Читать книгу Josh & Emma Gesamtausgabe - Sina Müller - Страница 19
Marc & Lisa
ОглавлениеZurückzubleiben ist schwerer, als selbst fortzugehen. Ich tat mein Bestes, um den bohrenden Stachel der Eifersucht zu ignorieren und unterdrückte die nagenden Fragen, wie vielen umwerfenden Mädchen Joshua in der Zwischenzeit begegnet war. Ich liebte ihn. Und ich vertraute ihm. Aber Livs Worte hallten unaufhörlich in meinem Hinterkopf. Vielleicht gehörte es zur Liebe dazu, dass man Angst hatte, den anderen zu verlieren? Um meine Sehnsucht zu betäuben, lernte ich wie eine Wahnsinnige und unterbrach meinen Marathon nur für lebensnotwendige Dinge wie Amblish auf Facebook zu folgen oder Twitternachrichten zu lesen. Ich fand fast schon einen perversen Gefallen daran, die miserablen Amateuraufnahmen sämtlicher Live-Konzerte des letzten Jahres anzuschauen. Und alles nur, um mich Joshua ein Stückchen näher zu fühlen.
Das Abi hing wie eine nahende Gewitterfront über meinem Alltag. Noch konnte ich die Anspannung verdrängen. Doch bald würde das Unheil über mich hereinbrechen. Nur gut, dass mir noch eine Woche der Osterferien blieb. Die Ruhe vor dem Sturm.
Immerhin ließ mich meine Mutter in Frieden. Selbst über die Ostertage erwähnte sie Joshua mit keiner Silbe. Ob sie das Interview gelesen hatte, wusste ich nicht. Sie behandelte mich mit ihrer üblichen zuckersüßen Überheblichkeit, und irgendwie war ich ihr sogar dankbar dafür.
Ich saß gerade an einer kniffligen Matheaufgabe, als ich ein drängelndes Klopfen an meiner Haustür vernahm. Das musste Liv sein. Sie wollte heute zum Lernen kommen.
»Du? So früh hier?«, begrüßte ich sie, während sie mir Küsschen zuhauchte. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und sie schaffte es kaum, ihre Jacke auszuziehen.
»Du errätst nicht, was gestern Abend passiert ist.« Sie platzte schier vor Spannung. Ratlos zog ich die Schultern hoch und machte mich auf den Weg zu meiner Kaffeemaschine. Ich brauchte Koffein, um meinen müden Körper auf Betriebstemperatur zu bringen.
»Gestern Abend waren meine Eltern ja bei Freunden, und ich musste auf Tim aufpassen ...« War sie so früh aufgekreuzt, um mir von Tims ersten Gehversuchen zu berichten? Ich zog fragend die Schultern hoch, um sie zum Weiterreden zu animieren. »Und als ich gerade alles für einen gemütlichen Fernsehabend gerichtet hatte, klingelte es an der Haustür.« Wieder machte sie eine Pause und strahlte aus jeder Pore ihres elfengleichen Gesichtes.
»Ja, und wer war’s? Mach’s nicht so spannend«, drängelte ich, nun hellhörig geworden. Es würde doch nicht ...
»Lukas. Er stand einfach da und sagte kein Wort. Oh Emma, es war so romantisch ...« Sie schaute mich verträumt an, dachte aber nicht daran, weiterzureden.
»Und dann?«
»Er stand da und hat mich angelächelt. Dann kam er auf mich zu, legte eine Hand an meine Wange und ohne ein Wort zu sagen, hat er mich geküsst. Es war so … so … Mir ist noch immer irgendwie schwindelig, wenn ich daran denke.« Sie sah so glücklich aus. Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm.
»Du musst mir alles erzählen. Was habt ihr dann gemacht? Was hat er gesagt? Erzähl!« Es gab jetzt wichtigere Themen, als irgendwelche Gleichungen zu lösen. Meine beste Freundin war verliebt. Zwar in einen Arsch und zu einem miserablen Zeitpunkt, aber das war erst einmal nebensächlich.
Während ich meinen Kaffee trankt, erzählte Liv in allen Details von ihrem Abend mit Lukas. Mit meinem Sandkastenfeind aus Kindheitstagen hatte das allerdings wenig gemeinsam. Hatte ich mich so in ihm getäuscht, und er hatte sich in den letzten Jahren tatsächlich geändert?
***
Meine Nervosität stieg im Laufe des Tages, und es fiel mir schwer, mich aufs Lernen zu konzentrieren. Liv nörgelte an mir rum und seufzte, als ich wieder die Formeln verwechselte und mich in einer Gleichung verrannte. Aber heute würde ich Joshua endlich wiedersehen, da war mir Mathe ziemlich schnuppe. Vor uns lag ein entspannter Abend. Wir waren bei Marc und Lisa zum Essen eingeladen, und ich hoffte sehr, dass wir uns bald abseilen konnten. Aber davor stand erstmal das Zusammentreffen mit meiner Mom auf dem Plan. Wie gerne hätte ich das schon hinter mir.
Am späten Nachmittag war nicht mehr an Lernen zu denken, und so warf ich Liv schließlich förmlich raus. Bevor Joshua kam, wollte ich noch duschen und mich in Ruhe auf seine erste Begegnung mit meinem Drachen von Mutter vorbereiten.
Ich stieg gerade aus der Dusche, als ich ein Klopfen hörte. Ich stöhnte genervt. Liv war manchmal zu vergesslich. Ich trocknete mich behelfsmäßig ab und wickelte mich in ein Badetuch. Mit nassen Füssen stakste ich zur Tür, öffnete sie und lief wieder ins Badezimmer.
»Hast du schon wieder was vergessen?«, rief ich um die Ecke und begann die Haare trocken zu rubbeln.
»Äh, nicht direkt«, hörte ich die schönste Stimme der Welt sagen. Mein Puls schnellte in die Höhe, und ich erstarrte zur Salzsäule. Als ich mich wieder bewegen konnte, steckte ich den Kopf durch die Tür und linste um die Ecke. Und da stand er, kess an den Rahmen der Eingangstür gelehnt. In seiner Cordhose, den Boots und dem Wollpulli sah er mal wieder aus, als käme er direkt von einem Fotoshooting. Ich starrte ihn an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Oh, äh ... Sorry. Was machst du denn schon hier? Ich dachte, du kommst erst in einer Stunde«, stotterte ich und schlang das Badetuch fester um mich.
»Soll ich später noch mal kommen?«, fragte Joshua mit einem zweideutigen Grinsen auf den Lippen. Ich ging zwei Schritte auf ihn zu, dann fiel mir ein, dass ich außer einem Badetuch nichts anhatte und drehte um. Wie albern, er war mein Freund, also bremste ich wieder ab. Ich war überfordert. Joshua lachte.
»Na, komm schon her«, sagte er sanft und breitete die Arme aus. Ich tippelte auf Zehenspitzen und mit klopfendem Herzen zu ihm. Das Badetuch fest umklammert stand ich vor ihm. Ich war so durcheinander. Aber bevor ich weiter nachdenken konnte, hatte Joshua schon seine Arme um mich gelegt, und alles war gut. Ich schmiegte meinen nassen Kopf an seine Brust und hielt ihn fest. Ich wollte einfach nur spüren, dass er da war. Joshua presste seine Wange auf meine nassen Haare und drückte mich an sich. Nach einer halben Ewigkeit lockerte ich die Umarmung und blickte in seine Augen.
»Hallo«, sagte ich glücklich und lächelte. Joshua küsste mich zur Antwort, und endlich waren all die Stachel und Schatten verschwunden, die mich in den letzten Tagen gepiesackt hatten.
Nachdem ich mich im Eiltempo angezogen und mir die Haare geföhnt hatte, setzte ich mich zu Joshua aufs Bett. Meine Nervosität hatte sich noch immer nicht ganz gelegt. Die ersten Minuten, die erste Stunde war er mir auf seltsame Art so fremd, und wir mussten uns erst wieder vertraut werden. Ich betrachtete sein Gesicht, über das ein amüsiertes Lächeln huschte. Er war offensichtlich gut gelaunt. Ich strich über seine Grübchen und kuschelte mich an ihn. Aber Joshua hatte offensichtlich anderes im Sinn und schob mich sanft von sich.
»Mach mal deine Anlage an. Ich möchte dir was vorspielen.« Er kramte in seiner Tasche.
»Oh, ich weiß nicht, ob du mit der Anlage zurechtkommst.« Der Player war schon etwas in die Jahre gekommen, und Joshua war sicher Besseres gewohnt. Als er sie inspizierte, hielt sie seiner Prüfung offensichtlich nicht stand.
»Okay, wir machen es anders.« Und noch bevor ich protestieren konnte, setzte er mir seine Kopfhörer auf. Ich wollte gerade etwas sagen, aber er legte mir den Finger auf die Lippen.
Ich hörte eine Gitarrenmelodie, bei der so gar keine Melancholie mitschwang. Sie war zuckersüß und zauberte sofort das Bild einer Strandparty in einer lauen Sommernacht in meinen Kopf. Gute-Laune-Rhythmen wechselten sich mit einer fröhlichen Gitarrenmelodie. Dazu seine fröhliche Stimme. Ungewohnt. Joshua beobachtete mich unsicher, und man konnte ihm ansehen, dass er sich auf neuen Pfaden bewegte. Nervös wartete er auf mein Urteil. Ich versuchte ein Lächeln zu unterdrücken und setzte ein Pokergesicht auf. Allerdings wusste ich, dass mein Gesicht ein offenes Buch war, und jeder, der mich ein bisschen kannte, konnte darin ungeniert lesen. Als der Ausflug an den Sommer-Sonne-Strand zu Ende war, setzte ich die Kopfhörer ab und räusperte mich.
»Von wem ist das? Von einem Freund von dir?«, foppte ich ihn. Er verzog das Gesicht und packte das iPhone und die Kopfhörer in seine Tasche. Ich zog die Augenbraue hoch. Ich hätte erwartet, dass er mehr Humor hatte, aber bevor ich mich versah, lag ich rücklings auf dem Bett und Joshua versuchte, mit einem Kissen nach mir zu werfen. Er lachte.
»Ich dachte, inzwischen erkennst du meine Sachen«, brachte er lachend hervor, während ich versuchte, mich gegen seine Kissenattacken zu wehren.
»Tue ich doch. Aber das Stück kann nicht von dir sein. Es ist viel zu fröhlich.« Ich sagte es zwar scherzhaft, meinte es aber ernst. Joshuas Songs waren unglaublich einfühlsam. Sie berührten einen ganz tief im Inneren und konnten so manchen sogar zum Weinen bringen. Aber sie waren eben keine Sommer-Sonne-Gute-Laune-Hits, die wie Zuckerwatte in den Ohren kleben blieben.
Joshua nahm es sportlich und zuckte mit den Schultern. »Ich bin glücklich, das ist alles. Aber vielleicht bin ich dazu verdammt, mich Scheiße zu fühlen, um einen Hit zu schreiben, wer weiß.« Ich setzte mich auf und strich die Haare aus dem Gesicht.
»Hey, wer hat gesagt, dass es kein Hit wird?«, sagte ich sanft und küsste ihn. »Ich mag es, wenn du fröhliche Sachen schreibst.« Unten hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Ich löste mich von Joshua und sah ihn zerknirscht an.
»Jetzt kommt der schwierige Teil.« Joshua hob fragend die Augenbrauen. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten und sich die Muskeln unwillkürlich anspannten.
»Meine Mom will dich kennenlernen.« Ich sah Joshua entschuldigend an. Aber er strahlte und setzte sich ebenfalls auf.
»Klar, komm, dann gehen wir runter.« Er ahnte ja nicht, was ihn erwartete. Ich legte den Arm um ihn und versuchte, ihn darauf vorzubereiten.
»Sie ist ein Drache«, startete ich.
»Ist sie nicht. Sie ist deine Mutter«, sagte Joshua sanft. Als ich ihn noch immer nicht aufstehen ließ, fragte er: »Was ist los?«
»Wir haben uns letzte Woche ziemlich gestritten«, sagte ich leise.
»Wegen mir?«, fragte Joshua ungläubig. Ich nickte und atmete tief ein. »Ach, komm, das kriege ich schon hin.« Er klang so zuversichtlich.
»Hör zu. Du musst ein bisschen was über meine Mutter wissen.«
»Schieß los.« Joshua legte den Kopf schief.
»Sie … sie ist etwas speziell. Eigentlich ist sie recht tolerant. Aber sie steckt Leute gerne in eine Schublade. Keine Ahnung, vielleicht muss sie das in ihrem Job so machen, wer weiß ...«
»Alles klar. Und ich stecke in der Schublade Musiker?«, kombinierte Joshua. Ich verzog das Gesicht.
»Yep. Von Musikern hält sich nicht gerade viel.« Von ihren Verdächtigungen, Joshua könnte ein Junkie sein, erzählte ich lieber nichts.
»Weiß sie ...« Er räusperte sich. »Weiß sie, wer ich bin?« Ihm schien die Frage peinlich zu sein.
»Ich hab ihr nur die letzte Bravo auf den Tisch geknallt und gemeint, sie soll sich selbst informieren. Ob sie es getan hat, weiß ich nicht. Wir haben seither nicht wirklich miteinander gesprochen«, gab ich zerknirscht zu. Vielleicht hätte ich mich mehr für Joshua einsetzen sollen.
»Na komm, das wird schon nicht so schlimm werden«, sagte er aufmunternd und zog mich vom Bett hoch. Ich schlang die Arme um ihn und drückte mich eng an ihn.
»Ich brauch noch einen Moment«, murmelte ich und schloss die Augen. Ich atmete seinen unverkennbaren Geruch ein und sammelte meine Kräfte. Joshua strich mir sanft über das Haar und küsste meinen Kopf.
»Hey, ich werde gleich zur Schlachtbank geführt, nicht du.« Er lachte und schob mich zur Tür. Widerwillig öffnete ich sie und lief die Treppe nach unten. Vor der Küchentür löste Joshua seine Hand aus meiner. Ich schaute ihn fragend an.
»Regel Nummer eins: Mütter mögen es nicht, wenn ihre Töchter angefasst werden«, flüsterte Joshua. Demonstrativ nahm ich wieder seine Hand und zog ihn in die Küche. Joshua seufzte kaum hörbar, und ich atmete tief ein.
Meine Mutter räumte gerade die Einkäufe in den Kühlschrank. Schlechtes Timing. Nach einem Einkaufsmarathon war sie meistens gestresst. Aber es gab kein Zurück mehr. Ich räusperte mich.
»Hi, Mom, du wolltest doch Joshua kennenlernen.« Ich bemühte mich, möglichst freundlich zu klingen. Sie drehte sich um, und ein nervöser Blick wanderte von mir zu Joshua. Natürlich blieb sie für eine Sekunde an unseren Händen hängen. Unwillkürlich drückte ich noch fester zu. Als ich die Anspannung in Joshuas Hand spürte, lockerte ich den Griff wieder.
»Ah ja, Joshua. Schön, Sie mal kennenzulernen. Emma hat viel von Ihnen erzählt«, sagte sie freundlich und ging einen Schritt auf ihn zu. Joshua löste seine Hand und schüttelte ihre zur Begrüßung. Ich verzog den Mund. Ich hatte ihr so gut wie nichts von ihm offenbart, aber was hätte sie sonst sagen sollen?
»Ich hoffe, nur Gutes.« Joshua zauberte ein unwiderstehliches Lächeln auf sein Gesicht, und ich sah, wie meine Mutter förmlich dahinschmolz. Sie widmete sich wieder ihren Einkäufen, um ihre Verlegenheit zu überspielen, aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihr die ganze Situation zu peinlich war. Genugtuung machte sich in mir breit, schließlich hatte sie darauf bestanden, dass ich Joshua vorführte wie einen kleinen Hund. Ich lehnte mich an ihn und ignorierte seine Versuche, mich nicht zu viel zu berühren.
»Ich habe es ein bisschen eilig, seid mir nicht böse. Was habt ihr denn heute Abend noch vor?« Es klang nach nettem Geplauder, aber ich wusste, dass ich die Quittung bekommen würde, wenn sie etwas an der Antwort auszusetzen hatte.
»Wir sind zu Freunden in Oberried zum Essen eingeladen. Sie haben gerade das alte Bauernhaus von Lisas Eltern umgebaut«, sagte ich schnell und hoffte, der Verweis auf Lisas Eltern würde meine Mutter milde stimmen.
»Sie haben doch nichts dagegen?«, setzte Joshua nach und bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Nein, nein, natürlich nicht.« Ich stöhnte innerlich. Nun machte sie einen auf liberal.
Ich zog Joshua schließlich aus der Küche, nachdem er sich überschwänglich verabschiedet und beteuert hatte, bald zum Essen zu kommen. Als wir außer Sichtweite waren, riss ich die Arme verständnislos nach oben. Nach dem Streit letzte Woche kam ich mir ziemlich verarscht vor. Joshua grinste schief und bedeutete mir, wieder nach oben zu gehen.
»Na, das war doch ein Klacks. Frauen, und Mütter im Speziellen, sind wie Butter in meinen Händen.« Ich boxte ihn in die Seite und kniff die Augen zusammen.
»Sorry. Sie hat letzte Woche so einen Aufstand gemacht. Und jetzt ... Das verstehe ich nicht.«
»Besser so als andersrum. Komm, wir müssen langsam los.«
Ich band die Haare zum Pferdeschwanz zusammen und schnappte meine Jacke.
Als wir in Joshuas altem Bus nach Oberried fuhren, fragte ich ihn nach Marc. Ich war neugierig auf seinen besten Freund. Und auf Lisa.
Joshua erzählte, wie er Marc kennengelernt hatte. Damals war er fünfzehn und hatte wenige Freunde. Er war erst seit zwei Jahren in Deutschland und hatte sich hinter seiner Musik verkrochen, statt mit Gleichaltrigen Fußball zu spielen oder um die Häuser zu ziehen. Während der Sommerferien veranstaltete die Jazz- und Rockschule ein Ferienprogramm. Marc hatte dort einen Nebenjob und arbeitete in einer kleinen Gruppe von Nachwuchsmusikern mit, unter ihnen war auch Joshua. Sie verstanden sich von Anfang an super und trafen sich danach ab und zu. Marc war drei Jahre älter, damals war das zwar ein riesiger Unterschied, aber sie waren von Anfang an wie Brüder.
Irgendwann spielte Joshua Marc ein Stück vor, das er geschrieben hatte, und Marc war Feuer und Flamme. Sie schlossen sich ein Wochenende zusammen ein und kamen mit drei neuen Songs und der Idee heraus, gemeinsam eine Band zu gründen. Zwei Jahre später kamen Tom und Lucky und später auch Nik ins Boot, und ein paar Monate später lief ihr erster Hit im Radio. Joshua schmunzelte in Erinnerung an ihre ersten Tage und legte den Arm um meine Schulter.
Seither war viel passiert, Joshuas und auch Marcs Leben hatte sich von Grund auf geändert. Sie lebten ihren gemeinsamen Traum. In allen Facetten. Mit Hochs und Tiefs, mit Schatten und mit Sonnenschein.
»So, wir sind gleich da«, beendete Joshua die Exkursion in die Vergangenheit. Es war inzwischen stockdunkel, und dünne Nebelschwaden kräuselten sich im grellen Scheinwerferlicht des Busses.
Marc und Lisa wohnten in einer Doppelhaushälfte in Oberried. Das kleine Örtchen am Fuße des Schauinsland lag rund zwanzig Minuten außerhalb der Stadt. Für mich war es unvorstellbar, mitten im Schwarzwald und somit völlig ab vom Schuss zu wohnen. Aber Marc und Lisa schien die Abgeschiedenheit nicht zu stören.
Als wir mit knirschenden Reifen auf den Hof fuhren, standen die beiden bereits in der Tür und winkten uns zu. Lisa war gut einen Kopf kleiner als Marc und war zierlich, ohne zerbrechlich zu wirken. Ihre blonden Haare hatte sie locker zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Alles an ihr strahlte vor Energie, und sie hatte ein offenes, freundliches Lachen, das mir sofort die Nervosität nahm.
Joshua nahm meine Hand und sagte amüsiert: »Na, ihr könnt es wohl gar nicht erwarten.« Er umarmte Lisa und küsste sie freundschaftlich auf die Wange, ohne meine Hand loszulassen.
»Schön, dass ihr da seid«, sagte Marc und begrüßte mich mit Küsschen.
Lisa strahlte mich an, und es dauerte keine zwei Sekunden, bis sie die Arme um mich geschlungen hatte. Verdattert drückte ich die Hände auf ihren Rücken. Es war ungewohnt, so offen begrüßt zu werden. Ein bisschen, als ob wir uns schon ewig kennen würden und uns nur eine längere Zeit nicht gesehen hatten.
»Ich war den ganzen Tag total aufgeregt.« Sie schnappte meine Hand und zog mich hinter sich ins Haus. Ich drehte mich fragend zu Joshua um, aber er grinste mich nur vielsagend an und kam, die Hände in den Hosentaschen vergraben, hinter uns her.
Von außen hatte das Haus klein und rustikal gewirkt. Drinnen verschlug es mir aber den Atem. Es hätte durchaus als Musterhaus aus einem Schöner-Wohnen-Magazin durchgehen können. Durch die verglasten Flächen, die zum Garten hinausführten, war es geräumig und wirkte fast schon modern. Die Einrichtung war zwar schlicht, aber gemütlich. Alle Details waren aufeinander abgestimmt und passten perfekt zueinander. Warum konnte Joshuas Wohnung nicht so wohnlich sein? Dort kam ich mir eher wie in einer Ausstellung vor.
»Wow. Das ist ... das ist wunderschön«, sagte ich und sah mich weiter um. Ich warf einen Blick durch die großen Fenster in den Garten. Er schien aus einem Märchen zu stammen. Die Zweige zahlloser Sträucher und Büsche rankten wild übereinander, und ein schmaler Kiesweg schlängelte sich durch einen weißen Torbogen ins Innere des Gartens. Wie er wohl bei Tageslicht wirkte? Ich wünschte, ihn zeichnen zu können. Gärten übten eine bizarre Anziehung auf mich aus.
»Danke. Wir haben das Haus letzten Herbst von meinen Eltern zur Hochzeit bekommen. Sie wohnen ja in der anderen Hälfte. Früher hat meine Oma hier gewohnt. Aber die ist jetzt langsam zu alt und kommt allein nicht mehr klar. Also ist sie rüber gezogen und ich mit Marc hierher. Wir haben das Ganze erstmal von Grund auf umgebaut. Das war vielleicht ein Kraftakt. Hier sah es aus wie im Museum. Wir haben dann die großen Fenster eingezogen und die Wand zwischen dem Ess- und Wohnzimmer rausgerissen.« Sie zeigte um die Ecke. »Vorher war hier alles ziemlich eng und dunkel.« Wir waren im Esszimmer angekommen, und Joshua und Marc wechselten vielsagende Blicke. Manchmal wünschte ich mir, Gedankenlesen zu können.
»Setzt euch. Das Essen ist schon fertig. Marc, kümmerst du dich um die Getränke?«, sagte Lisa und verschwand in der Küche. Marc schenkte uns Wein ein, und ich rückte meinen Stuhl näher an Joshuas. Automatisch verschränkte er seine Finger mit meinen, als sich unsere Hände berührten, und ich genoss das Gefühl der Vertrautheit.
Lisas Lasagne war ohne Übertreibung die beste, die ich jemals gegessen hatte. Ich schlug mir den Bauch voll und aß selbst dann noch weiter, als ich schon längst keinen Hunger mehr hatte.
Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, lachten ununterbrochen, und es war, als ob ich die drei schon mein Leben lang kennen würde. Ich fühlte mich verdammt wohl in ihrer Gegenwart.
»Und Emma, was hast du nach dem Abi vor? Machst du eine Weltreise?«, fragte Marc und schenkte Wein nach.
»So etwas in der Art. Ich mache erstmal Urlaub und gehe auf ein Klettercamp in den USA. Fünf Wochen Sonne, Felsen und ein bisschen Meer. Das wird sicher total cool. Und danach steht München auf dem Plan«, sagte ich und schaufelte den letzten Bissen Lasagne in mich hinein.
»München?«, fragte Lisa und schaute mich neugierig an. Ihr Blick huschte kurz zu Joshua. Langsam machte sich ein ungutes Gefühl in mir breit. Joshua wusste noch nichts von meinen Plänen.
»Ja, ich werde da BWL studieren und bin dann schon näher an den großen Unternehmensberatungen dran.« Ich spürte, wie sich Joshua zusehends anspannte und seine gute Laune schwand. Mist. Vielleicht hätten wir vorher drüber reden sollen. Aber Marc hatte mich nun mal gefragt.
Da niemand etwas sagte, setzte ich nach: »Ich will später mal Unternehmensberaterin werden. Mal sehen, ob es auch klappt. Es wird sicher heftig, da reinzukommen, aber ich bin dann ja schon mal vor Ort, kann Praktika machen und Kontakte knüpfen. Vielleicht erhöht das meine Chancen.« Ich trank einen Schluck Wein und mied weiter Joshuas Blick.
»Unternehmensberaterin. Das ist sicher spannend«, sagte Lisa. »Ich verstehe ja von Wirtschaft gar nix. Da habe ich mich schon in der Schule schwergetan. Los, Emma, wir quatschen noch ein bisschen in der Küche. Die Jungs haben sich ja ewig nicht gesehen und sicher viel zu besprechen.« Sie stand auf und begann, das Geschirr zusammen zu räumen. Dankbar für den Themenwechsel sprang ich auf und half ihr, die Teller und Schüsseln in die Küche zu tragen.
Während wir das Geschirr in die Spülmaschine räumten, grinste mich Lisa an.
»Was?«, fragte ich, da sie offensichtlich nicht so recht mit der Sprache raus wollte.
»Was ist das zwischen euch?« Lisa hob fassungslos die Arme und kräuselte die Stirn. Hatte ich etwas falsch gemacht?
»Was meinst du?«, fragte ich unsicher und stellte die Teller auf der Arbeitsplatte ab.
»Na, ich hab so was noch nie gesehen. Wie lange seid ihr zusammen? Vier Wochen oder so?« Ich wusste noch immer nicht, worauf sie hinauswollte. Also nickte ich nur. »Das ist echt seltsam. Da ist so eine Verbindung zwischen euch, die ich sonst nur von Paaren kenne, die schon ewig zusammen sind. So eine unausgesprochene Einigkeit, dass man denkt und fühlt wie der andere. Es ist so intensiv, man spürt es förmlich knistern.« Lisa schaute verträumt in der Küche umher. »Du tust Josh richtig gut. Ich hab ihn lange nicht mehr so fröhlich gesehen. Das ist schön.« Lisas Worte breiteten sich wie klebriger Sirup in meinen Gedanken aus, und ich hoffte, sie würden für immer dort haften bleiben.
»Ja, er tut mir auch gut«, entgegnete ich glücklich und kratzte ein paar Lasagnereste von einem Teller.
»Und, wie soll das funktionieren mit München? Es ist ja so schon schwer genug, die Jungs mal zu Gesicht zu bekommen.« Sofort legte sich ein dunkler Schatten über die gute Laune.
»Ja, das ist allerdings eine gute Frage. Aber weißt du, auch wenn es zwischen Joshua und mir im Moment gerade super läuft, wer weiß schon, was in ein paar Monaten ist. Wir sind noch so jung und ...« Abrupt hielt ich inne. Ich hasste den Gedanken, aber vielleicht konnte Lisa helfen, den Stachel, den Liv in mein Herz gerammt hatte, herauszuziehen.
»Und?« Lisa hatte natürlich mein Zögern bemerkt und hielt inne.
»Ach. Versteh das nicht falsch. Ich weiß, dass Joshua mich echt mag. Aber er ist nicht gerade für seine dauerhaften Beziehungen bekannt.« Ich lächelte sie tapfer an.
»Du täuscht dich in Josh, wenn du so über ihn denkst.« Ich schaute sie skeptisch an. Sie war eine Freundin von ihm, da musste sie so etwas sagen. »Hör zu, es ist nicht immer leicht, wenn man im Fokus steht. Und Joshua ist einsam. War einsam. Es ist nichts Schlimmes dran, sich mit anderen Menschen zu treffen. Und alles Weitere haben die Medien nur so gedreht, wie es die Schlagzeilen grad erfordern.« Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und schwang sich auf die Arbeitsplatte. Ich lehnte mich an den Küchentisch. Aus dem Wohnzimmer drang leise Klaviermusik zu uns rüber.
»Ich denke nicht schlecht über Joshua. So ist das nicht. Aber er war mit Models und Sängerinnen aus, mit Schauspielerinnen. Ich versteh einfach nicht so recht, was er von mir will.« Ich steckte meine Hände in die Hosentasche, um das Zittern zu verbergen. Warum redete ich mit Lisa darüber? Ich kannte sie gerade einmal wenige Stunden.
»Mhm, was soll ich dazu sagen. Komm, ich erzähl dir ein bisschen was über Joshua. Ich denke, das Gefühl, das Joshua am besten kennt, ist Einsamkeit. Er hat schon früh gelernt, was es heißt, allein zu sein. Klar, viele Leute wollen mit ihm befreundet sein. Aber aus den falschen Gründen. Und er ist eine sensible Seele. Er schnallt das ziemlich genau, ob sich jemand für ihn interessiert oder ob man nur aus oberflächlichen Gründen seine Nähe sucht. Dass er ein außergewöhnlicher Sänger ist, hast du inzwischen sicher mitbekommen.« Sie grinste vielsagend. Joshua hatte ihr also erzählt, dass ich ihn nicht erkannt hatte. Wie peinlich. Ich verzog geknickt den Mund. »In ihm schlummern viele Talente. Er ist ein verdammt guter Songwriter, hat schon einige Songs für Adele und Nelly Furtado geschrieben. Sein Gespür für Rhythmus ist unglaublich präzise, und nicht zuletzt kann er die Menschen begeistern. Ganz abgesehen von seinem Äußeren. Eigentlich ist er der Prototyp eines Superstars, aber er ist eben auch ein Mensch mit dem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Und wegen den Models und Sängerinnen. Ja, er war mit denen aus. Und einige davon habe ich auch kennengelernt. Sie waren sogar ganz nett. Die meisten jedenfalls. Aber Joshua interessieren Äußerlichkeiten nicht. Nicht, dass du nicht hübsch wärst ...«, beeilte sich Lisa zu sagen. »Wirklich, du bist echt zuckersüß. Aber ich denke, dass es deine inneren Werte sind, die Joshua so faszinieren. Und glaub mir, er ist fasziniert von dir.« Ich zog die Augenbrauen zusammen. Das klang nicht wirklich einleuchtend. Joshua war mit Sicherheit keiner der oberflächlichen Typen, die ihre Freundinnen nach der Körbchengröße auswählten. Dennoch hatte er einen ausgeprägten Sinn für Schönes.
»Lisa, ich weiß nicht ...«, wand ich ein. »Fasziniert ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Mensch, neben diesen furchtbar schönen und berühmten Menschen komme ich mir eben irgendwie … so normal vor. Und es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis normal langweilig wird.«
»Oh, glaub mir, du bist alles andere als normal.« Sie sprang von der Arbeitsplatte und boxte mich an die rechte Schulter. Ich lächelte, wusste aber nicht, ob es als Kompliment gemeint war.
»Kommst du eigentlich mit dem ganzen Band-Ding klar? Marc ist ja so gut wie nie zu Hause. Und er wird sicher auch in der Stadt angequatscht, wenn ihr mal zusammen unterwegs seid.«
»Ich bin da halt irgendwie reingewachsen. Marc habe ich ja schon vorher gekannt, und als es losging, waren wir einfach froh, dass er Erfolg hat und das machen kann, was er liebt. Der Rummel gehört ja irgendwie dazu. Aber im Grunde schert sich hier oben bei den sieben Zwergen niemand darum, ob Marc berühmt ist oder nicht. Da wird trotzdem geschaut, dass am Sonntag keine Wäsche draußen hängt und die Mülltonnen rechtzeitig wieder reingeholt werden.«
Ich wünschte, in Freiburg wäre das ebenso, zumindest mit Joshua ins Kino oder auf die Straße gehen zu können, ohne dass er erkannt wurde. Als er bei den wenigen Malen, die wir gemeinsam unterwegs waren, belagert wurde, fand ich das eher lästig.
»Lass uns wieder reingehen. Die Jungs sind ja übermorgen schon wieder unterwegs. Da will ich noch ein bisschen was von meinem Mann haben«, sagte Lisa und zog mich ins Wohnzimmer.