augen des Gender-Diskurses – und die hier präsentierten Ergebnisse entstehen aus dieser Perspektive heraus. Diese Herangehensweise bedeutet auch, dass viele wichtige oder einzigartige Figuren der Rockgeschichte nur flüchtig oder gar nicht vorkommen, einfach weil diese an Genderfragen orientierte Lesart zu keinen aufschlussreichen Erkenntnissen über sie geführt hat. Darum fehlen R.E.M., The Band, The Jam oder [hier eigenes Beispiel einfügen], obwohl sie wichtig, einflussreich oder auf andere Weise aufregend waren. Die Gender-Problematik findet sich einfach nicht im Kern dessen, was sie taten. Aus ähnlichen Gründen wird nicht jede wichtige Musikerin analysiert – es fehlt etwa Debbie Harry von Blondie, um nur ein Beispiel zu nennen –, weil wir uns auf Künstlerinnen konzentriert haben, bei deren Songs es sich um besonders aussagekräftige Darstellungen von Gender handelt.
Den Fokus haben wir stark auf Lyrics und Image gelegt. Daneben spielen verbale wie textliche Statements von Musikerinnen und Musikern in Interviews und anderen Printtexten eine Rolle, insofern sie entweder Licht auf ihre Musik werfen oder ihre Einstellung und Weltanschauung offenlegen. Das Buch betrachtet auch die Musik selbst, dabei geht es uns aber nicht um eine musikwissenschaftliche Perspektive oder technische Aspekte (das läge außerhalb unserer Möglichkeiten), sondern darum, wie sich die Musik anfühlt, was für eine Stimmung sie erzeugt. Wir nutzen unsere eigenen körperlichen wie emotionalen Reaktionen als einen Weg, die Sehnsüchte, Aggressionen, Gelüste und Feindseligkeiten innerhalb der Musik zu verstehen. Dabei ist es egal, ob es gerade um The Stooges, U2, Can, Cocteau Twins, The Slits oder Rickie Lee Jones geht.
Wenn es etwas an der Herangehensweise von Sex Revolts gibt, worauf wir immer noch stolz sind, dann, dass wir »männlich« als Gender behandeln statt als neutrale, einfach vorausgesetzte Perspektive. Viele glauben, dass feministische Rockkritik bedeutet, ein Buch über »Frauen in der Rockmusik« zu schreiben. Dass die ersten drei Fünftel von Sex Revolts sich mit männlichen Darstellungen von Maskulinität und Femininität auseinandersetzen, sorgte daher für einige überraschte Gesichter. Das Buch handelt von »Repräsentation« in einem ganz bestimmten Sinne des Wortes: Es geht um Images, Ideen, Stilmittel, Rollen, Gesten und Attitüden, um den Ausdruck von Sehnsucht, Furcht und Ekel. Es handelt nicht von Repräsentation im Sinne von Ungleichheit: Unterschiede, was die Stellung von Frauen in den Machtstrukturen der Musikindustrie angeht oder wie Künstlerinnen in der Musikpresse besprochen werden. Weder verfolgen wir den Kampf von Frauen in einem von Männern dominierten Markt, noch verbringen wir viel Zeit damit, gegen männliches Fehlverhalten und Missbrauch zu protestieren. Solche Geschichten gibt es ohne Ende, manche davon sind schon gut dokumentiert, anderen steht ihr Termin im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung noch bevor (Rock und Pop hatten ihr #MeToo noch nicht wirklich). Unser Fokus liegt auf unserem eigentlichen Thema: Ideologie und Affekt – Misogynie und Maskulinismus in den Lyrics (und verschlüsselt im Sound). Das, was im wirklichen Leben passierte, war für uns eher sekundär. Wo immer Macht und Ruhm existieren, gibt es Menschen, die ihre Position ausnutzen, und ein soziales Umfeld, das solches Verhalten nicht nur ermöglicht, sondern auch dabei hilft, es zu verdecken. Ein Blick auf die Geschichte der Unterhaltungsbranche genügt: Nicht selten legen Künstler, deren Werk sanft und romantisch ist, das schlimmste Verhalten an den Tag.
Dennoch hat Sex Revolts – wie jedes Buch – seine blinden (oder tauben) Flecke, die wir heute anders angehen würden. Wir müssten uns dem Thema mit einem umfangreicheren Verständnis von Gender widmen. So breitgefächert, wie das Buch im Bezug auf Musik und künstlerischen Ausdruck auch ist, es beschränkt sich auf heterosexuelle Dynamik. Die Wahrheit ist: Wir fühlten uns nicht in der Lage, die geheime Geschichte von LGBTQ-Strömungen in der Rockgeschichte anzugehen. Diese müssten andere erzählen. 2018 jedoch, in einer Zeit also, in der der Diskurs über Transgeschlechtlichkeit und Gender-Nonkonformität so dringlich erscheint, bräuchte es eine gleichwertige Analyse des erweiterten Spektrums von sexueller Uneindeutigkeit und der Subversion von Identität. Tatsächlich beschäftigen wir uns im mittleren Teil des Buches mit Androgynie als ambivalentem Phänomen innerhalb heterosexueller Maskulinität. Sie ist gleichzeitig progressiv und befreiend, aber auch zügellos und »dekadent«. Heute würden wir uns sicherlich neue Gedanken über die Bedeutung von »Macha«-Tomboy-Persönlichkeiten wie denen von Suzi Quatro und Joan Jett machen, die sich als wegweisender herausgestellt haben, als wir in den frühen 1990ern annahmen.
Ein anderer Aspekt, den wir noch einmal überdenken würden, ist die Art und Weise, wie Sex Revolts sich der allgemeinen feministischen Tendenz anschließt, das Patriarchat zu kritisieren, indem maskulinen Verhaltensweisen ihre Berechtigung abgesprochen wird. So entsteht eine Lücke, in der faktisch fast jeder Ausdruck von Männlichkeit aus diesem oder jenem Grund problematisch wird. Bedeutet das, dass es keine positiven Bilder maskuliner Stärke oder Energie geben kann? Wo in der Geschichte populärer Musik gibt es Bilder von Heroismus und Autorität, die berechtigt und inspirierend sind? Der aktuelle Ausbruch von Misogynie in der politischen Kultur kann nicht nur auf einen antifeministischen Backlash zurückgeführt werden. Er kommt auch aus der Verwirrung, der psychischen Not und Anomie junger Männer, die nicht wissen, wie sie sich innerhalb einer Kultur bewegen sollen, die der Zurschaustellung weiblicher Stärke und Größe (Beyoncé) applaudiert, männliche Heldenbilder aber größtenteils in die entgegengesetzten Welten von Gesetzeshütern und Gesetzlosen verschiebt.
Der Großteil dieser Neuauflage von Sex Revolts entspricht dem Original von 1995. Ausnahmen sind Korrekturen einer vernachlässigbaren Anzahl an Fehlern, ein paar Änderungen hinsichtlich einiger Formulierungen, mit denen wir nicht mehr glücklich waren, und hie und da wurden ein paar Informationen hinzugefügt, die unsere Argumentation untermauern oder erweitern, ohne dass der Lesefluss darunter leiden würde.
Das Kapitel »Critical Bias«, das wir 1995 gestrichen haben, wurde wieder eingefügt. Damals musste es einerseits aus Platzgründen weichen, aber auch, weil es sich mehr wie eine Zusammenfassung der Ideen anderer anfühlte und nicht wie eine Eigenleistung. Heute jedoch scheint es uns aus genau diesem Grund ein nützlicher Beitrag zum Buch zu sein: Es sieht sich verschiedene ideologische Stränge innerhalb des Musikjournalismus an, deren Auseinandersetzungen mit Bedeutung und Zweck von Musik oft selbst auf gegenderten Annahmen oder schlicht maskulinistischer Voreingenommenheit basieren. Auf gewisse Weise nimmt dieses Kapitel die Debatte von Rockismus vs. Poptimismus vorweg, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts von der damals neuen Blogosphäre aus bis in die New York Times wütete.
Ein komplett neues Buch zu schreiben, das all die beeindruckenden Künstlerinnen (Missy Elliott, Beyoncé, Lady Gaga, Janelle Monáe, M.I.A., Nicki Minaj, Mica Levi, Grimes, Kesha und viele mehr) beinhaltet, die seit dem Erscheinen von Sex Revolts auf der Bildfläche erschienen sind, wäre eine Aufgabe, die wir im Moment nicht bewältigen könnten. Dasselbe gilt für eine Erweiterung der Kritik in den ersten beiden Teilen des Buches auf passende Künstler wie Odd Future, Animal Collective, Ariel Pink, Kanye West etc. Allerdings ist es erwähnenswert, dass nicht nur der Geist der Rockrebellion, sondern auch das Wort »Rockstar« selbst seit ein paar Jahren im HipHop eine neue Heimat gefunden haben: Future nennt sich selbst den »Future Hendrix«, Rae Sremmurds »Black Beatles« und Post Malones »Rockstar« waren beide auf Platz eins der Billboard-Charts. Im gegenwärtigen Rap – vor allem im Subgenre Trap – leben die Ungezähmtheit und der sich selbst glorifizierende Exzess des Classic Rock weiter (im Gegensatz zu moderner Gitarrenmusik, einer insgesamt ziemlich zahmen Angelegenheit). Leider geht diese aufregende Grandiosität auch mit dem alten rockistischen Rollenspiel aus Machotum und Misogynie einher.
Viele der wichtigen Künstler – weiblich wie männlich –, die in den vergangenen 25 Jahren aufgetaucht sind, passen sehr gut in das Muster und die Kategorien von Sex Revolts. Zur Erweiterung haben wir darum eine Auswahl von Artikeln angefügt, die wir in den letzten zwei Dekaden über bestimmte Künstlerinnen und Künstler verfasst haben. Manche – wie Kathleen Hanna – kamen schon im ursprünglichen Buch vor, doch ihre Porträts gewinnen in diesen Artikeln an Tiefe und Schärfe. Andere Texte behandeln neue, aufstrebende Künstlerinnen und Künstler.
Unser Dank gilt allen beim Ventil Verlag, unserem kompetenten und gewissenhaften Übersetzer Jan-Niklas Jäger, Christina Mohr dafür, dass sie den deutschen Lobgesang auf das Buch angeführt hat, und euch, den Leserinnen und Lesern.
Joy Press und Simon Reynolds, April 2018
1Ein Buch, das Sex Revolts als Quelle nennt.
2Als Yippies wurden Anhänger der anarchistischen, Ende der 1960er in den USA aktiven Youth International Party (YIP) bezeichnet. Anm. d. Ü.
3Die Umschreibung »libidinöse Ökonomie« bezieht sich auf das gleichnamige Buch von Jean-François Lyotard. Vgl. Jean-François Lyotard: Libidinöse Ökonomie. Berlin/Zürich: Diaphanes 2007.
4Männer, die nicht wissen, wer sie sind oder wie sie sich verhalten sollen in einer Zeit, in der körperlich fordernde Arbeit von Kopfarbeit – dem Verarbeiten von Informationen – verdrängt wurde und in der die meisten Männer nicht beim Militär dienen müssen.