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BORN TO GO: DER MOTORIK-BEAT

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»Bewegung ist dem Stillstand immer vorzuziehen. Wenn er in Bewegung ist, hat der Mann eine Chance […]. Seine Instinkte sind schnell, […] er hat ein etwas besseres Nervensystem, kann immer weiter gehen und schneller werden …«

Norman Mailer, »Der weiße Neger. Einige Gedanken über den Hipster«, 1957

Die Vorstellung von Rock als Odyssee oder Flucht entwickelte sich nach und nach zur Sehnsucht nach reiner Geschwindigkeit – das Tempo selbst als Garant für Freiheit. Sich zu bewegen, heißt, weder hier noch dort zu sein, sich stets im Wandel zu befinden. Die Beats sahen den Ansturm und die Durchdringung durch Stimuli als Methode, mentale Abwehrsysteme aufzubrechen und die Seele der ozeanischen Verbindung mit der Welt zu öffnen. Steppenwolfs »Born to Be Wild« ist die klassische Rock-’n’-Roll-Version dieser Hals-über-Kopf-Mentalität. Der Straßenkrieger stößt nach vorne (»explode into space«), wird aber in einer »love embrace« von der Welt umfasst: Er dringt ein und wird durchdrungen. Der englische Dichter Lord Byron war der Ansicht, dass Beweglichkeit in Männern eine »weibliche« Aufnahmefähigkeit weckt, »maximale Empfänglichkeit für unmittelbare Eindrücke«, die ihnen eine Art mentale Ganzheit oder Androgynität ermöglichen.

In Camille Paglias Die Masken der Sexualität wirkt Byron wie ein seelischer Wellenreiter, dessen flotter, flüssiger Stil die Sehnsucht verkörpert, sich nie unterkriegen oder festsetzen zu lassen. Paglia sieht eine Verbindung zwischen diesem Byron’schen Hinwegstreifen und der amerikanischen »born to run«-Empfindung: »Autofahren ist für Amerika das Erhabene, zu dem es in Europa keine direkte Entsprechung gibt.« Es stimmt auf jeden Fall, dass Auto-Hymnen durch amerikanischen Rock ’n’ Roll geprägt wurden, durch Chuck Berrys »No Particular Place to Go« und die sonnengebräunten Oden der Beach Boys ans Surfen und Herumfahren. Und doch kann man sagen, dass diese Ästhetik erst in Europa durch den Motorik-Sound wirklich aufblühte – durch Bands wie Kraftwerk und Neu!, deren Musik den stets pulsierenden Rhythmus eines Fahrzeugs in Bewegung simulierte.

Seine Wurzeln hat dieser Sound wahrscheinlich in »L.A. Woman« von den Doors, seinem motorischen Rhythmus und seinen verschwommenen Bildern, die Los Angeles im Licht einer urbanen Wildnis zeichnen. Jim Morrison stellt sich die Stadt als einsame Frau vor, die Liebe seines Lebens, und ist von dieser Vision so verzückt, dass er eine Erektion bekommt (»Mr. Mojo risin’«). »Roadrunner« von Jonathan Richman and the Modern Lovers ist ein Proto-Punk-Tribut an die neonfarbene Schönheit der modernen Welt, ein Ständchen für die Autobahn, die als »my girlfriend« bezeichnet wird. Dann waren da noch Hawkwind, die den Biker-Posen von Steppenwolf auf Space-Rock(et)-Mantras wie »Silver Machine« und »Born to Go« eine kosmische Wendung gaben.

Die deutschen Bands Kraftwerk und Neu! führten diese ekstatische Überhöhung der Fortbewegung an ihr Extrem (passenderweise – schließlich ist die Autobahn eine deutsche Erfindung). Wie Lester Bangs anmerkt, wurde Speed, d. h. Methylamphetamin, von Deutschen erfunden, also dasjenige »Werkzeug«, das »menschliche Wesen der Maschinenhaftigkeit am nächsten brachte«. Kraftwerks »Autobahn« (1974), das den beständigen Beat von »L.A. Woman« und »Roadrunner« sogar noch weiter zu einer perfekten, monotonen Gleichmäßigkeit abflachte, war eine Hymne auf die Ruhe und Lässigkeit des Autofahrens – einem anmutigen Zustand, in der Welt zu Hause, stets zwischen einem Zuhause und dem anderen, nie ortsgebunden. Kraftwerk mochten The Velvet Underground und The Stooges (die beide Trance-Rock-Mantras gespielt und Unmengen an Speed konsumiert hatten), aber ihr größter Einfluss aus dem Bereich der Rockmusik waren The Beach Boys, die vielmehr für die apollinische Seite des Rock standen (anstelle der dionysischen): heiter, die Sonne anbetend, klassische Strukturen, besinnlich.

In der Kunst steht die apollinische Tendenz für klare Formen und Eleganz und grenzt sich von der Dunkelheit und Unreinlichkeit der dionysischen ab, von der animalischen Seite der Menschheit. Von Kraftwerks Krautrock-Kollegen Anfang der 1970er waren es Neu!, die die apollinische Tendenz am weitesten trieben. Ihre Musik war pure Motorik: gleichmäßige, unsynkopierte Beats wie aus einem Uhrwerk, keine Spur von Unberechenbarkeit oder Ungeschliffenheit und ein irisierender, transzendentaler Gitarren-Sound. Diese hauptsächlich instrumentale Rockmusik beschwor ein Gefühl reibungsloser Fortbewegung in ein Reich immer weiter zunehmender Verwunderung. Schon der Bandname hat etwas von Wiedergeburt. Die Musik von Neu! ist schnell, luftig und leuchtet, als sei sie von der Sonne gesegnet worden. So ließen sie das schattenhafte Dunkel der »dunklen Seite« der Psyche hinter sich und flogen, wie Ikarus, der Sonne entgegen. Obwohl ihre meisten Songs Bewegung oder Aufstieg evozierten, suchte »Leb’ wohl« (von Neu! ’75) sein Bild des erfüllten Glücks im Ozean: Der nach Luft schnappende Gesang steckt voller Ehrfurcht, nonchalantes Pfeifen gesellt sich zu ineinander zusammenfallenden Wellen und dieses einzige Mal vermittelt die Musik einen Sinn des Zur-Ruhe-Kommens anstelle von Antrieb. Nach dieser Meeresidylle legt das Album mit dem ausgeschmückten Nebel von »Hero« wieder einen Zahn zu. Der zum Ruhm verpflichtete Protagonist des Stückes rast Kopf voraus in das Nichts. Immobilität und Geschwindigkeit sind die beiden Extreme der Suche nach dem Nirwana.

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