Читать книгу Josh & Emma Gesamtausgabe - Sina Müller - Страница 22
Abi – eine harte Zeit
ОглавлениеZu lieben heißt zu leiden. Das wusste ich spätestens, seit Joshua fort war. Für drei lange Wochen. Es war nicht so, dass ich es geplant hätte, zusammenzubrechen. Im Gegenteil. Ich hatte mir fest vorgenommen, mein Leben weiterzuleben. Von Tag zu Tag. Schließlich war es kein großes Ding, dass Joshua unterwegs war. Doch als er aus der Einfahrt fuhr, kroch ein allumfassender Nebel in mir hoch. Ich fühlte nichts außer dieser brennenden Sehnsucht. Alles war dumpf und farblos, nichts machte Spaß. Das Essen schmeckte wie schon mal gegessen, und an Schlaf war nicht zu denken.
Ich lebte nur für die wenigen Momente, in denen ich Joshua nahe war. In denen er anrief, mir eine Nachricht schickte oder ich zum tausendsten Mal The little Prince anhörte. Dann spürte ich jene Lebensfreude, die mich durchströmte, wenn wir beisammen waren.
Am Morgen meiner ersten Abiprüfung lag ich erschlagen im Bett. Heute stand die Deutschprüfung auf dem Plan. Eine Prüfung zum Eingrooven und Abchecken, wie alles lief. Die Generalprobe für Donnerstag – vor Mathe hatte ich einen Heidenrespekt.
Als ich es nicht mehr länger rauszögern konnte, quälte ich mich aus dem Bett und zog meinen Wohlfühlhoodie und eine Boyfriend-Jeans an. An normalen Tagen würde ich mich in dieser Aufmachung nicht unter Leute trauen. Aber was war im Moment schon normal? Mir war es egal, wie ich aussah, Joshua würde mich so nicht zu Gesicht bekommen und das Einzige, das zählte war, dass ich irgendwie diese verdammten drei Wochen überstand. Das ging nunmal nicht in Glitzertops und High-Heels. Ich konnte Livs Blick bereits auf mir spüren. Zum Trotz zog ich auch noch meine ältesten Chucks an und band meine ungekämmten Haare zu einem schlampigen Pferdeschwanz. Joshuas Mütze verdeckte ja das Vogelnest auf meinem Kopf. Außerdem fehlte mir die Kraft, mich aufzuhübschen.
Im Prüfungsraum sah ich mich wie betäubt um. Sie hatten den Musiksaal umfunktioniert, und die komplette Stufe saß um mich herum und schrieb, was das Zeug hielt. Ich spürte eine unbekannte Trockenheit im Mund und wünschte mir, etwas zum Trinken eingepackt zu haben. Stattdessen mussten die Berge an TicTac ihren Dienst tun. Zwei Reihen hinter mir erspähte ich Liv, die nervös auf ihren Nägeln kaute. Die Arme. Sie war ein Nervenbündel, wenn es um Prüfungen ging. Heute schien es ihr besonders schlecht zu gehen, sie war kreidebleich und wirkte noch dünner und zerbrechlicher als sonst.
Ich versuchte mich auf die Aufgaben zu konzentrieren und versank in jener beruhigenden Trance, in die ich mich schon die letzten Tage geflüchtet hatte. Erst als Frau Berger uns eindringlich daran erinnert, dass wir in fünf Minuten unsere Arbeiten abgeben mussten, nahm ich meine Umgebung wieder wahr, das nervtötende Ticken der Uhr drang in mein Bewusstsein. Wie hatte ich mich dabei nur konzentrieren können? Verstohlen blickte ich mich um, Livs Platz war leer. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Stapel Blätter und gab ihn schweren Herzens ab.
Als ich den Musiksaal verließ, saß Liv auf der Treppe. Sie wirkte ziemlich erledigt, aber immerhin kam langsam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht.
»Geschafft«, seufzte ich aus tiefstem Herzen und ließ die Anspannung aus mir strömen. Ich setzte mich neben Liv auf die Treppe und legte einen Arm um ihre Schulter. Sie lehnte ihren Kopf an und atmete tief aus.
»Ganz schön ätzend, diese blöden Prüfungen«, stöhnte sie. Ich lachte kurz auf.
»Komm, so schlimm war es nicht. Und jetzt haben wir schon eine hinter uns.«
»Ja, aber ich bin völlig durch«, maulte Liv weiter.
»Ich auch. Bin total platt. Lass uns zu Giovanni gehen. Lernen ist für heute gestrichen.« Mein Magen fühlte sich noch immer flau an. Die TicTac hatten sicher dazu beigetragen, dass mir jetzt schlecht war.
Bevor wir losgingen, schlenderten wir noch einmal zu den anderen ins Oberstufenzimmer. Nach und nach ließen wir uns von dem aufgeregten Geplauder anstecken und klinkten uns in die Unterhaltungen ein. Ich war ziemlich erledigt, aber auch ein bisschen erleichtert. Die letzten Tage hatte ich wie durch einen dichten Nebelschleier wahrgenommen. Wirklich erinnern konnte ich mich nur an die Telefonate mit Joshua, alles andere war seltsam verschwommen. Auch die Prüfung selbst. Es war ein bisschen, als würde ich gerade aus einem Halbschlaf aufwachen.
Joshua. Was er wohl momentan machte? Verstohlen blickte ich auf mein Handy. Nichts. Enttäuscht steckte ich es wieder ein und hob den Blick. Kevin funkelte mich kalt von der anderen Ecke des Zimmers an. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich wandte mich dankbar ab, als mich Liv ansprach.
»Los, lass uns gehen!«, sagte sie bestimmt und zog mich zum Ausgang. Wo das mit Kevin noch hinführen würde? Spätestens seit ich Joshua kannte, wusste ich, dass es richtig gewesen war, Schluss gemacht zu haben. Niemals hätte ich ihn so lieben können, wie ich Joshua liebte. Resigniert seufzte ich und fühlte wieder diese kalte Hand um mein Herz, die es zum Zerspringen bringen wollte. Wieder meldete sich diese beschissene Sehnsucht, die mich in den vergangenen Tagen so fest im Griff gehabt hatte, klopfte freundlich an, um mich dann mir nichts dir nichts niederzuringen. Ich schluckte, versuchte an etwas anderes als an Joshua zu denken und blinzelte die Tränen weg, die sich an die Oberfläche kämpfen wollten. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm. Einfach alles um mich herum vergessen und nur im Hier und Jetzt leben. Mit Joshua. Das wäre schön.
Das Klingeln meines Handys riss mich zurück in die Gegenwart. Mit zitternden Fingern zog ich es aus der Tasche und lächelte Liv verlegen an, bevor ich einen Blick auf das Display wagte. Joshua. Mein Puls beschleunigte sich augenblicklich.
»Hey«, hauchte ich ins Telefon und wandte mich von Liv ab.
»Na, alles gut überstanden? Wie geht es dir jetzt?« Freude, ihn endlich zu hören und ihm somit ein kleines Stückchen näher zu sein, breitete sich in mir aus. Doch der Sehnsuchtsanfall war noch nicht vorüber. Die Gedanken daran, wie weit weg er im Augenblick war, übermannten mich.
»Mmmhhh«, nuschelte ich ins Telefon, ich fühlte mich nicht in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu sagen.
»Engelchen, alles in Ordnung? Was ist denn los? War es so schlimm? Bestimmt warst du fantastisch«, versuchte mich Joshua zu beruhigen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und wischte die salzigen Tränen weg, die trotz aller Anstrengungen über meine Wange gekullert waren.
»War ganz okay, denke ich.« Ich hatte ja nicht viel davon mitbekommen.
»Was ist dann los? Irgendwas hast du doch«, bohrte Joshua weiter.
»Nein, es ist nur ...« Ich atmete tief ein. »Es ist nichts. Einfach nur die Anspannung, die gerade von mir abfällt. Ich habe die letzten Tage nicht viel geschlafen«, wiegelte ich ab. Liv musterte mich aus den Augenwinkeln. Ich drehte mich um und ging ein paar Schritte von ihr weg.
»Die Anspannung ... Okay, wenn du es sagst«, sagte Joshua wenig überzeugt. »Schade, ich hatte eher gehofft, dass du mich vermisst.« Ich schloss die Augen. Natürlich tat ich das. Kein anderes Gefühl hatte Platz in mir. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Es tat zu sehr weh, es auszusprechen.
»Erzähl, wie geht es dir?« Ich versuchte fröhlicher zu klingen, als ich mich fühlte.
»Alles klar soweit. Hör zu, ich muss auch gleich Schluss machen. Wir haben in ein paar Minuten ein Interview. Ich wollte mich nur kurz melden. Lass uns nachher telefonieren, okay?« Bei Joshua wurde es im Hintergrund lauter, und ich verstand ihn kaum noch.
»Ja, klar. Sag den anderen liebe Grüße.« Traurig schaute ich auf das Display und registrierte langsam, dass der kurze Moment mit Joshua schon wieder vorüber war. Ich wartete auf den erlösenden Nebel, der mich gleich einhüllen würde und der den Schmerz der Einsamkeit etwas erträglicher machte.
Ich spürte einen warmen Arm auf der Schulter und blinzelte verwirrt. Liv blickte mich mitfühlend an und drückte mich an sich. Ich vergrub das Gesicht an ihrer knochigen Schulter. Sie fühlte sich so anders an als Joshua, und doch tat ihre Nähe gut. Ich atmete tief ein und kniff die Augen zusammen. Ich wollte nicht weinen. Es gab keinen Grund.
»Sorry, ich bin albern.«
»Nein, Quatsch. Dir geht es nicht so gut, oder?« Ich musste wohl ziemlich übel aussehen, sonst würde sie mich verspotten.
»Es ist nur die Anspannung ...«
»Die Anspannung. Ja, sicher. Hör zu, Emma. Josh kannst du vielleicht noch hinters Licht führen, wobei du keine sehr überzeugende Vorstellung abgeliefert hast. Aber fang nicht an, mir Müll zu erzählen. Komm schon, was ist los?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und wartete.
»Ach, ich fühle mich einfach nicht so gut. Das ist alles. Ich habe die letzten Nächte kaum geschlafen.« Ich gähnte herzhaft, um sie davon zu überzeugen. Sie musterte mich und zog eine Augenbraue hoch.
»Na, bei den Klamotten ist es auch kein Wunder, dass du dich beschissen fühlst. Was versprichst du dir davon, dich so gehen zu lassen? Joshua beeindruckst du mit deinem Campingplatzschlabberlook bestimmt nicht. Das hat vielleicht bei Kevin funktioniert.«
»Joshua ist nicht da, den interessiert es also nicht, wie ich rumlaufe.«
»Aber mich interessiert es. Und dich sollte das auch interessieren. Mensch, Emma. Ich dachte, das mit dir und Josh … ich dachte, du wärst glücklich.« Sie legte den Kopf schief. Mitleid lag in ihrem Blick.
»Ja … ja, bin ich auch. Verdammt, ich weiß doch auch nicht, was los ist. Seit er fort ist, fühle ich mich wie ausgekotzt. Alles tut mir weh, ich kann kaum atmen. Und dann diese ständige Flennerei.« Ich lachte hysterisch auf. Vielleicht war ich einfach nur durchgeknallt.
»Das sind die Hormone, Süße. Das ist normal«, versuchte mich Liv zu beruhigen.
»Normal. Tsss.« Ich atmete tief ein. »Warum ist er nicht hier?«
»Weil er Termine hat«, erwiderte Liv geduldig.
»Er hat immer Termine. Und Konzerte. Und Interviews. Und Filmaufnahmen. Und Fotoshootings.«
»Ich verstehe ja, dass dich das ankekst. Aber es gehört nun mal dazu, wenn man mit einem Popstar zusammen ist.« Sie lächelte mich aufmunternd an.
»Und was, wenn ich das nicht kann? Das alles? Dieses ganze Band-Ding?« Ich blickte sie herausfordernd an.
»Hab doch mal ein bisschen mehr Selbstvertrauen. Süße, du bist toll. Du bist wunderschön. Und Josh liebt dich.«
»Pff. Selbstvertrauen? Hab du mal Selbstvertrauen, wenn du neben einem Halbgott stehst.«
»Ach, komm schon. Josh ist toll, keine Frage. Aber er ist doch irgendwie auch nur ein Mensch.«
»Und das aus deinem Mund. Wie war das mit deinen Tagträumen?«
»Ja, ich weiß. Ich versuche ja nur, dich aufzubauen.«
»Ach, Liv, ich kann das nicht erklären. Mir wäre es halt lieber, wenn Joshua einfach ein ganz normaler Kerl wäre und nicht Josh Meyer. Dann wäre alles perfekt und ich der glücklichste Mensch auf Erden.« Die rote Ampel zwang uns, stehen zu bleiben. Zerknirscht schaute ich zu ihr hoch.
»Mann, tausende Mädels würden sich ihren rechten Arm abhacken, um mit dir zu tauschen, und du bläst mal wieder Trübsal, weil nicht alles so läuft, wie du das willst. Manchmal ist dir echt nicht zu helfen.« Sie schüttelte den Kopf und kräuselte die Lippen.
»Siehst du. Das meine ich! Hättest du es denn gerne, wenn unzählige Mädels in ihren Träumen Lukas verführten?«
»Ach, wenn sie es nur in ihren Träumen tun ...« Sie grinste zweideutig. Ich boxte sie in die Seite, musste aber selbst lachen. Bestimmt hatte Liv recht, und ich nahm das alles zu ernst. Aber so war das nun mal mit Gefühlen.Man konnte sie nicht steuern. Wir waren inzwischen fast bei unserem Lieblingsitaliener angekommen, und ich blinzelte nochmal in die verführerischen Sonnenstrahlen, um ein bisschen von der wohltuenden Wärme aufzusaugen.
»Wusstest du, dass es Hotpants von Amblish gibt?« Liv grinste mich frech an und unterdrückte ein Lachen.
»Wie? Hotpants?«, fragte ich verwirrt.
»Na, du weißt schon: die kleinen knackigen Schlüpper, Hotpants eben. Mit Josh und den anderen Jungs drauf.« Sie wackelte verführerisch mit ihrem Hintern und stolperte in ihren nächsten Lachanfall, als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sah. Ich konnte mich nicht lange gegen ihr ansteckendes Lachen wehren und stimmte ein. Die Vorstellung von Josh-Meyer-Hotpants war zu ulkig. Die Anspannung wich aus meinem Körper und mit ihr die trüben Gedanken. Ich sollte nicht so viel darüber nachdenken, was irgendwann passieren könnte – sondern lieber das genießen, was jetzt in diesem Moment Tatsache war: Joshua liebte mich. Und bislang hatte ich keinen Grund, daran zu zweifeln. Sehnsucht hin oder her. Aber das war leichter gesagt als getan.
***
Donnerstag – Horrortag. Entgegen meiner Erwartungen wachte ich nicht schon mit Panik in den Knochen auf. Ich war ruhig. Aber das hatte ich vielleicht auch nur dem Nebel zu verdanken, der sich über all meine Gedanken gelegt hatte und mich davor schützte, ständig an Joshua zu denken. Ich vermisste ihn noch immer. Und von Tag zu Tag wurde die Sehnsucht stärker. Nach außen hin versuchte ich, mit dem Ganzen klar zu kommen. Ich lächelte, und doch war ich meistens abwesend.
Ich gähnte benommen und genehmigte mir eine ausgiebige Dusche, um aufzuwachen. Ich schob noch weitere Minuten die Gedanken an die bevorstehende Prüfung beiseite. Das flaue Gefühl im Magen würde sich früh genug einstellen.
Beim zweiten Kaffee erlaubte ich mir einen Blick auf mein Handy. Keine Nachricht, stelle ich leicht enttäuscht fest. Eine kleine, aufmunternde SMS von Joshua wäre perfekt gewesen. Auf der anderen Seite hatten wir gestern eine halbe Ewigkeit miteinander telefoniert, bis wir beide eingeschlafen waren.
Als ich in der Schule ankam, spürte ich, wie die Nervosität langsam ihre Krallen nach mir ausstreckte. Liv war bereits das reinste Nervenbündel. Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie zitterte am ganzen Leib und trat von einem Fuß auf den anderen.
Die Prüfung lief jedoch wesentlich besser als erwartet. Die Aufgaben gingen mir flüssig von der Hand, und ich kam erstaunlich gut mit der Zeit zurecht. Endlich hatte ich es hinter mir. Die schlimmste Prüfung war geschafft. Uff. Erleichtert verließ ich den Musiksaal. Für eine klitzekleine Sekunde hätte ich die Welt umarmen können.
Vor dem Prüfungsraum standen schon ein paar Leute aus meiner Klasse, unter ihnen Kevin, der mich erwartungsvoll anblickte. Ich schaute mich um, auf der Suche nach einer Alternative, aber Liv quälte sich noch mit den Gleichungen. Was sollte ich tun? Irgendwann musste ich mit ihm reden. Warum also nicht jetzt? Ich gab mir einen Ruck und ging zu ihm. Seit ich mit Joshua zusammen war, hatte mich Kevin ignoriert, wo es ging. Er fehlte mir – als Freund.
»Hey. Und, wie lief’s? Kamst du klar?«, fragte Kevin. Er wirkte unsicher, fuhr sich durch die Haare und vermied es, mich direkt anzusehen.
»Ja, war ganz gut, denke ich. Und bei dir?« Ich lehnte mich neben ihn an die Brüstung und musterte ihn. Er war mir irgendwie fremd und doch so vertraut. Ich kannte jede Pore seines Gesichts, und doch hatte sich sein Ausdruck in den letzten Wochen geändert. Er schien reifer geworden zu sein.
»Ganz okay. Bei einer Aufgabe hatte ich keinen Plan, aber der Rest war soweit ganz gut. Mal abwarten, wie sie benoten.« Das Geplauder war geschafft. Ich war gespannt, was nun kommen würde.
»Und, wie läuft es sonst so?«
»Ja, doch, ganz gut«, antwortete ich und verdrehte die Augen. Irgendwie war die Situation albern. Wir kannten uns so gut und drucksten nur rum.
»Ich meinte eigentlich: wie geht es dir wirklich?« Kevin drehte sich zu mir und schaute mich traurig an. Wir mussten dringend ein paar Sachen klären. Der Sommer lag vor uns und mit ihm das Klettercamp in den USA. Es würde ätzend werden, wenn wir uns bis dahin nicht verstehen würden.
Also schnappte ich seine Hand. »Komm mit.« Ich wollte allein mit ihm reden, die anderen ging das Ganze nichts an. Sie hatten schon viel zu viel von unseren Streitereien mitbekommen. Wir gingen auf den oberen Pausenhof, der bis auf wenige andere Schüler leer war. Ich zog ihn an die Brüstung und merkte erst jetzt, dass ich noch immer seine Hand hielt. Wie vertraut sie sich anfühlte. Ich ließ blitzartig los. Er sollte sich keine falschen Hoffnungen machen.
»Kevin, ich glaube, wir müssen echt nochmal miteinander reden«, begann ich.
»Warum reden, Emma? Du hast doch alles gesagt. Und ich muss eben schauen, wie ich damit zurechtkomme.« Er kramte in seiner Tasche und zog eine Zigarettenschachtel raus. Er wusste, wie sehr ich es hasste, wenn er in meiner Gegenwart rauchte. Um mir zu zeigen, wie sehr ich ihn verletzt hatte, zog er alle Register.
»Kevin, das mit Joshua war nicht geplant, es ist einfach so passiert. Es tut mir leid, wenn dich das verletzt. Aber das zwischen uns, das war schon vorbei, als ich ihn kennenlernte. Ich hab nichts falsch gemacht.« Ich verzog zerknirscht den Mund. Kevin zündete sich eine Zigarette an und zog genüsslich daran. Er funkelte mich kalt an und schwieg. »Was soll ich denn machen?« Er blies den Qualm aus und lehnte sich an die Brüstung. Ich stellte mich neben ihn und schaute auf den unteren Schulhof.
»Willst du denn ewig auf mich sauer sein? Ich vermisse dich. Als Freund. Kann nicht einfach alles wie früher sein?« Er ignorierte mich weiter und schnippte die Asche weg. »Ich bin glücklich. Dachte, das wäre dir wichtig«, sagte ich leise. Langsam schmeckte ich die salzigen Tränen, die vereinzelt über meine Wange kullerten, und schluckte schnell. Ich wollte nicht weinen, schon gar nicht in Kevins Gegenwart.
»Glücklich.« Kevin nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. »Also, selbst beim Wildcampen während unserer Kanutour in der Ardeche sahst du nicht so fertig aus«, sagte er betont gelangweilt und mied meinen Blick. Mist. Meine mühsam aufgebaute Fassade schien ihm nicht standzuhalten. Ich schluckte.
»Na, toll. Dankeschön. Jetzt hackst du auch noch auf mir rum. Weißt du, eigentlich habe ich dir gerade ein Friedensangebot gemacht. Aber das muss ich mir echt nicht geben.« Wütend drehte ich mich um.
»Jetzt warte«, sagte Kevin mit der Fluppe im Mund und hielt mich hart am Arm fest. Ich funkelte ihn an und riss mich los. »Sorry, aber ich kann den Kerl nicht ausstehen. Er ist nicht gut für dich.« Kevin schnippt die Zigarette weg und packte mich mit beiden Händen an den Schultern. »Warum er? Warum jetzt?«
»Mann, Kevin, das kann man eben nicht steuern. Ich könnte dich auch fragen: warum ich? Und warum noch immer?« Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute kampfbereit zu ihm hoch.
»Weil du ... weil du bist, wie du bist. Du hast was Besseres verdient als ihn. Er wird dich unglücklich machen«, sagte Kevin leise und schaute betreten auf seine Schuhe. Er ließ mich los und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Schön, dass du hellsehen kannst, aber die Erfahrung würde ich gerne selbst machen.« Erneut drehte ich mich um und wollte gehen. Wieder ohne Erfolg. »Was denn noch? Ist dir noch etwas eingefallen, wie du Joshua mies machen kannst?«
»Es tut mir leid. Ich sollte mich nicht einmischen.«
»Wow. Dass du das auch schon einsiehst ...« Ich zog die Augenbrauen hoch, und ein spöttisches Lächeln huschte über mein Gesicht.
»Jetzt bist du sarkastisch.«
»Und du bist anstrengend.«
Kevin lachte und legte den Arm um mich. Ich wollte ihn abwehren, aber er zog mich mit aller Kraft an sich. »Mann, Emma Stern. Du bist echt so ’ne Nummer. Man muss dich einfach liebhaben.« Er kitzelte mich durch, und ich konnte mich nicht länger wehren. Ich musste lachen. Sein Griff lockerte sich, und ich lehnte mich an ihn an. Seine Nähe hatte etwas seltsam Tröstliches. Ich schluckte, und sofort machte sich ein schlechtes Gewissen Joshua gegenüber in mir breit. Ich rückte einige Zentimeter von Kevin ab.
»Na, wir haben uns das beide etwas anders vorgestellt, oder?« Er zwinkerte. »Lass mir noch ein bisschen Zeit. Ich kriege das schon hin. Versprochen.«
Ich sah ihn prüfend an. Aber er nickte nachdrücklich.
»Freunde?«, fragte ich skeptisch. Kevin seufzte, legte beide Hände auf meine Schultern und rüttelte mich sanft.
»Emma, du warst und bist meine beste Freundin. Ich muss mich nur noch daran gewöhnen, dass da ein anderer Kerl ist. Auch wenn mir das nicht passt, du scheinst ihn zu mögen. So what? Ich werde das schon irgendwann auf die Reihe kriegen. Solange er dich anständig behandelt.« Kevin wuschelte mir durch die Haare, wie er es immer tat, wenn er meine Bedenken zerstreuen wollte, und lachte mich an.
Ich überlegte einen Moment, was ich entgegnen sollte, und drückte ihm einen kurzen, unverbindlichen Kuss auf die Wange.
»Puh, jetzt geht es mir besser.« Ich atmete tief durch, froh, dass das Gespräch doch noch eine positive Wendung genommen hatte. »So, und jetzt lass uns wieder nach unten gehen, sonst gibt es gleich wieder neue Gerüchte.« Ich verdrehte die Augen und lächelte Kevin an. Wie sehr ich ihn vermisst hatte.