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DIE NEUEN SPEED-FREAKS

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Anfang der 1990er hatte Speed ein Comeback, als britische Jugendliche einen Weg aus der zunehmend bedrückenderen Realität suchten. Diese Subkultur hieß ’ardkore oder Hardcore-Techno (brutale, motorische Tanzmusik mit entfernter Verwandtschaft zu Kraftwerk). Die beliebteste Droge der Ravekultur, Ecstasy, wurde mehr und mehr mit Amphetamin verunreinigt oder von falschen Ecstasy-Tabletten aus Speed und LSD verdrängt; die Geschwindigkeit der Musik nahm zu. House hatte in etwa 120 bpm, ’ardkore erreichte ein Tempo von 140, 150, 160 bpm und darüber hinaus. Diese Entwicklung ging mit der Entstehung einer neuen Subkultur von Speed-Freaks einher, die die Euphorie des Ravens mit der ungebremsten Wut des Punk kombinierte.

Amphetamin fördert unsexuelle Konzentration und den Fokus auf sich selbst. Bei Überdosierung kann es zu einer vorübergehenden Psychose kommen. Vom hoch entflammbaren Narzissmus von Mod und Northern Soul zu Prunk und Paranoia von Punk (im Sex-Pistols-Song »Seventeen« sang Johnny Rotten davon, dass Speed alles sei, was er brauche, und ihn geistesabwesend selbstgenügsam mache) hatte von Amphetamin beeinflusste Rockmusik eine solipsistische, größenwahnsinnige Aura. The Jesus and Mary Chain fingen in »The Living End« das psychopathische Element der Droge ein: »There’s nothing else but me«, erklärt der selbstverliebte Motorradfahrer. Lester Grinspoon und Peter Hedblom schreiben in ihrem Buch über Amphetamin-Missbrauch, The Speed Culture, über einen Speed-Freak, der seine Sucht als »Liebesaffäre« bezeichnete und von sich selbst im Plural sprach. In einem späteren Kapitel werden wir dieses »königliche Wir« mit dem »königlichen Nirwana« (Paul Virilio) verknüpfen, das Drogen wie Heroin und Speed versprechen. Der Hinweis möge genügen, dass, wenn Robin Morgan recht hat und Abkopplung wirklich »der Geist des Patriarchats« ist, Speed die ultimative patriarchale Droge ist.

Die rasende Intensität, die Hardcore-Techno manchmal erreicht, ist purer Punk. Der Cyber-Wagner-Bombast des Tracks »The Dominator« von Human Resource mündet in einen psychotischen Rap, der seinen Höhepunkt mit den Zeilen »There is no other / I wanna kiss myself« erreicht. Im ’ardkore bietet der Rausch eine Art autistische Glückseligkeit. Die Musik wogt blind, ihre Beschleunigung ins Nichts wird von den MCs durch das Skandieren intransitiver Schlagworte eingefangen (»let’s go«, »’ere we go«, »rush!«, »buzzing«, »’ardkore’s firing«). Wie in einer Achterbahn gleicht die Musik einem Persönlichkeitstest durch eine ultraintensive Erfahrung. Das Individuum wird durch Panik (in ihrer ursprünglichen griechischen Bedeutung, einem Transport von Ekstase über die Furcht hinaus) an den Rand eines Blackouts getrieben.

Paul Virilio, der große Speed-Theoretiker, erklärt, Geschwindigkeit, »schnelles Reisen, beschleunigter Transport von Personen Zeichen und Dingen […] entreißen das Subjekt immer wieder seinem zeit-räumlichen Kontext.«. Man ist fort, völlig weggetreten. Es lässt sich eine Linie vom Beat-Roman Go von John Clellon Holmes über Marlon Brandos Biker in Der Wilde (der erklärt: »Wir gehen nirgendwo hin. Wir gehen einfach.«) bis zum Dancefloor-Hit »Go« des Techno-Senkrechtstarters Moby ziehen. Von der Beatnik-Odyssee zum ballistischen Kick der bpm-Kultur: Das Ziel ist das Nirwana.

Innerhalb der Ravekultur wurde das Aufkommen von ’ardkore als Entwicklung hin zu einer maskulineren Ästhetik wahrgenommen (härter, schneller, brutaler, weniger Melodien). Manche hielten ’ardkore für eine Rückentwicklung weg von der vielseitigen Sinnlichkeit früherer Ravemusik, mit einer Invasion der Szene durch Horden rauflustiger Spinner aus der Arbeiterklasse. Wenn von ’ardkore als »neuem Heavy Metal« die Rede war, war das kein Kompliment. Doch die Erhabenheit von purer Geschwindigkeit entspricht einer Auflösung des Egos genauso sehr, wie sie eine hypermaskuline Behauptung des Selbst ist. Das Verlangen nach Ekstase und das nach Vereinigung finden in einem Gefühl zusammen, das einem tobenden Ozean gleicht. In der chaotischen Strömung des ’ardkore wirst du androgyn.

In den 1960ern benutzte man das Wort »Raver«, um hysterische/nymphomane Groupies im Teenager-Alter zu beschreiben. Ravemusik führt dem männlichen Körper eine hysterische Wahrnehmung zu. In der Ravekultur geht es ganz und gar um Klitorisneid. Provozierte der multiorgastische Disco-Sound von Donna Summers »Love to Love You Baby« noch männliche Lust, so beschwören die beschleunigten, euphorischen weiblichen Vocals des Techno eine hyperreale Verzückung, mit der sich (männliche) Raver identifizieren und der sie nacheifern. Damit schauen sie sich etwas von der Schwulenkultur ab, wo sich die Männer immer mit der Ekstase der Disco-Diva identifizierten. Durch House und Techno ist schwule Erotik in das körperliche Bewusstsein heterosexueller Jungs aus der Arbeiterklasse vorgedrungen, wo er in ihrem homosozialen Jungengehabe eine perfekte Heimat findet. Wie bei Mod und Northern Soul auch, ist die Asexualität der Ravekultur bemerkenswert: Die Tänzerinnen und Tänzer tanzen für den Kick des Tanzes an sich, nicht um mögliche Sexualpartner anzulocken. Diese »Androgynität« könnte in Wirklichkeit ein unbewusster Versuch sein, sich weiblicher Potenz zu bemächtigen und so gänzlich ohne Frauen auszukommen. In Holland gibt es einen ultraschnellen Gegenpart zum britischen ’ardkore namens Gabberhouse7, in dem die Tracks Geschwindigkeiten von bis zu suizidalen 200 bpm erreichen. Einer der größten Gabber-Hits stammte von einer Band namens Sperminator. Der simple Titel: »No Woman Allowed«.

1Charles Atlas gilt als Erfinder des Bodybuildings. Laut eigener Aussage fing er an, seinen Körper zu trainieren, nachdem er während eines Dates am Strand von einem Schläger Sand ins Gesicht getreten bekam und so vor dem Mädchen, mit dem er aus war, blamiert wurde. Diese Geschichte ist seitdem vielfach parodiert worden. Anm. d. Ü.

2Zitat aus Baudelaires »My Heart Laid Bare«. Die deutsche Entsprechung lautet in etwa: »Das große Leiden, der Horror des eigenen Zuhauses«. Anm. d. Ü.

3Dt.: »Haushaltsnebel«. Anm. d. Ü.

4Eine Anspielung auf das englische Sprichwort »A rolling stone gathers no moss«, dt.: »Ein rollender Stein setzt kein Moos an«. Anm. d. Ü.

5Die deutsche Entsprechung von »black and blue« – im englischen Original doppeldeutig bezogen auf Black Music und Blue Notes – wäre »grün und blau«, wie in »jemanden grün und blau schlagen«. Anm. d. Ü.

6Sie nennt John Sinclair, den wegen Besitzes von Marihuana zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Aktivisten aus Michigan, der als Manager von MC5 und Mitbegründer der White Panther Party bekannt wurde, als klassisches Beispiel.

7»Gabber« heißt so viel wie »Kumpel«.

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