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707.10.2010

Die meisten Schüler freuen sich auf den heutigen Tag. Es handelt sich nämlich um einen Donnerstag, den letzten Schultag dieser Woche. Für mich ist jeder Donnerstag in diesem Schuljahr der größte Horror, denn wir haben Sport, ganze zwei Stunden hintereinander.

Das klingt bestimmt komisch, weil sich die meisten Schüler immer riesig auf den Sportunterricht freuen.

Damit man mich besser versteht, verrate ich etwas, worüber ich überhaupt nicht gerne spreche. Gut, es sind zwei Sachen.

Die erste Sache ist, dass ich nicht die Dünnste bin. Das ist ziemlich offensichtlich, also kein Geheimnis. Ich bin nicht wirklich übergewichtig, durch meine kleine Größe sehe ich einfach ziemlich rund aus.

Die zweite Sache ist eher das Geheimnis, wovon viele nicht wissen, vor allem nicht meine Mittschüler. Ich weiß nicht warum, aber ich spreche sehr ungern darüber und hasse es, daran erinnert zu werden.

Ich habe Asthma, seitdem ich drei Jahre alt bin. Es ist bei mir zwar nicht so, dass ich regelmäßige Asthmaanfälle bekomme, dafür aber bei jeder kleinen oder großen Anstrengung.

Jetzt kann man bestimmt auch verstehen, warum ich immer und bei jedem Spiel in dem Team bin, das nicht so viel Anstrengendes machen muss. Meine Freunde akzeptieren das und sprechen das Thema nicht mal mehr an, im Gegenteil, sie passen auf mich auf und achten darauf, dass ich nichts Anstrengendes mache.

Von meinen Schulfreunden kann ich das leider nicht behaupten. Ich weiß auch nicht, ob es anders wäre, wenn sie von meiner Krankheit wissen würden. Sie denken nämlich, ich kann nicht so gut mitmachen, weil ich dick bin, das ist aber nicht der wahre Grund.

Es ist so weit, die dritte Unterrichtsstunde ist gekommen. Der Sportlehrer der Jungs ist nicht da, also haben wir alle zusammen Sport, auch Yail und ich. Die Lehrerin berichtet uns, dass wir heute nur spielen werden, mehr nicht. Es ist gutes Wetter und wir sind eine große Gruppe, deshalb beschließt die Lehrerin, mit uns auf den Hof zu gehen.

Für das erste Spiel teilt sie uns in zwei Gruppen. Die Hälfte der jeweiligen Gruppen stellt sich auf die eine Seite vom Hof und die andere Hälfte auf die andere Seite.

Ich habe keine Ahnung, wie das Spiel heißt, deshalb erkläre ich es so ausführlich. Ein Spieler von jedem Team rennt los und muss bei dem anderen Teil des Teams bei einem Spieler abschlagen, damit er losrennen kann. Gewonnen hat natürlich das Team, das zuerst mit allen Spielern durch ist. Da die Lehrerin es uns ein bisschen schwerer machen will, sollen wir den gesamten Vorgang drei Mal wiederholen.

Ich habe von Anfang an Bedenken bei diesem Spiel, aber ich halte mich zurück. Yail und zwei meiner Freundinnen, die über meine Krankheit Bescheid wissen, schauen besorgt zu mir. Ich nicke ihnen nur zu und versuche einfach nicht darüber nachzudenken.

Alle stellen sich auf und warten auf das Kommando der Lehrerin. Ich stehe relativ mittig, Yail direkt hinter mir. Es dauert nicht lange, bis ich zum ersten Mal dran bin.

Ich versuche mich genau an die Worte von meinem Arzt zu erinnern, damit ich diese Runden überwinde und dann laufe ich los. Das Ende kommt mir vor, als würde es immer weiter weg sein. Ich befinde mich gerade so in der Mitte der Bahn und merke, dass mir das Atmen nicht mehr so einfach fällt. Ich versuche, weiterhin regelmäßig ein und aus zu atmen, und schaffe es tatsächlich bis zum Ende. Das Atmen gelingt mir ziemlich schwer.

Ich lege mich hin, meine Beine halten mich nicht mehr. Ich liege da, für ein, zwei Minuten und bin dabei, mich wieder zu beruhigen. Langsam kann ich wieder normal atmen.

„Yasmin?“, höre ich Yails Stimme. Er setzt sich neben mich.

Als ich aufstehen möchte, um meine beiden noch übrigen Runden zu beenden, hält Yail mich fest.

„Bleib liegen, ich übernehme das für dich“, sagte er.

Er schafft es allerdings auch nicht, aufzustehen, denn um uns herum haben sich alle versammelt. Oh nein, bitte nicht auch noch das. Das Kichern beginnt und ich weiß nicht, wie viele Kommentare wir uns anhören mussten. Ein Kommentar, der uns beide zum Entschluss gebracht hat, dass es reicht, ist der folgende: „Oh wie süß, Yail und Yasmin. “

Erst habe ich wirklich nicht glauben wollen, dass irgendwer das gesagt hat, ich meine, wie dumm kann man bitte sein? Ich weiß, in diesem Alter haben Mädchen nicht so viel mit Jungs zu tun, aber man muss es ja nicht gleich übertreiben. Yail schaut kurz zu mir und steht dann auf. Ich weiß, dass es soweit ist. Jetzt wird das Geheimnis gelüftet, das wir seit Jahren versuchen zu verheimlichen.

Ich mache kurz meine Augen zu und wieder auf. Warum haben wir das überhaupt so lange verheimlicht? Im Nachhinein finde ich es irgendwie sehr harmlos. Als Yail seinen Mund öffnet, versucht die Lehrerin sich einzumi-schen, er fängt aber trotzdem an zu reden.

„Yasmin und ich sind Milchgeschwister“, sagt er, ziemlich laut.

Okay, das war’s? Ist es jetzt endgültig vorbei? Langsam entfernen sich alle wieder, zurück bleiben Yail, ich und unsere Lehrerin. Sie schaut uns verwirrt an, als würde sie noch eine Bestätigung erwarten. Ich nicke einfach nur. Erst jetzt realisiert sie, dass ich auf dem Boden liege. Sie setzt sich ebenfalls zu uns und fragt mich, wie es mir geht.

Es ist die letzte Stunde heute und wir sitzen im Klassenzimmer. Wir haben Kunst. Ich mache die ganze Stunde lang nichts und denke nur nach. Es ist jetzt draußen. Ich glaube, viele verstehen jetzt nicht, warum wir das zu einem Geheimnis gemacht haben und vielleicht wissen manche nicht mal, was das ist, deshalb beginne ich ganz von vorne.

Milchbrüderschaft ist bei uns ziemlich verbreitet, Milchgeschwister wird man dadurch, dass eine Mutter ein anderes Kind stillt. In unserem Fall hat meine Mutter Yail gestillt. Für Milchgeschwister gelten dieselben Regeln wie für leibliche Geschwister.

Das machen Eltern, die zum Beispiel ihre Familie vergrößern möchten. Unsere Eltern haben an etwas anderes gedacht. Sie wollten nicht, dass Yail und ich später, wenn wir älter sind, Schwierigkeiten haben. Beispielsweise wenn ich später ein Kopftuch tragen möchte, habe ich dann keine Schwierigkeiten mehr.

Alles scheint bis jetzt gut zu sein, und bis jetzt kann immer noch keiner nachvollziehen, warum wir das verheimlicht haben. Es ist nur, dass Yail und ich verschiedenen Religionen angehören. Milchgeschwister aus verschiede-nen Religionsgruppen sind nichts Verbotenes, aber es ist ziemlich ungewohnt. Und das ist auch alles.

Unsere Eltern wollten nur nicht, dass wir das ständig erklären müssen, weil es eben etwas Neues ist. Aber jetzt bin ich sehr froh, dass es raus ist und bin sehr stolz darauf. Yail ist nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein Bruder. Wer weiß, vielleicht können wir zwei dazu beitragen, dass solche Fälle häufiger vorkommen.

Hier leben zwar alle gemeinsam, es gibt aber immer noch einige Dinge, die nur innerhalb der eigenen Religion gemacht werden.

Nach der Tahiat al Alam laufen Yail und ich sehr glücklich nach Hause. Wir sind wirklich unglaublich erleichtert, dass es vorbei ist.

Auch der restliche Tag läuft schön ab. Am Abend gehen wir alle zusammen noch in ein Café. Wir wohnen in Al Salhia, also im Zentrum von Damaskus. Abends gehen wir oft noch ein bisschen raus, um irgendwas zu trinken oder zu spazieren.

Auch Yail und ich gehen uns ab und zu einen Milchshake holen, wie gesagt, wir wohnen im Zentrum und um uns herum ist alles verteilt, deshalb können wir auch alleine überall hin.

Leiser Schrei

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